V.

Meine Herren!


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In dem kurzen Zeitraume von fünfzehn Jahren, welcher seit dem Erscheinen des Buches von Charles Darwin "Ueber den Ursprung der Arten im Thier- und Pflanzenreiche" verflossen ist, hat die Entwickelungsgeschichte solche Fortschritte gemacht, dass wir wohl in der ganzen Geschichte der Naturwissenschaften kaum einen ähnlichen weitgreifenden Fortschritt verzeichnen können, der durch die Veröffentlichung eines einzigen Buches hervorgebracht wurde. Die Darwin-Lieteratur wächst von Tag zu Tage, und nicht allein im Gebiete der Zoologie und Botanik, im Gebiete der Fachwissenschaften, die zunächst durch die Darwinīsche Theorie berührt und reformirt sind, sondern weit darüber hinaus in viel grösseren Kreisen wird dieselbe mit einem Eifer und Interesse behandelt, wie es noch bei keiner wissenschaftlichen Theorie der Fall gewesen ist. Dieser ausserordentliche Erfolg erklärt sich vorzüglich aus zwei verschiedenen Umständen. Erstens sind alle einzelnen Naturwissenschaften, und vor allen die Biologie, in dem letzten halben Jahrhundert ungemein rasch fortgeschritten, und haben für die natürliche Entwickelungs-Theorie eine Masse von empirischen Beweisgründen geliefert, die früher fehlten. Je weniger Lamarck und die älteren Naturphilosophen mit ihrem ersten Versuche, die Entstehung der Organismen und des Menschen zu erklären, Anerkennung fanden, desto durchschlagender war das Resultat des zweiten Versuchs von Darwin, der sich auf ganz andere Massen von sicher erkannten Thatsachen stützen konnte. Jene Fortschritte benutzend, konnte er mit ganz anderen wissenschaftlichen Beweismitteln operiren, als es Lamarck und Geoffroy, Goethe und Treviranus möglich gewesen war. Zweitens aber müssen wir hervorheben, dass Darwin seinerseits das besondere Verdienst besitzt, die ganze Frage von einer völlig neuen Seite in Angriff genommen und zur Erklärung der Abstammungslehre eine selbstständige Theorie ausgedacht zu haben, die wir im eigentlichen Sinne die Darwinīsche Theorie oder den Darwinismus nennen.

Während Lamarck die Umbildung der Organismen, welche von gemeinsamen Stammformen abstammen, grösstentheils durch die Wirkung der Gewohnheit, der Uebung der Organe, anderseits allerdings durch die Zuhülfenahme der Vererbungs-Erscheinungen erklärte, entwickelte Darwin selbstständig auf einer ganz neuen Basis die wahren Ursachen, welche eigentlich die Umbildung der verschiedenen Thier-und Pflanzen-Formen mit Hülfe der Anpassung und Vererbung mechanisch zu vollbringen im Stande sind. Zu dieser "Züchtungs-Lehre oder Selections-Theorie" gelangte Darwin auf Grund folgender Betrachtung. Er verglich die Entstehung der mannichfaltigen Rassen von Thiere und Pflanzen, die der Mensch künstlich hervorzubringen im Stande ist, die Züchtungs-Verhältnisse der Gartenkunst und der Haustierzucht mit der Entstehung der wilden Arten von Thieren und Pflanzen im natürlichen Zustande. Hierbei fand er, dass ähnliche Ursachen, wie wir sie bei der künstlichen Züchtungs unserer Hausthiere und Cultur-Pflanzen zur Umbildung der Formen anwenden, auch in der freien Natur wirksam sind. Die wirksamste von allen dabei mitwirkenden Ursachen nannte er den "Kampf umīs Dasein". Der Kern dieser eigentlichen Darwinīschen Theorie besteht in folgendem einfachen Gedanken: der Kampf umīs Dasein erzeugt planlos in der freien Natur in ähnlicher Weise neue Arten, wie der Wille des Menschen planvoll im Culturzustande neue Rassen züchtet. Ebenso wie der Gärtner und der Landwirth für seinen Vortheil und nach seinem Willen züchtet, indem er die Verhältnisse der Vererbung und Anpassung zur Umbildung der Formen zweckmässig benutzt, in ähnlicher Weise bildet der Kampf umīs Dasein die Formen der Thiere und Pflanzen im wilden Zustande um. Dieser Kampf umsīs Dasein, oder die Mitbewerbung der Organismen um die nothwendigen Existenzbedingungen wirkt allerdings planlos, aber dennoch in ähnlicher Weise direct umbildend auf die Organismen. Indem unter seinem Einflusse die Verhältnisse der Vererbung und Anpassung in die innigste Wechselbeziehung treten, müssen nothwendig neue Formen oder Abänderungen entstehen, die für die Organismen selbst von Vortheil, also zweckmässig sind, trotzdem kein vorbedachter Zweck ihre Entstehung veranlasste.

