II.

Meine Herren!


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Beim Eintritt in jede Wissenschaft ist es in mehreren Beziehungen vortheilhaft, einen Blick auf ihren Entwickelungsgang zu werfen. Der bekannte Grundsatz, dass "jedes Gewordene nur durch sein Werden erkannt werden kann", findet auch auf die Wissenschaft seine Anwendung. Indem wir die stufenweise Ausbildung und das allmähliche Wachsthum derselben verfolgen, werden wir uns über ihre Aufgaben und Ziele am klarsten verständigen. Zugleich werden wir bald sehen, dass der heutige Zustand der Entwickelungsgeschichte des Menschen mit seinen vielen eigenthümlichen Verhältnissen nur dann richtig verstanden werden kann, wenn wir den historischen Entwickelungsgang unserer Wissenschaft selbst in Betracht ziehen. Diese Betrachtung wird uns nicht lange aufhalten. Denn die Entwickelungsgeschichte des Menschen gehört zu den allerjüngsten Naturwissenschaften, und zwar gilt das von beiden Theilen derselben, sowohl von der Keimesgeschichte oder Ontogenie, als auch von der Stammesgeschichte oder Phylogenie.

Wenn wir von den gleich zu besprechenden ältesten Keimen der Wissenschaft im klassischen Alterthum absehen, so beginnt eigentlich die wahre Entwickelungsgeschichte des Menschen als Wissenschaft erst mit dem Jahre 1759, in welchem einer der grössten deutschen Naturforscher, Caspar Friedrich Wolff, seine "Theoria generationis" veröffentlichte. Das war der erste Grundstein zu einer wahren Keimesgeschichte der Thiere. Erst fünfzig Jahre später, 1809, publicirte Jean Lamarck seine "Philosophie zoologique", den ersten Versuch einer Stammesgeschichte; und abermals ein halbes Jahrhundert später, im Jahre 1859, erschien Darwin`s Werk, welches wir als die erste wissenschaftliche Begründung dieses Versuchs betrachten müssen. Ehe wir jedoch auf diese eigentliche Begründdung der menschlichen Entwickelungsgeschichte näher eingehen, wollen wir einen flüchtigen Blick auf jenen grossen Philosophen und Naturforscher des Alterthums werfen, der in diesem Gebiete wie in allen anderen Zweigen naturwissenschaftlicher Forschung während eines Zeitraumes von mehr als zweitausend Jahren einzig dasteht, auf Aristoteles.

Unter den hinterlassenen naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles welche sich mit verschiedenen Seiten biologischer Forschung beschäftigen, und unter denen namentlich die Geschichte der Thiere von grösserer Bedeutung ist, findet sich auch ein kleineres Werk, welches speciell der Entwickelungsgeschichte gewidmet ist: "Ueber Zeugung und Entwickelung der Thiere" ("Peri Zoon Geneseos")7). Dieses Werk ist schon deshalb von hohem Interesse, weil es das älteste und das einzige seiner Art ist, welches uns aus dem klassischen Alterthum einigermaassen vollständig überliefert wurde, und weil es gleich den anderen naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles die ganze Wissenschaft zweier Jahrtausende hindurch beherrscht hat. Unser Philosoph war ein eben so scharfsinniger Beobachter, als genialer Denker. Aber während seine philosophische Bedeutung niemals zweifelhaft war, sind seine Verdienste als beobachtender Naturforscher erst neuerdings gehörig gewürdigt worden. Die Naturforscher, die in dieser neuesten Zeit wieder seine naturwissenschaftlichen Schriften einer genauen Untersuchung unterzogen, wurden durch die Fülle von interessanten Mittheilungen und merkwürdigen Beobachtungen überrascht, welche darin angehäuft sind. Bezüglich der Entwickelungsgeschichte ist hier besonders hervorzuheben, dass Aristoteles dieselbe bei den verschiedensten Thierklassen verfolgte, und dass er namentlich im Gebiete der niederen Thiere bereits mehrere der merkwürdigsten Thatsachen kannte, mit denen wir erst in den vierziger und fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts auf´s Neue bekannt geworden sind. So steht es z. B. fest, dass er die ganz eigenthümliche Fortpflanzungs- und Entwickelungsweise der Tintenfische oder Cephalopoden genau kannte, bei welchen ein Dottersack aus dem Munde des Embryo heraushängt. Er wusste ferner, dass aus den Eiern der Bienen, auch wenn dieselben nicht befruchtet werden, sich Embryonen entwickeln. Diese sogenannte "Parthenogenesis" oder die jungfräuliche Zeugung der Bienen ist erst in unseren Tagen durch den Münchener Zoologen Siebold bestätigt worden; derselbe zeigte, dass sich männliche Bienen aus unbefruchteten Eiern, weibliche hingegen nur aus befruchteten Eiern entwickeln. Aristoteles erzählt ferner, dass einzelne Fische (aus der Gattung Serranus) Zwitter seien, indem jedes Individuum männliche und weibliche Organe besitze und sich selbst befruchte. Auch das ist neuerdings bestätigt worden. Ebenso war ihm bekannt, dass der Embryo mancher Haifische durch eine Art Mutterkuchen oder Placenta, ein ernährendes blutreiches Organ mit dem Mutterleibe verbunden ist, wie dies sonst nur bei den höheren Säugethieren und beim Menschen der Fall ist. Dieses Placenta des Haifisches galt lange als Fabel, bis der Berliner Zoologe Johannes Müller im Jahre 1839 diese Thatsache als richtig erwies. So liessen sich aus der Entwickelungsgeschichte des Aristoteles noch eine Menge von merkwürdigen Beobachtungen anführen, die beweisen, wie genau dieser grosse Naturforscher mit ontogenetischen Untersuchungen vertraut und wie weit er in dieser Beziehung der folgenden Zeit voraus geeilt war.