Dieser einfache Grundgedanke ist der eigentlich Kern des Darwinismus oder der "Selections-Theorie". Darwin erfasste diesen Grundgedanken schon vor langer Zeit, hat aber über zwanzig Jahre hindurch mit bewunderungswürdigem Fleisse empirisches Material zu seiner festen Begründung gesammelt, ehe er seine Theorie veröffentlichte. Ueber den Weg, auf welchem er dazu gelangte, sowie über seine wichtigsten Schriften und seine Schicksale, habe ich in meiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (IV. Auflage, S. 117-128) ausführlich berichtet17). Ich will daher hier nur ganz kurz einige der wichtigsten Verhältnisse derselben berühren. Charles Darwin ist am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury in England geboren, woselbst sein Vater Robert praktischer Arzt war. Sein Grossvater, Erasmus Darwin, war ein denkender Naturforscher, der im Sinne der älteren Naturphilosophie arbeitete und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mehrere naturphilosophische Schriften veröffentlichte. Die bedeutendste von diesen ist die 1794 erschienen "Zoonomie", in welcher er ähnliche Ansichten wie Goethe und Lamarck aussprach, ohne jedoch von den gleichen Bestrebungen dieser Zeitgenossen etwas zu wissen. Erasmus Darwin übertrug nach dem Gesetze der latenten Vererbung oder des "Atavismus" bestimmte Molecular-Bewegungen in den Ganglienzellen seines grossen Gehirns erblich auf seinen Enkel Charles, ohne dass dieselben an seinen Sohne Robert zur Erscheinung kamen. Diese Thatsache ist für den merkwürdigen Atavismus, den Charles Darwin selbst so vortrefflich erörtert hat, von hohem Interesse. Uebrigens überwog in den Schriften des Grossvaters Erasmus die plastische Phantasie gar zu sehr den kritischen Verstand, während bei seinem Enkel Charles beide in richtigem Gleichgewichtsverhältnisse stehen. Da gegenwärtig viele Naturforscher von beschränktem Geiste die Phantasie in der Biologie für überflüssig halten und ihren eigenen Mangel daran für einen grosswen und "exacten" Vorzug ansehen, so will ich Sie bei dieser Gelegenheit auf einen treffenden Ausspruch eines geistvollen Naturforschers aufmerksam machen, der selbst eines der Häupter der sogenannten "exacten" oder streng empirischen Richtung war. Johannes Müller, der deutsche Cuvier, dessen Arbeiten immer als Muster exacter Forschung gelten werden, erklärte die beständige Wechselwirkung und das harmonische Gleichgewicht von Phantasie und Verstand für die unentbehrliche Vorbedingung der wichtigsten Entdeckungen. (Ich habe diesen Ausspruch als Leitwort vor den achtzehnten Vortrag gesetzt.)

Charles Darwin hatte das Glück, nach Vollendung seiner Universitäts-Studien im 22. Lebensjahre an einer zu wissenschaftlichen Zwecken veranstalteten Weltumseglung Theil nehmen zu können, welche fünf Jahre dauerte und ihm die grossartigsten Naturanschauungen in Fülle gewährte. Schon als er zu Beginn derselben zuerst den Boden von Süd-Amerika betrat, wurde er auf verschiedene Erscheinungen aufmerksam, die das grosse Problem seiner Lebensarbeit, die Frage nach der "Entstehung der Arten", in ihm anregten. Einestheils die lehrreichen Erscheinungen der geographischen Verbreitung der Arten, anderentheils die Beziehungen der lebenden zu den ausgestorbenen Species desselben Erdtheils führten ihn auf den Gedanken, dass nahe verwandte Arten von einer gemeinsamen Stammform abstammen möchten. Als der dann nach der Rückkehr von seiner fünfjährigen Weltreise sich Jahre lang auf das Eifrigste mit dem systematischen Studium der Hausthiere und Gartenpflanzen beschäftigte, erkannte er die offenbaren Analogien, welche sie in ihrer Bildung und Umbildung mit den wilden Arten im Naturzustande darbieten. Zu der Aufstellung des wichtigsten Punktes seiner Theorie, der natürlichen Züchtung durch den Kampf umīs Dasein, gelangte er aber erst, nachdem er das berühmte Buch des National-Oekonomen Malthus "über die Bevölkerungs-Verhältnisse" gelesen hatte. Hierbei wurde ihm sofort die Analogie klar, welche die wechselnden Beziehungen der Bevölkerung und Überbevölkerung in den menschlichen Cultur-Staaten mit den socialen Verhältnissen der Thiere und Pflanzen im Naturzustande besitzen. Viele Jahre hindurch sammelte er nun Material, um massenhafte Beweismittel zur Stütze dieser Theorie zusammen zu bringen, und stellte selbst wichtige Züchtungs-Versuche in Menge an. Die stille Zurückgezogenheit, in der er seit der Rückkehr von der Weltreise auf seinem Landgute Down unweit Beckenham (einige Meilen von London entfernt) lebte, gewährte ihm dazu die reichlichste Musse.

Erst im Jahre 1858 entschloss sich Darwin, gedrängt durch die Arbeit eines anderen Naturforschers, Richard Wallace, der auf dieselbe Züchtungs-Theorie gekommen war, die Grundzüge seiner Theorie zu veröffentlichen, und 1859 erschien dann sein Hauptwerk "über die Entstehung der Arten", in welchem dieselbe ausführlich erörtert und mit den gewichtigsten Beweismitteln begründet ist. Da ich in meiner "Generellen Morphologie" und "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" meine Auffassung derselben bereits ausführlich erörtert habe, will ich hier nicht länger dabei verweilen, und nur nochmals mit ein paar Worten den Kern der Darwinīschen Theorie, auf dessen richtiges Verständniss Alles ankömmt, hervorheben. Dieser Kern enthält den einfachen Grundgedanken: Der Kampf umīs Dasein bildet im Naturzustande die Organismen um, und erzeugt neue Arten mit Hülfe derselben Mittel, durch welche der Mensch neue Rassen von Thieren und Pflanzen im Culturzustande hervorbringt. Diese Mittel bestehen in einer fortgesetzten Auslese oder Selection der zur Fortpflanzung gelangenden Individuen, wobei Verergung und Anpassung in ihrer gegenseitigen Wechselbeziehung als umbildende Ursachen wirksam sind.

Die Wirkung von Darwinīs Hauptwerk "über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung" war ausserordentlich bedeutend, wenn auch zunächst nicht innerhalb der Fachwissenschaft. Es vergingen einige Jahre, ehe die Botaniker und Zoologen sich von dem Erstaunen erholt hatten, in welches sie durch die neue Naturanschauung dieses grossen reformatorischen Werkes versetzt waren. Die Wirkung des Buches auf die Specialwissenschaften, mit denen wir Zoologen und Botaniker uns beschäftigen, ist eigentlich erst in den letzten Jahren mehr hervorgetreten, seitdem man begonnen hat, die Descendenz-Theorie auf das Gebiet der Anatomie, der Ontogenie, der zoologischen und botanischen Systematik anzuwenden. Theilweise ist dadurch bereits ein ausserordentlicher Fortschritt und eine mächtige Umwälzung in den herrschenden Ansichten herbeigeführt worden.

Nun war aber in dem ersten Darwinīschen Werke von 1859 derjenige Punkt, welcher uns hier zunächst interessirt, die Anwendung der Abstammungslehre auf den Menschen, noch gar nicht berührt worden. Man hat sogar viele Jahre hindurch an der Behauptung festgehalten, dass Darwin nicht daran denke, seine Theorie auf den Menschen anwenden zu wollen, und dass er vielmehr die herrschende Ansicht theile, wonach dem Menschen eine ganz besondere Stellung in der Schöpfung nothwendig vorbehalten werden müsse. Nicht allein unwissende Laien (insbesondere viele Theologen), sondern auch gelehrte Naturforscher behaupteten mit der grössten Naivetät, dass zwar die Darwinīsche Theorie an sich gar nciht anzufechten, vielmehr völlig richtig sei, dass man mittelst derselben zu Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten sehr gut zu erklären im Stande sei, dass aber die Theorie durchaus nicht auf den Menschen angewendet werden könne.

Inzwischen wurde aber doch von einer grossen Anzahl denkender Leute, von Naturforschern sowohl als von Laien, die entgegengesetzte Ansicht ausgesprochen, dass aus der von Darwin reformirten Descendenz-Theorie mit logischer Nothwendigkeit auch die Abstammung des Menschen von anderen thierischen Organismen, und zwar zunächst von affenähnlichen Säugethieren, gefolgert werden müsse. Diese Berechtigung dieses Folgeschlusses wurde sogar schon sehr frühzeitig von denkenden Gegnern der Lehre anerkannt, die eben deshalb, weil sie diese Consequenz als unausbleiblich ansahen, die ganze Theorie verwerfen zu müssen glaubten. Die erste wissenschaftliche Anwendung der Theorie auf den Menschen geschah aber durch den berühmten Naturforscher Thomas Huxley, welcher gegenwärtig unter den Zoologen Englands die erste Stelle einnimmt18). Dieser geistvolle und kenntnissreiche Forscher, dem die zoologische Wissenschaft viele werthvolle Fortschritte verdankt, veröffentlichte im Jahre 1863 eine kleine Schrift: "Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Drei Abhandlungen: 1) Uber die Naturgeschichte der menschenähnlichen Affen; 2) Ueber die Beziehungen des Menschen zu den nächstniederen Thieren; 3) Ueber einige fossile menschliche Ueberreste." In diesen drei ausserordentlich wichtigen und interessanten Abhandlungen ist mit völliger Klarheit nachgewiesen, dass aus der Descendenz-Theorie nothwendig die vielbestrittene "Abstammung des Menschen vom Affen" folgt. Wenn die Abstammungslehre überhaupt richtig ist, bleibt nichts übrig, als die menschenähnlichsten Affen als diejenigen Thiere anzusehen, als welchen zunächst sich das Menschengeschlecht entwickelt hat.