Bei den meisten Beobachtungen begnügter er sich nicht mit der Mittheilung des Thatsächlichen, sondern knüpfte daran Betrachtungen über deren Bedeutung. Einige von diesen theoretischen Reflexionen sind deshalb von besonderem Interesse, weil sich darin eine richtige Grundanschauung vom Wesen der Entwickelungsvorgänge erkennen lässt. Er fasst die Entwickelung des Individuums als eine Neubildung auf, bei welcher die verschiedenen Körpertheile nach einander entstehen. Wenn das menschliche oder thierische Individuum sich im mütterlichen Körper oder im Ei ausserhalb desselben entwickelt, so soll zuerst das Herz entstehen, welches er als Anfangs- und Mittelpunkt des Körpers betrachtet. Nach der Bildung des Herzens treten dann die anderen Organe auf, die inneren früher als die äusseren, die oberen (welche über dem Zwerchfell liegen) früher als die unteren (welche unter demselben sich finden). Sehr frühzeitig bildet sich das Gehirn, aus welchem dann die Augen hervorwachsen. Diese Behauptung ist in der That ganz zutreffend. Suchen wir uns überhaupt aus diesen Angaben des Aristoteles ein Bild von seiner Auffassung der Entwickelungsvorgänge zu machen, so können wir wohl darin eine dunkle Ahnung derjenigen Entwickelungstheorie finden, welche wir heute die Epigenesis nennen und welche erste einige tausend Jahre später durch Wolff thatsächlich als die allein richtige nachgewiesen worden ist. Dafür ist namentlich der Umstand bezeichnet, dass Aristoteles die Ewigkeit des Individuums in jeder Beziehung leugnete. Er behauptete, ewig könne vielleicht die Art oder die Gattung sein, die aus den gleichartigen Individuen gebildet werden; allein das Individuum selbst sei vergänglich; es entstehe neu während des Zeugungsactes, und gehe beim Tode wieder zu Grunde.

Während der zwei Jahrtausende, die auf Aristoteles folgen, ist von keinem irgend wesentlichen Fortschritt in der Zoologie überhaupt, und in der Entwickelungsgeschichte im Besonderen, zu berichten. Man begnügte sich damit, seine zoologischen Schriften auszulegen, abzuschreiben, vielfach durch Zusätze zu verunstalten und sie in andere Sprachen zu übersetzen. Selbstständige Forschungen wurden während dieses langen Zeitraumes fast gar nicht angestellt. Namentlich war während des christlichen Mittelalters, wo mit der Ausbildung und Ausbreitung einflussreicher Glaubensvorstellungen überhaupt den selbstständigen naturwissenschaftlichen Forschungen unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, von einer neuen aufnahme biologischer Forschungen überhaupt keine Rede. Selbst als im sechzehnten Jahrhundert die menschliche Anatomie wieder zu erwachen begann und zum ersten Male wieder selbstständige Untersuchungen über den Körperbau des ausgebildeten Menschen angestellt wurden, wagten doch die Anatomen nciht, ihre Untersuchungen auch noch weiter auf die Beschaffenheit des noch nicht ausgebildeten menschlichen Körpers, aus die Bildung und Entwickelung des Embryo auszudehnen. Die damals herrschende Scheu vor derartigen Forschungen hatte vielerlei Ursachen. Sie erscheint natürlich, wenn man bedenkt, dass durch die Bulle des Papstes Bonifacius VIII. der grosse Kirchenbann über Alle ausgesprochen war, die eine menschliche Leiche zu zergliedern wagten. Wenn nun schon die anatomische Untersuchung des entwickelten menschlichen Körpers für ein fluchwürdiges Verbrechen galt; um wieviel sträflicher und gottloser musste die Untersuchung des im Mutterleibe verborgenen kindlichen Körpers erscheinen, den der Schöpfer selbst durch seine verborgene Lage dem neugierigen Blicke der Naturforscher absichtlich entzogen zu haben schien! Die Allmacht der christlichen Kirche, die damals viele Tausende wegen Mangels an Rechtgläubigkeit hinrichten und verbrennen liess, und die damals schon mit richtigem Instincte die drohende Gefahr ihrer emporwachsenden Todfeindin, der Naturwissenschaft ahnte, wusste schon dafür zu sorgten, dass letztere keine zu raschen Fortschritte machte.