Fast gleichzeitig erschien eine grössere Schrift über denselben Gegenstand: "Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde" von Carl Vogt, einem unserer scharfsinnigsten Zoologen, der durch seine zahlreichen und vortrefflichen früheren Arbeiten im Gebiete der systematischen Zoologie, der vergleichenden Anatomie und Physiologie, der Paläontologie u. s. w., sowie durch sein klares monistisches Verständniss des organischen Lebens vorzugsweise befähigt war, die Bedeutung der Descendenz-Theorie zu erkennen und ihre Anwendung auf den Menschen zu versuchen. Ein gleicher Versuch wurde 1866 von Friedrich Rolle in seiner Schrift über "den Menschen, seine Abstammung und Gesittung im Lichte der Darwinīschen Lehre" ausgeführt.

Gleichzeitig habe ich selbst (im zweiten Bande meiner 1866 erschienenen "Generellen Morphologie der Organismen" den ersten Versuch gemacht, die Entwickelungs-Theorie auf die gesammte Systematik der Organismen mit Inbegriff des Menschen anzuwenden. Ich habe dort die hypothetischen Stammbäume der einzelnen Klassen des Thierreiches, des Protistenreiches und des Pflanzenreiches so zu entwerfen versucht, wie es nach der Darwinīschen Theorie nicht alleim im Princip nothwendig, sondern auch wirklich bis zu einem gewissen Grade der Wahrscheinlichkeit jetzt schon möglich ist. Denn wenn überhaupt die Abstammungslehre richtig ist, wie sie Lamarck zuerst bestimmt formulirt und Darwin später fest begründet hat, so muss man auch im Stande sein, das natürliche System der Thiere und Pflanzen genealogisch zu deuten, und die kleineren und größeren Abtheilungen, welche man im System unterscheidet, als Zweige und Aeste eines Stammbaumes hinzustellen. Die acht genealogischen Tafeln, welche ich dem zweiten Bande der generellen Morphologie angehängt habe, sind die ersten derartigen Entwürfe. In dem 27sten Kapitel derselben sind zugleich die wichtigsten Stufen in der Ahnenreihe des Menschen aufgeführt, soweit sie sich durch den Wirbelthier-Stamm hindurch verfolgen lässt. Insbesondere habe ich daselbst die systematische Stellung des Menschen in der Klasse der Säugethiere, und die genealogische Bedeutung derselben festzustellen versucht, soweit dies gegenwärtig möglich erscheint. Diesen Versuch habe ich sodann wesentlich verbessert und in populärer Darstellung weiter ausgeführt in meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868, vierte verbesserte Auflage 1873) 19).

Endlich ist vor drei Jahren Charles Darwin selbst mit einem höchst interessanten Werke hervorgetreten, welches die vielbestrittene Anwendung seiner Theorie auf den Menschen enthält und somit die Krönung seines grossartigen Lehrgebäudes vollzieht. In diesem Werke betitelt "Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl"20), hat Darwin den früher absichtlich verschwiegenen Folgeschluss, dass auch der Mensch sich aus niederen Thieren entwickelt haben muss, mit der grössten Offenheit und der schärfsten Logik gezogen, und hat insbesondere die höchst wichtige Rolle auf das Geistvollste erörtert, welche sowohl bei der fortschreitenden Veredelung des Menschen wie aller anderen höheren Thiere die geschlechtliche Zuchtwahl oder sexuelle Selection spielt. Die Grundzüge des menschlichen Stammbaumes, wie ich sie in der Generellen Morphologie und in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte aufgestellt habe, hat Darwin im Wesentlichen gebilligt und ausdrücklich hervorgehoben, dass ihn seine Erfahrungen zu denselben Schlüssen geführt haben. Dass er selbst nicht gleich in seinem ersten Werke die Anwendung der Descendenz-Theorie auf den Menschen machte, war sehr weise und kann nur gebilligt werden; denn diese Consequenz war nur geeignet, die grössten Vorurtheile gegen die ganze Theorie aufzuregen. Zunächst musste es nur darauf ankommen, der Abstammungslehre in Bezug auf die Thier- und Pflanzenarten Geltung zu verschaffen. Ihre Anwendung auf den Menschen musste dann selbstverständlich früher oder später von selbst nachkommen.

Die richtige Auffassung dieses Verhältnisses ist von der grössten Bedeutung. Wenn überhaupt alle Organismen von einer gemeinsamen Wurzel abstammen, dann ist auch der Mensch in dieser gemeinsamen Descendenz mit inbegriffen. Wenn hingegen alle einzelnen Arten oder Organismen-Species für sich erschaffen worden sind, dann ist auch der Mensch ebenso "erschaffen, nicht entwickelt". Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Annahmen haben wir in der That zu wählen, und diese entscheidende Alternative kann nicht oft und nicht scharf genug in den Vordergrund gestellt werden: Entweder sind überhaupt alle verschiedenen Arten des Thier- und Pflanzenreiches übernatürlichen Ursprungs, erschaffen, nicht entwickelt; und dann ist auch der Mensch ein Product eines übernatürlichen Schöpfungsactes, wie alle die verschiedenen religiösen Glaubensvorstellungen es auch annehmen. Oder aber, es haben sich die verschiedenen Arten und Klassen des Thier- und Pflanzenreiches aus wenigen gemeinsamen einfachsten Stammformen entwickelt, und dann ist auch der Mensch selbst eine letzte Entwicklungsfrucht des thierischen Stammbaumes.