Erst als durch die Reformation die allumfassende Macht der alleinseligmachenden Kirche gebrochen war und ein neuer frischer Geisteshauch die geknechtete Wissenschaft aus den eisernen Fesseln der Glaubensschaft zu erlösen begann, konnte mit der Wiederaufnahme anderer naturwissenschaftlicher Forschungen auch die Anatomie und Entwickelungsgeschichte des Menschen sich freier bewegen. Doch blieb die Ontogenie hinter der Anatomie weit zurück, und erst im Beginn des siebzehnten Jahrhunderts erschienen die ersten ontogenetischen Schriften. Den ersten Anfang macht der italiänische Anatom Fabricius ab Aquapendente, Professor in Padua, der in zwei Schriften (de formato foetu 1600, und de formatione feotus 1604) die ältesten Abbildungen und Beschreibungen von Embryonen des Menschen und anderer Säugethiere, sowie des Hühnchens veröffentlichte. Aehnliche unvollkommene Darstellungen gaben demnächst Spigelius (de formato feotu 1631), der Engländer Needham (1667) und sein berühmter Landsmann Harvey (1652); derselbe, der den Blutkreislauf im Thierkörper entdeckte und den wichtigen Ausspruch that: "Omne vivum ex ovo" (alles Lebendige entsteht aus dem Ei). Der holländische Naturforscher Swammerdam veröffentlichte in seiner "Bibel der Natur" die ersten Beobachtungen über die Embryologie des Frosches und die sogenannte "Furchung" seines Eidotters. Die bedeutendsten ontogenetischen Untersuchungen aus dem siebzehnten Jahrhundert waren aber diejenigen des berühmten Italiäners Marcello Malpighi aus Bologna, der ebenso in der Zoologie wie in der Botanik bahnbrechend auftrat. Seine beiden Abhandlungen "de formatione pulli" und "de ovo incubato" (1687) enthalten die erste zusammenhängende Darstellung über die Entwickelungsgeschichte des Hühnchens im Ei.

Hier muss ich gleich Einiges über die grosse Bedeutung bemerken, welche gerade das Hühnchen für unseren Gegenstand besitzt. Die Bildungsgeschichte des Hühnchens, wie überhaupt aller Vögel, stimmt in ihren wesentlichen Grundzügen vollständig mit derjenigen aller anderen höheren Wirbelthiere, also auch des Menschen überein. Die drei höheren Wirbelthierklassen: Säugethiere, Vögel und Reptilien (Eidechsen, Schlangen, Schildkröten u. s. w.) zeigen vom Anfang ihrer individuellen Entwickelung an in allen wesentlichen Grundzügen der Körperbildung, und insbesondere ihrer ersten Anlage, eine so vollständige Gleichheit, dass man sie lange Zeit hindurch gar nicht unterscheiden kann. Schon längst hat man sich überzeugt, dass man bloss sehr genau die Entwickelung eines Vogels, als des am leichtesten zugänglichen Gegenstandes, zu verfolgen braucht, um sich über die ganz gleiche Entwickelungsweise der Säugethiere (also auch des Menschen) zu unterrichten. Schon als man um die Mitte und das Ende des siebzehnten Jahrhunderts menschliche Embryonen und überhaupt Säugethierembryonen aus früheren Stadien zu untersuchen begann, erkannte man sehr bald diese höchst wichtige Thatsache. Dieselbe ist sowohl in theoretischer wie in practischer Beziehung von der grössten Bedeutung. Für die Theorie der Entwickelung lassen sich aus dieser gleichartigen Beschaffenheit der Embryonen von sehr verschiedenen Thieren die wichtigsten Schlüsse ziehen. Für die Praxis der ontogenetischen Untersuchung aber ist dieselbe deshalb unschätzbar, weil die sehr genau bekannte Ontogenie der Vögel die nur sehr lückenhaft untersuchte Embryologie der Säugethiere auf das vollständigste ergänzt und erläutert. Hühnereier kann man jederzeit in beliebiger Menge haben und durch ihre künstliche Bebrütung die Entwickelung des Embryo Schritt für Schritt verfolgen. Hingegen ist die Entwickelungsgeschichte der Säugethiere viel schwieriger zu untersuchen, weil hier der Embryo nicht in einem gelegten Ei, in einem selbstständigen isolirten Körper sich entwickelt, sondern vielmehr das Ei im mütterlichen Körper eingeschlossen und bis zur Reife verborgen bleibt. Daher ist es sehr schwer, alle die einzelnen Stadien der Entwickelung behufs einer zusammenhängenden Untersuchung in grösserer Menge zu verschaffen, abgesehen von äusseren Gründen, wie den bedeutenden Kosten, den technischen Schwierigkeiten und mannigfaltigen anderen Hindernissen, auf welche grössere Untersuchungsreihen an befruchteten Säugethieren stossen. Daher ist seit jener Zeit bis auf den heutigen Tag das bebrütete Hühnchen dasjenige Object geblieben, welches bei weitem am häufigsten und genauesten untersucht ist. Besonders mit Hülfe der vervollkommneten Brutmaschinen kann man sich überall und zu jeder Zeit Hühnerembryonen in jedem beliebigen Stadium der Entwickelung und in beliebiger Anzahl verschaffen und so Schritt für Schritt ihre Ausbildung im Zusammenhang untersuchen. Die Entwickelungsgeschichte des Hühnchens wurde nun schon gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Malpighi so weit gefördert und in den wesentlichsten gröberen und äußsseren Verhältnissen erkannt, als es durch die unvollkommene Untersuchung mit den damaligen Mikroskopen überhaupt möglich war. Natürlich war die Vervollkommnung des Mikroskopes eine nothwendige Vorbedingung für genauere embryologische Untersuchungen, weil die Organisation der Wirbelthierembryonen in ihren ersten Entwickelungsstadien so zart und fein ist, dass man ohne ein gutes Mikroskop überhaupt gar nicht tiefer in dieselbe einzudringen im Stande ist. Diese wesentliche Vorbesserung der Mikrokope erfolgte aber erst im Anfange unseres Jahrhunderts.