Man kann dieses Verhältniss kurz in dem Satze zusammenfassen: Die Abstammung des Menschen von niederen Thieren ist ein besonderes Deductionsgesetz, welches mit Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Inductionsgesetz der gesammten Abstammungslehre folgt. In diesem Sate lässt sich das Verhältniss am klarsten und einfachsten formuliren. Die Abstammungslehre ist im Grunde weiter Nichts als ein grosses Inductionsgesetz, auf welches wir durch die vergleichende Zusammenstellung der wichtigsten morphologischen und physiologischen Erfahrungsgesetze hingeführt werden. Nun müssen wir überall da nach den Gesetzen der Induction schliessen, wo wir nicht im Stande sind, die Naturwahrheit auf dem untrüglichen Wege directer Messung oder mathematischer Berechnung unmittelbar festzustellen. Bei der Erforschung der belebten Natur vermögen wir fast niemals ganz unmittelbar die Bedeutung der Erscheinungen vollständig zu erkennen und auf dem execten Wege der Mathematik zu bestimmen, wie das bei der viel einfacheren Erforschung der anorganischen Naturkörper der Fall ist: in der Chemie und Physik, in der Mineralogie und der Astronomie. Besonders in der letzteren können wir immer den einfachsten und absolut sicheren Erkenntnisspfad der mathematischen Berechnung benutzen. Allein in der Biologie ist dies aus vielen Gründen ganz unmöglich, und zwar zunächst deshalb, weil hier die Erscheinungen höchst verwickelt und viel zu zusammengesetzt sind, als dass sie unmittelbar eine mathematische Analyse erlaubten. Wir sind daher hier gezwungen inductiv vorzugehen, das heisst aus der Masse einzelner Beobachtungen allgemeine Schlüsse von annähernder Richtigkeit Stufe für Stüfe zu erobern. Diese Inductionsschlüsse können zwar nicht absolute Sicherheit, wie die Sätze der Mathematik, beanspruchen; sie nähern sich aber mit um so grösserer Wahrscheinlichkeit der Wahrheit, je ausgedehnter die Erfahrungsgebiete sind, auf die wir uns dabei stützen. An der Bedeutung dieser Inductionsgesetze ändert der Umstand Nichts, dass dieselben nur als vorläufige wissenschaftliche Errungenschaften betrachtet und durch weitere Fortschritte der Erkenntniss möglicherweise verbessert oder vervollkommnet werden können. Die ganze wissenschaftliche Formenkunde oder Morphologie (sowohl der morphologische Theil der Zoologie und Anthropologie als der Botanik) beruht eigentlich auf solchen Inductionsgesetzen.

Wenn wir nun die Abstammungslehre im Sinne von Lamarck und Darwin als ein Inductionsgesetz und zwar als das grösste von allen biologischen Inductionsgesetzen bezeichnen, so stützen wir uns dabei in erster Linie auf die Thatsachen der Paläontologie, auf die Erscheinungen des Artenwechsels, wie sie durch die Versteinerungskunde bewiesen werden. Aus den Verhältnissen, unter denen wir diese Versteinerungen oder Petrefacten in den geschichteten Gesteinen unserer Erdrinde begraben finden, ziehen wir zunächst den sicheren Schluss, dass sich die organische Bevölkerung der Erde ebenso wie die Erdrinde selbst langsam und allmählich entwickelt hat, und dass Reihen von verschiedenen Bevölkerungen nach einander in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte aufgetreten sind. Die Geologie zeigt uns, dass die Entwickelungsgeschichte der Erde allmählich und ohne gewaltsame totale Umwälzungen stattgefunden hat. Wenn wir nun die verschiedenen Thier- und Pflanzenschöpfungen, welche im Laufe der Erdgeschichte nach einander aufgetreten sind, mit einander vergleichen, so finden wir erstens eine beständige und allmähliche Zusnahme der Artenzahl von der ätesten bis zur neuesten Zeit; und zweitens nehmen wir wahr, dass die Vollkommenheit der Formen innerhalb jeder grösseren Gruppe des Thierreiches und des Pflanzenreiches ebenfalls beständig zunimmt. So existiren z. B. von den Wirbelthieren zuerst nur niedere Fische, dann höhere Fische; später kommen die Amphibien; nach später erst erscheinen die drei höheren Wirbelthierklassen, die Reptilien, darauf die Vögel und die Säugethiere; von den Säugethieren zeigen sich zuerst nur die unvollkommensten und niedersten Formen; erst sehr spät kommen auch die höheren placentalen Säugethiere zum Vorschein, und so fort. Es zeigt sich also, dass die Vollkommenheit der Formen ebenso wie ihre Mannichfaltigkeit von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart immer zunimmt. Das ist eine Thatsache von grosser Bedeutung, die nur durch die Abtammungslehre sich erklären lässt und sich in vollkommener Harmonie mit derselben befindet. Wenn wirklich die verschiedenen Thier- und Pflanzengruppen von einander abstammen, dann muss nothwendig eine solche Zunahme an Zahl und Vollkommenheit stattgefunden haben, wie sie uns thatsächlich die Reihen der Versteinerungen vor Augen führen.