In der ganzen ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, in welcher die systematische Naturgeschichte der Thiere und Pflanzen durch Linné´s hochberühmtes "Systema naturae" einen so gewaltigen Aufschwung erhielt, machte die Entwickelungsgeschichte so gut wie gar keine Fortschritte. Erst im Jahre 1759 trat in Caspar Friedrich Wolff der Genius auf, der dieser Wissenschaft eine ganz neue Wendung geben sollte. Bis auf diesen Zeitpunkt beschäftigte sich die damalige Embryologie fast ausschliesslich nur mit unglücklichen Versuchen, aus dem bis dahin erworbenen dürtfigen Beobachtungsmaterial verschiedene Entwickelungstheorien aufzustellen.

Die Theorie, welche damals zur Geltung kam und während des ganzen vorigen Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung blieb, heisst gewöhnlich die Theorie der Auswickelung oder Evolution, richter die Theorie der Vorbildung oder Praeformation8). Ihr wesentlicher Inhalt besteht in folgender Vorstellung: Bei der individuellen Entwickelung jedes Organismus, jedes Thieres und jeder Pflanze, und ebenso auch des Menschen, findet keinerlei wirkliche Neubildung statt; sondern bloss ein Wachsthum und eine Entfaltung von Theilen, die alle bereits seit Ewigkeit vorgebildet und fertig dagewesen sind, wenn auch nur sehr klein und in ganz zusammengefeltetem Zustande. Jeder organische Keim enthält also bereits alle Körpertheile und Organe in ihrer späteren Form und Lagerung und Verbindung praeformirt oder vorgebildet, und der ganze Entwickelungsgang des Individuums, der ganze ontogenetische Prozess ist nichts weiter als eine "Evolution" im strengsten Sinne des Wortes, d. h. eine Auswickelung eingewickelter praeformirter Theile. Also z. B. in jedem Hühnerei finden wir nicht etwa eine einfache Zelle, die sich teilt, deren Zellen-Generationen die Keimblätter bilden und durch vielfache Veränderung, Sonderng und Neubildung endlich den Vogelkörper zu Stande bringen; sondern in jedem Hühnerei ist von Anfang an ein vollständiges Hühnchen mit allen seinen Theilen praeformirt und zusammengewickelt enthalten. Bei der Entwickelung des bebrüteten Hühnereis werden diese Theile bloss aus einander gelegt und wachsen.

Sobald diese Theorie consequent weiter ausgebildet wurde, musste die nothwendig zur "Einschachtelungstheorie" führen, nach welcher von jeder Thierart und Pflanzenart ursprünglich nur ein einziges Individuum geschaffen worden ist, dieses eine Individuum aber bereits die Keime von sämmtlichen andern Individuen in sich enthielt, die von dieser Art jemals gelebt haben und später noch leben werden. Da zu jeder Zeit das Alter der Erde, entsprechend der biblischen Schöpfungsgeschichte, allgemein auf fünf- bis sechstausend Jahre geschätzt wurde, glaubte man ungefähr berechnen zu können, wie viel Keime von jeder Organismenart während dieses Zeitraums gelebt und also bereits in dem ersten "geschaffenen" Individuum der Species eingeschachtelt existirt hatten. Auch auf den Menschen wurde diese Theorie mit logischer Consequenz ausgedehnt und demgemäss behauptet, dass unsere gemeinsame Stammmutter Eva in ihrem Eierstock bereits die Keime von sämmtlichen Menschenkindern in einander geschachtelt enthalten habe.

Zunächst bildete sich diese Einschachtelungstheorie in der Weise aus, dass man, wie gesagt, die weiblichen Individuen als die in einander geschachtelten Schöpfungswesen ansah und glaubte, von jeder Species sei ursprünglich ein Päärchen geschaffen worden, das weibliche Individuum habe aber bereits in seinem Eierstock die sämmtlichen Keime aller Individuen beiderlei Geschlechts in sich eingeschachtelt enthalten, die überhaupt von dieser Art sich entwickeln sollen. Ganz anders gestaltete sich aber diese Praeformations-Theorie, als der holländische Mikroskopiker Leeuwenhoeck im Jahre 1690 die menschlichen Zoospermien oder Samenfäden entdeckte, und nachwies, dass in der schleimigen Flüssigkeit des Sperma oder des männlichen Samens eine grosse Menge von äusserst feinen, lebhaft beweglichen Fäden existiren. Diese überraschende Entdeckung wurde sofort dahin gedeutet, dass diese lebendigen, munter in der Samenflüssigkeit umherschwimmenden Körperchen wahre Tiere, und zwar die vorgebildeten Keime der künftigen Generation seien. Wenn bei der Befruchtung die beiderlei Zeugungsstoffe, männliche und weibliche, zu sammenkommen, sollten diese fadeförmigen "Samenthierchen" in den fruchtbaren Boden des Eikörpers eindringen und hier, wie das Samenkorn der Pflanzen im fruchtbaren Erdboden, zur Auswickelung gelangen. Jedes einzelne Samenthierchen des Menschen ist demnach bereits ein ganzer Mensch; alle einzelnen Körpertheile sind in demselben bereits vollständig vorgebildet, und erleiden nur eine einfache Auswickelung oder Vergrösserung, sobald sie in den hierzu günstigen Boden des weiblichen Eis gelangen. Auch diese Theorie wurde consequent dahin ausgebildet, dass in dedem einzelnen fadenförmigen Körper die sämmtlichen folgenden Generationen seiner Nachkommen in äussersster Feinheit und winzigster Grösse sich eingeschachtelt befänden. Die Samendrüse des Adam enthielt also bereits die Keime aller Menschenkinder, die unseren Erd-Planeten jemals bevölkert haben, gegenwärtig bewohnen und in aller Zukunft, "bis zum Ende der Welt", beleben werden.

Natürlich musste diese "männlcihe Einschachtelungslehre" sich der bisher gültigen weiblichen von Anfang an schroff gegenüberstellen. Das Gemeinsame beider bestand nur in der falschen Vorstellung, dass überhaupt vielfach in einander geschachtelte Keime von zahllosen Generationen fertig vorgebildet in jedem Organismus existiren; eine Vorstellung, die eigentlich auch der wunderlichen Prolepsis-Theorie von Linné zu Grunde lag. Die beiden entgegengesetzten Einschachtelungs-Theorien begannen alsbald, sich lebhaft zu befehden; und es entstanden in der Physiologie des achtzehnten Jahrhunderts zwei grosse, scharf getrennte Heerlager, die sich auf das schroffste gegenüberstanden und heftig bekämpften: die Animalculisten und die Ovulisten. Der Streit zwischen diesen Parteien muss uns heutzutage4e sehr belustigend erscheinen, da die Theorie der einen eben so vollständig in der Luft schwebt, wie die der anderen. Wie Alfred Kirchhoff in seiner vortrefflichen biographischen Skizze von Wolff sagt, "liess sich dieser Streit eben so wenig entscheiden wie die Frage, ob die Engel in dem östlichen oder westlichen Himmelsraume wohnen9)."

Die Animalculisten oder die Sperma-Gläubigen hielten die beweglichen Samenfäden für die wahren Thierkeime und stützten sich dabei einerseits auf die lebhafte Bewegung, anderseits auf die Form dieser Samenthierchen. Diese zeigen nämlich beim Menschen, wie bei der grossen Mehrzahl der übrigen Thiere , einen länglichrunden, eiförmigen oder birnförmigen Kopf, ein dünnes Mittelstück und einen äusserst dünnen, haarfein ausgezogenen und sehr langen Schwanz. In Wahrheit ist das ganze Gebilde nur eine einfache Zelle und zwar eine Geisselzelle; der Kopf ist der Zellenkern, umgeben von etwas Zellstoff, der sich auch in das dünnere Mittelstück und den haarfeinen beweglichen Schwanz fortsetzt; letzterer ist der "Geissel" oder dem Flimmerfaden anderer Geisselzellen gleichbedeutend. Die Animalculisten aber hielten den Kopf für einen wahren Thierkopf und den übrigen Körper für einen ausgebildeten Thierkörper. Vorzüglich waren es Leeuwenhoeck, Hartsoeker und Spallanzani, welche diese "Praedelineations-Theorie" vertheidigten.

Die entgegengesetzte Partei, die Ovulisten (Ovisten) oder Eigläubigen, die an der älteren Evolutions-Theorie festhielten, behaupteten dagegen, dass das Ei der wahre Thierkeims sei, und dass die Zoospermien bei der Befruchtung nur den Anstoss zur Auswickelung des Eies gäben, in welchem alle Generationen in einander eingeschachtelt zu finden wären. Diese Ansichgt blieb während des ganzen vorigen Jahrhunderts bei der grossen Mehrzahl der Biologen in unbestrittener Geltung, trotzdem Wolff schon 1759 das völlig Unbegründete derselben nachwies. Vorzüglich verdankte sie ihre Geltung dem Umstande, dass die berühmtesten Autoritäten der damaligen Biologie und Philosophie sich zu ihren Gunsten erklärten, unter ihnen namentlich Haller, Bonnet und Leibnitz.

Albrecht Haller, Professor in Göttingen, der oft der Vater der Physiologie genannt wird, war ein sehr gelehrter und vielseitig gebildeter Mann, der aber in Bezug auf tiefere Auffassung der Naturerscheinungen keineswegs eine sehr hohe Stufe einnahm und sich am besten selbst in dem berühmten und viel citirten Ausspruche charakterisiert hat: "Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist - glückselig wem sie nur die äussere Schale weist!" Haller vertrat die Evolutions-Theorie in seinem berühmten Hauptwerke, den "Elementa Physiologiae" auf das entschiedenste mit den Worten: "Es giebt kein Werden! (Nulla est epigenesis!). Kein Theil im Thierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und alle sind zugleich erschaffen (Nulla in corpore animali pars ante aliam facta est, et omnes simul creatae existunt)." Er leugnete also eigentlich jede wahre Entwicklung in natürlichem Sinne, und ging darin sogar so weit, dass er selbst beim neugeborenen Knaben die Existenz des Bartes, beim geweihlosen Hirschkalbe die Existenz des Geweihes behauptete; alle Theile sollten schon fertig da sein und nur dem menschlichen Auge vorläufig verborgen sein. Haller berechnete sogar die Zahl der Menschen, welche Gott am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes auf einam geschaffen und im Eierstock der Mutter Eva eingeschachtelt hatte. Er taxirt sie auf 200,000 Millionen, indem er seit der Erschaffung der Welt 6000 Jahre, das durchschnittliche Menschenalter auf 30 Jahre und die Zahl der gleichzeitig lebenden Menschen auf 1000 Millionen anschlägt. Und allen diesen Unsinn nebst den daraus gezogenen Consequenzen vertheidigt der berühmte Haller auch dann noch mit bestem Erfolge, nachdem bereits der grosse Wolff die wahre Epigenesis entdeckt und durch Beobachtung nachgewiesen hatte.