Eine zweite Erscheinungsreihe, welche für unser Inductionsgesetz von der grössten Bedeutung ist, liefert die vergleichende Anatomie. Das ist derjenige Theil der Morphologie oder Formenlehre, welcher die entwickelten Formen der Organismen vergleicht und in der bunten Mannichfaltigkeit der organischen Gestalten das einheitliche Organisationsgesetz, oder wie man früher sagte, den "gemeinsamen Bauplan" zu erkennen sucht. Seit Cuvier im Anfange unseres Jahrhunderts diese Wissenschaft begründet hatte, ist sie ein Lieblingsstudium der hervorragendsten Naturforscher geblieben. Schon vor ihm war Goethe durch den geheimnisvollen Reiz derselben auf das Mächtigste angezogen und in seine Studien "zur Morophologie" hineingeführt worden. Insbesondere die vergleichende Osteologie, die philosophische Betrachtung und Vergleichung des Knochengerüstes der Wirbelthiere (in der Taht einer der interessantesten Theile) fesselte ihn mächtig und führte ihn zu seiner schon erwähnten Schädel-Theorie. Die vergleichende Anatomie lehrt uns, dass der innere Bau der zu jedem Stamme gehörigen Thierarten und ebenso auch der Pflanzenformen jeder Klasse in allen wesentlichen Grundzügen die grösste Uebereinstimmung besitzt, wenn auch die äusseren Körperformen sehr verschieden sind. So zeigt der Mensch in allen wesentlichen Beziehungen seiner inneren Organisation solche Uebereinstimmungen mit den übrigen Säugethieren, dass niemals ein vergleichender Anatom über seine Zugehörigkeit zu dieser Klasse in Zweifel gewesen ist. Der ganze innere Aufbau des menschlichen Körpers, die Zusammensetzung seiner verschiedenen Organsysteme, die Anordnung der Knochen, Muskeln, Blutgefässe u. s. w., die gröbere und feinere Structur aller dieser Organe stimmt mit derjenigen alle übrigen Säugethiere (z. B. Affen, Nagethiere, Hufthiere, Walfische, Beutenthiere u. s. w.) so sehr überein, dass dagegen die völlige Unähnlichkeit der äusseren Gestalt gar nicht inīs Gewicht fällt. Weiterhin erfahren wir durch die vergleichende Anatomie, dass die Grundzüge der thierischen Organisation sogar in den verschiedenen Klassen (im Ganzen 20-40 an der Zahl) so sehr übereinstimmen, dass füglich alle in 6-8 verschiedene Hauptgruppen gebracht werden können. Aber selbst in diesen wenigen Hauptgruppen, den Stämmen oder Typen des Thierreiches noch gewisse Organe, vor allen der Darmcanal, als ursprünglich gleichbedeutend nachzuweisen. Wenn nun bei allen diesen verschiedenen Thieren, trotz der grössten Unähnlichkeit im Aeusseren, sich dennoch eine so wesentliche Uebereinstimmung im Innern findet, so können wir diese Thatsache nur mit Hülfe der Abstammungslehre erklären. Nur wenn wir die innere Uebereinstimmung als Wirkung der Vererbung von gemeinsamen Stammformen betrachten, die äussere Unähnlichkeit als Wirkung der Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen, lässt sich jene wunderbare Thatsache begreifen. Durch diese Erkenntniss ist die vergleichende Anatomie selbst auf eine höhere Stufe erhoben worden, und mit vollem Rechte könnte Gegenbaur21), der bedeutendste unter den jetzt lebenden Vertretern dieser Wissenschaft, sagen, dass mit der Descendenz-Theorie eine neue Periode in der vergleichenden Anatomie beginne, und dass die erstere an der letzteren zugleich einen Prüfstein finde. "Bisher besteht keine vergleichend-anatomische Erfahrung, welche der Descendenz-Theorie widerspräche; vielmehr führen uns alle darauf hin. So wird jene Theorie das von der Wissenschaft zurückempfangen, was sie ihrer Methode gegeben hat: Klarheit und Sicherheit." Früher hatte man sich immer nur über die erstaunliche Uebereinstimmung der Organismen im inneren Bau gewundert, ohne sie erklären zu können. Jetzt hingegen sind wir im Stande, die Ursachen dieser Thatsache zu erkennen, und nachzuweisen, dass diese wunderbare Uebereinstimmung einfach die nothwendige Folge der Vererbung von gemeinsamen Stammformen, die auffallende Verschiedenheit der äusseren Formen aber die nothwendige Folge der Anpassung an die äusseren Existenz-Bedingungen ist.

Ein besonderer Theil der vergleichenden Anatomie ist aber in dieser Beziehung von ganz hervorragendem Interesse und zugleich von der weitgreifendsten philosophischen Bedeutung. Das ist die Lehre von den rudimentären Organen, welche wir mit Rücksicht auf ihre philosophischen Consequenzen geradezu die Unzweckmässigkeitslehre oder Dysteleologie nennen können. Fasst jeder Organismus (mit Ausnahme der niedrigsten und unvollkommensten), namentlich aber jeder hochentwickelte Thier- und Pflanzenkörper, und ebenso der Mensch, besitzt einzelne oder viele Körpertheile, welche für den Organismus selbst unnütz, für seine Lebenszwecke gleichgültig, für seine Functionen werthlos sind. So besitzen wir noch alle in unserem Körper verschiedene Muskeln, die wir niemals gebrauchen; z. B. Muskeln in der Ohrmuschel und in der nächsten Umgebung derselben. Bei den meisten, namentlich den spitzohrigen Säugethieren sind diese inneren und äusseren Ohrmuskeln von grossem Nutzen, weil sie die Form und Stellung der Ohrmuschel vielfach verändern, um die Schallwellen möglichst gut aufzufangen. Bei uns hingegen und bei anderen stumpfohrigen Säugethieren sind dieselben Muskeln zwar noch vorhanden, aber von gar keinem Nutzen mehr. Da unsere Vorfahren sich schon längst ihren Gebrauch abgewöhnt haben, können wir sie nicht mehr in Bewegung setzen. Ferner besitzen wir noch im inneren Winkel unseres Auges eine kleine halbmondförmige Hautfalte; diese ist der letzte Rest eines dritten Augenlides, die sogenannte Nickhaut. Bei unseren uralten Vorfahren, den Haifischen und bei vielen anderen Wirbelthieren ist diese Nickhaut sehr entwickelt und für das Auge von grossem Nutzen; bei uns ist sie verkümmert und völlig nutzlos. Wir besitzen im Darmcanal eine Anhang, der nicht nur ganz nutzlos ist, sondern sogar sehr schädlich werden kann, den sogenannten Wurmfortsatz des Blinddarm. Dieser kleine Darmanhang wird nicht selten Ursache einer tödtlichen Krankheit. Wenn bei der Verdauung durch einen unglücklichen Zufall ein Kirschkern oder ein ähnlicher harter Körper in seine enge Höhlung gepresst wird, so tritt eine heftige Entzündung ein, die meistens tödtlich verläuft. Dieser Wurmfortsatz besitzt für unseren Organismus absolut gar keinen Nutzen mehr; er ist das letzte gefährliche Ueberbleibsel eines Organes, welches bei unseren pflanzenfressenden Vorfahren viel grösser und für die Verdauung von grossem Nutzen war; wie dasselbe auch noch jetzt bei vielen Pflanzenfressern, z. B. bei Affen und Nagethieren, umfangreich und von grosser physiologischer Bedeutung ist.

Aehnliche rudimentäre Organe finden sich bei uns, wie bei allen höheren Thieren, an den verschiedensten Körpertheilen. Sie gehören zu den interessantesten Erscheinungen, mit welchen und die vergleichende Anatomie bekannt gemacht macht; erstens weil sie die einleuchtendsten Beweise für die Descendenz-Theorie liefern, und zweitens, weil sie auf das Schlagendste die herkömmlich teleologische Schul-Philosophie widerlegen. Mit Hülfe der Abstammungslehre ist die Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinungen sehr einfach; wir müssen sie als Theile betrachten, welche im Laufe vieler Generationen allmählich ausser Gebrauch gekommen, ausser Dienst getreten sind; mit dem abnehmenden Gebrauche und dem schliesslichen Verluste der Function verfällt aber auch das Organ selbst Schritt für Schritt einer Rückbildung und verschwindet schliesslich ganz. Auf andere Weise ist die Existenz der rudimentären Organe überhaupt nicht zu erklären. Deshalb sind sie auch für die Philosophie von der grössten Bedeutung; sie beweisen klar, dass die mechanische oder monistische Auffassung der Organismen allein richtig, und dass die herrschende teleologische oder dualistische Beurtheilung derselben völlig falsch ist. Die uralte Fabel von dem hochweisen Plane, wonach "des Schöpfers Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat", die leere Phrase von dem zweckmässigen "Bauplane" der Organismen wird dadurch in der That gründlich widerlegt. Es können wohl kaum stärkere Gründe gegen die herkömmliche Teleologie oder Zweckmässigkeitslehre aufgebracht werden, als die Thatsache, dass alle höher entwickelten Organismen solche rudimentären Organe besitzen.