Unter den Philosophen war es vor allen der hochberühmte Leibnitz, der die Evolutions-Theorie annahm und durch seine hohe Autorität, wie durch seine geistreiche Darstellung, ihr zahlreiche Anhünger zuführte. Gestützt auf seine Monadenlehre, wonach Seele und Leib sich in weig unzertrennlich Gemeinschaft befinden und in ihrer Zweieinigkeit das Individuum (die "Monade") bilden, wendete Leibnitz die Einschachtelungs-Theorie ganz folgerichtig auch auf die Seele an, und leugnete für diese eine wahre Entwickelung eben so wie für den Körper. In seiner Theodice sagt er z. B.: "So sollte ich meinen, dass die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Species, dagewesen sind, dass sie in demn Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organisierter Körper existirt haben."

Die wichtigsten thatsächlichen Stützen schien die Einschachtelungs-Theorie durch die Beobachtungen eines ihrer eifrigsten Anhänger, Bonnet zu erhalten. Dieser beobachtete zum ersten Male die sogenannte "Jungfernzeugung" oder Parthenogenesis bei den Blattläusen, eine interessante Art der Fortpflanzung, die neuerdings auch bei vielen anderen Gliederthieren, namentlich verschiedenen Krebsen und Insecten durch Siebold und Andere nachgewiesen worden ist. Bei diesen und anderen niederen Thieren gewisser Gattungen kommt es nämlich vor, dass weibliche Individuen sich mehrere Generationen hindurch fortpflanzen, ohne von einem Männchen befruchtet worden zu sein. Man nennt solche Eier, die zu ihrer Entwickelung der Befruchtung nicht bedürfen, "falsche Eier", Pseudova oder Sporen. Bonnet beobachtete nun zum ersten Male (1745), dass eine weibliche Blattlaus, welche er in klösterlicher Zucht vollständig abgeschlossen und vor jeder männlichen Gemeinschaft geschützt hatte, nach viermaliger Häutung am elften Tage eine lebendige Tochter, innerhalb der nächsten zwanzig Tage sogar noch 94 Töchter gebar, und dass diese alle, ohne jemals mit einem Männchen zusammen zu kommen, sich alsbald wieder auf dieselbe jungfräuliche Weise vermehrten. Da schien nun allerdings der handgreifliche Beweis für die Wahrheit der Einschachtelungs-Theorie, und zwar im Sinne der Ovulisten, vollständig geliefert zu sein, und es war nicht wunderbar, wenn dieselbe fast allgemein anderkannt wurde.

So stand die Sache, als plötzlich im Jahre 1759 der jugendliche Caspar Friedrich Wolff auftrat und mit seiner neuen Epigenesis-Theorie der gesammten Präformations-Theorie den Todesstoss gab. Wolff war 1733 zu Berlin geboren, der Sohn eines Schneiders, und machte seine naturwissenschaftlichen und medicinischen Studien zunächst in Berlin am Collegium medico-chirurgicum unter dem berühmten Anatomen Meckel, später in Halle. Hier bestand er im 26. Lebensjahre seine Doctorprüfung, und vertheidigte am 28. November 1759 in seiner Doctordissertation die neue Lehre von der wahren Entwicklung, die "Theoria generationis" auf Grund der Epigenesis. Diese Dissertation gehört zu den bedeutendsten Schriften, welche überhaupt jemals geschrieben worden sind. Sie ist ebenso ausgezeichnet durch die Fülle der neuen und sorgfältigsten Beobachtungen, wie durch die weit reichenden und höchst fruchtbaren Ideen, welche überall an die Beobachtungen geknüpft und zu einer lichtvollen und durchaus naturwahren Theorie der Entwickelung verknüpft sind. Trotzdem hatte diese merkwürdige Schrift zunächst gar keinen Erfolg. Obgleich die naturwissenschaftlichen Studien in Folge der von Linné gegebenen Anregung zu jener Zeit mächtig emporblühten, obgleich Botaniker und Zoologen bald nicht mehr nach Dutzenden, sondern nach Hunderten zählten, bekümmerte sich doch fast Niemand um Wolff´s Theorie der Generation. Die Wenigen aber, die sie gelesen hatten, hielten sie für grundfalsch, so besonders Haller. Obgleich Wolff durch die exactesten Beobachtungen die Wahrheit der Epigenesis bewies und die in der Luft schwebenden Hypothesen der Praeformations-Theorie widerlegte, blieb dennoch der "exacte" Physiolog Haller der eifrigste Anhänger der letzteren und verwarf die richtige Lehre von Wolff mit seinem dictatorischen Machtspruche: Nulla est epigenesis! Kein Wunder, wenn die ganze Gesellschaft der physiologischen Gelehrten in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sich dem Machtspruche dieses physiologischen Pabstes unterwarf und die Epigenesis als gefährliche Neuerung bekämpfte. Mehr als ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bis Wolff´s Arbeiten die verdiente Anerkennung fanden. Erst nachdem Meckel im Jahre 1812 eine anderen höchst bedeutende Schrift Wolff´s: "über die Bildung des Darmkanals" (aus dem Jahre 1764) in´s Deutsche übersetzt und auf die ausserordentliche Bedeutung derselben aufmerksam gemacht hatte, fing man an, sich wieder mit diesem bereits verschollenen Schriftsteller zu beschäftigen, der unter allen Naturforschern des vorigen Jahrhunderts am tiefsten in das Verständnis des lebendigen Organismus eingedrungen war.

So unterlag denn damals, wie es so oft in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis zu geschehen pflegt, die emporstrebende neue Wahrheit dem übermächtigen Irrtum, der durch die Macht der Autorität getragen wurde. Die sonnenklare Erkenntniss der Epigenesis vermochte den dichten Nebel des Praeformationsdogma nicht zu durchdringen und ihr genialer Entdecker wurde im Kampf um die Wahrheit von der Uebermacht der Feinde besiegt. Jeder weitere Fortschritt in der Entwickelungsgeschichte war damit vorläufig gehemmt. Das bleibt um so mehr zu bedauern, als Wolff bei seiner ungünstigen äusseren Stellung dadurch schliesslich gezwungen wurde, sein deutsches Vaterland zu verlassen. Von vornherein mittellos, hatte er nur unter grossen äusseren Bedrändnissen seine classische Arbeit vollenden können und war dann genöthigt, sich als practischer Arzt sein Brod zu verdienen. Während des siebenjährigen Krieges war er in den Lazarethen in Schlesien thätig, hielt in dem Breslauer Feldlazareth ausgezeichnete Vorlesungen über Anatomie, und erregte dadurch die Aufmerksamkeit des hochgestellten Directors des Lazarethwesens, Corhenius. Nach abgeschlossenem Frieden versuchte dieser hohe Gönner, Wolff in Berlin eine Lehrstelle zu verschaffen. Indessen scheiterte dies an der Engherzigkeit der Proffessoren des Berliner Collegiums medico-chirurgicum, welche jedem Fortschritt auf wissenschaftlichem Gebiet abgeneigt waren. Die Theorie der Epigenesis wurde von diesem hochgelehrten Collegium als die gefährlichste Ketzerei verfolgt, (ähnlich wie gegenwärtig die Descendenz-Theorie). Obgleich Cothenius und andere Berliner Gönner sich warm für Wolff verwendeten, so war es doch nicht möglich, ihm auch nur Erlaubnis zu verschaffen, öffentliche Vorlesungen über Physiologie in Berlin zu halten. Die Folge davon war, dass Wolff sich gezwungen sah, einem ehrenvollen Rufe zu folgen, welchen die Kaiserin Katharina von Russland 1766 an ihn richtete. Er ging nach Petersburg, wo er 27 Jahre hindurch still und ungestört seinen tiefen Forschungen lebte und die Schriften der Petersburger Akademie mit seinen glänzenden Gaben bereicherte. Er starb daselbst 1794.

Der Fortschritt, den Wolff in der gesammten Biologie herbeiführte, war so gross, dass ihn die Naturforscher der damaligen Zeit nicht fassen konnten. Die Masse von neuen wichtigen Beobachtungen und von fruchtbaren grossen Ideen, welche in seinen Schriften angehäuft sind, ist so gewaltig, dass wir erst allmählich im Laufe unseres Jahrhunderts gelernt haben, ihren vollen Werth zu würdigen, und ihre Bedeutung richtig zu verstehen. Nach den verschiedensten Richtungen in der biologischen Erkenntnis hat Wolff die richtige Bahn gebrochen. Erstens und vor allem hat er durch die Theorie der Epigenesis überhaupt zum ersten Male das Verständniss vom wahren Wesen der organischen Entwickelung geöffnet. Er wies überzeugend nach, dass die Entwichelung jedes Organismus aus einer Kette von Neubildungen besteht, und dass weder im Ei noch im männlichen Samen eine Spur von der Form des ausgebildeten Organismus existiert. Vielmehr sind dies einfache Körper, welche eine ganz andere Bedeutung haben. Der Keim oder Embryo, welcher sich daraus entwickelt, zeigt in den verschiedenen Abschnitten seiner Entwickelung eine innere Zusammensetzung und äussere Configuration, welche völlig von derjenigen des ausgebildeten Organismus verschieden ist. Nirgends haben wir es da mit vorgebildeten oder praeformirten Theilen zu thun, nirgends mit Einschachtelung. Wir können heutzutage diese Theorie der Epigenesis kaum mehr Theorie nennen, weil wir uns von der Richtigkeit der Thatsache völlig überzeugt haben und dieselbe jeden Augenblick unter dem Mikroskop demonstriren können. Auch ist in den letzten Jahrzehnten kein Zweifel an der Wahrheit der Epigenesis wieder laut geworden.

Zuerst wies Wolff seine Theorie an dem Darmkanal nach, an dem Ernährungsrohr, welches den Körper durchzieht, und an welchem die Lungen, Leber, Speicheldrüsen und zahlreiche kleinere Drüsen anhängen. Er zeigte, dass beim Hühner-Embryo in der ersten Zeit der Bebrütung von diesem zusammengesetzten Rohre mit allen seinen mannigfaltigen Theilen noch gar keine Spur vorhanden sei, sondern statt dessen ein flacher blattförmiger Körper; und dass überhaupt der ganze Embryo-Körper in frühester Zeit die Gestalt eines flachen länglich runden Blattes besitze. Wenn man bedenkt, wie schwierig damals, mti den schlechten Mikroskopen des vorigen Jahrhunderts, eine genauere Untersuchung von so ausserordentlich feinen und zarten Verhältnissen, wie der ersten blattförmigen Anlage des Vogelkörpers, war, so muss man die seltene Beobachtungsgabe Wolff´s bewundern, der gerade in diesem dunkelsten Theile der Embryologie schon die wichtigsten Erkenntnisse thatsächlich feststellte. Er gelangte gerade durch diese sehr schwierige Untersuchung zu der richtigen Anschauung, dass bei allen höheren Thieren, wie bei den Vögeln, der ganze Embryokörper eine Zeit lang eine flache, dünne, blattförmige Scheibe darstelle, welche anfangs einfach, dann aber aus mehreren Schichten zusammengesetzt erscheine. Die tiefste von diesen Schichten oder Blättern ist der Darmcanal, dessen Entwickelung Wolff von Anfang an bis zu seiner Vollendung vollständig verfolgte. Er wies nach, wie die blattförmige Anlage desselben zuerst zu einer Rinne wird, wie die Ränder dieser Rinne sich gegen einander krümmen und zu einem geschlossenen Canale verwachsen, und wie endlich zuletzt an diesem Rohre die beiden äusseren Mündungen (Mund und After) entstehen. In ganz ähnlicher Weise entstehen auch die übrigen Organ-Systeme des Körpers aus blattförmigen Anlagen, die sich zu Röhren gestalten. "Mehrere Male hinter einander und zu verschiedenen Zeiten werden verschiedene Systeme nach einem und demselben (blattförmigen) Typus gebildet." So entwickelt sich 1) das Nervensystem, 2) das Muskelsystem, 3) das Gefässsystem und 4) der Darmcanal, "als ein vollendetes, in sich geschlossenes Ganzes, den drei ersten ähnlich". Mit dieser höchst wichtigen Entdeckung legte Wolff bereits den ersten Keim zu der fundamentalen "Keimblätter-Theorie", die Baer erst viel später (1828) vollständig entwickelte. Wörtlich sind allerdings Wolff´s Sätze nicht richtig; allein er näherte sich mit denselben der Wahrheit schon so weit, als es überhaupt damals möglich war und von ihm erwartet werden konnte. Sie werden sehen, wie nahe Wolff damit dem wahren Sachverhältniss kam.

Von grosser Bedeutung war es, dass Wolff ein eben so ausgezeichneter Botaniker als Zoologe war. Er untersuchte gleichzeitig auch die Entwickelungsgeschichte der Pflanzen, und begründete zuerst im Gebiete der Botanik diejenige Lehre, welche später Goethe in seiner geistreichen Schrift von der Metamorphose der Pflanzen ausführte. Wolff hat zuerst nachgewiesen, dass sich alle verschiedenen Theile der Pflanzen auf das Blatt als gemeinsame Grundlage oder als "Fundamentalorgan" zurückführen lassen. Die Blüthe und die Frucht mit allen ihren Theilen bestehen nur aus umgewandelten Blättern. Diese Erkenntnis musste Wolff um so mehr überraschen, als er auch bei den Thieren, ebenso wie bei dem Pflanzen, eine einfache blattförmige Anlage als die erste Form des embryonalen Körpers entdeckte.

So finden wir demnach bei Wolff bereits die deutlichen Keime derjenigen Theorien, welche erste viel später andere geniale Naturforscher zur Grundlage des morphologischen Verständnisses vom Thier- und Pflanzenkörper erheben sollten. Noch höher wird aber unsere Bewunderung für diesen erhabenen Genius steigen, wenn wir ihn ihm sogar dem ersten Vorläufer der berühmten Zellentheorie begegnen. In der That hat Wolff bereits, wie Huxley zuerst zeigte, eine deutliche Ahnung von dieser fundamentalen Theorie gehabt, indem er kleine mikroskopische Bläschen als die eigentlichen Elementartheile ansah, aus denen sich die Keimblätter aufbauten.

Endlich ist noch besonders auf den monistischen Charakter der tiefen philosophischen Reflexionen aufmerksam zu machen, welche Wolff überall an seine bewunderungswürdigen Beobachtungen knüpfte. Wolff war ein grosser monistischer Naturphilosoph im besten und reinsten Sinne des Wortes. Freilich wurden seine philosophischen Untersuchungen ebenso wie seine empirischen über ein halbes Jahrhundert hindurch ignorirt, und haben auch jetzt noch nicht die verdiente Anerkennung gefunden. Um so mehr wollen wir hervorheben, dass sich dieselben streng in jener Bahn der Philosophie bewegen, welche wir die monistische nennen und als die allein berechtigte anerkennen9).

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.