Die breiteste inductive Grundlage erhält die Descendenz-Theorie durch das natürliche System der Organismen, welches alle die verschiedenen Formen stufenweise in kleinere oder grössere Gruppen nach dem Grade ihrer Formverwandtschaft ordnet. Diese Gruppenstufen oder Kategorien des Systems, die Varietäten, Species, Genera, Familien, Ordnungen, Klassen u. s. w. zeigen nun unter sich stets solche Beziehungen der Coordination und Subordination, dass man dieselben nur genealogisch deuten und bildlich das ganze System nun unter der Form eines vielverzweigten Baumes darstellen kann. Dieser Baum ist der Stammbaum der verwandten Formgruppen, und ihre Formverwandtschaft ist die wahre Blutsverwandtschaft. Da eine andere Erklärung für die natürliche Baumform des Systems gar nicht gegeben werden kann, so dürfen wir sie unmittelbar als einen gewichtigen Beweis für die Wahrheit der Abstammungslehre betrachten.

Zu den wichtigsten Erscheinungen, welche für das Inductions-Gesetz der Descendenz-Theorie Zeugniss ablegen, gehört die geographische Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten über die Erdoberfläche, sowie die topographische Verbreitung derselben auf den Höhen der Gebirge und in den Tiefen des Oceans. Die wissenschaftliche Erkenntiss dieser Verhältnisse, die "Verbreitungslehre" oder Chorologie ist nach Alexander Humboldtīs Vorgange neuerdings mit lebhaftem Interesse in Angriff genommenworden. Jedoch beschränkte man sich bis auf Darwin lediglich auf die Betrachtung der chorologischen Thatsachen, und suchte vor Allem die Verbreitungs-Bezirke der jetzt lebenden grösseren und kleineren Organismen-Gruppen festzustellen. Allein die Ursachen dieser merkwürdigen Verbreitungs-Verhältnisse, die Gründe, warum die einen Gruppen nur dort, die anderen nur hier existiren, und warum überhaupt eine so mannichfaltige Vertheilung der verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten stattfindet, Ales das war man nicht zu erklären im Stande. Auch hier liefert uns erst die Abstammungslehre den Schlüssel des Verständnisses; sie allein führt uns auf den richtigen Weg der Erklärung, indem sie uns zeigt, dass die verschiedenen Arten und Arten-Gruppen von gemeinsamen Stammarten abstammen, deren vielverzweigte Nachkommenschaft sich durch Wanderung oder Migration allmählich über alle Theile der Erde zerstreute. Für jede Arten-Gruppe aber muss ein sogenannter "Schöpfungsmittelpunkt", d. h. eine gemeinsae Urheimath angenommen werden; das ist die Ursprungsstätte, auf der sich die gemeinsame Stamm-Art der Arten-Gruppe zuerst entwickelte, und von der aus sich hre nächste Nachkommenschaft nach verschiedenen Richtungen ausbreitete. Einzelne von diesen ausgewanderten Arten wurden wieder Stammformen für neue Arten-Gruppen, die sich abermals durch active und passive Wanderung zerstreuten, und so fort. Indem sich jede ausgewanderte Form inder neuen Heimath neuen Existenz-Bedingungen anpassen musste, wurde sie umgebildet und gab neuen Formenreihen den Ursprung. Diese höchst wichtige Lehre von den activen und passiven Wanderungen hat zuerst Darwin mit Hülfe der Descendenz-Theorie begründet und dabei namentlich die Bedeutung der wichtigen chorologischen Beziehungen zwischen der lebenden Bevölkerung jedes Erdtheils und den fossilen Vorfahren und Verwandten derselben richtig hervorgehoben. In vorzüglicher Weise hat dieselbe sodann Moriz Wagner unter der Bezeichnung Migrations-Theorie weiter ausgebildet. Jedoch hat dieser berühmte Reisende die Bedeutung seiner "Migrations-Theorie" nach unserer Ansicht insoweit überschätzt, als er sie für eine nothwendige Bedingung der Entstehung neuer Arten erklärt, dagegen die Selections-Theorie nicht für richtig hält. Nun stehen aber diese beiden Theorien keineswegs in einem Gegensatz zu einander. Vielmehr ist die Migration, durch welche die Stammform einer neuen Art isolirt wird, nur ein besonderer Fall der Selection. Da die grossartigen und interessanten chorologischen Erscheinungsreihen sich einzig und allein durch die Descendenz-Theorie erklären lassen, so müssen wir sie zu den wichtigsten inductiven Grundlagen derselben rechnen.

Ganz dasselbe gilt von allen den merkwürdigen Erscheinungen, welche wir im "Natur-Haushalte", in der Oeconomie der Organismen wahrnehmen. Alle die mannigfaltigen Beziehungen der Thiere und Pflanzen zu einander und zur Aussenwelt, mit denen sich die Oekologie der Organismen beschäftigt, namentlich aber die interessanten Erscheinungen des Parasitismus, des Familienlebens, er Brutpflege, des Socialismus u. s. w., sie alle sind einfach und natürlich nur durch die Lehre von Anpassung und Vererbung zu erklären. Während man früher gerade in diesen Erscheinungen vorzugsweise die liebevollen Einrichtungen eines allweisen und allgütigen Schöpfers zu bewundern pflegte, finden wir jetzt gerade umgekehrt in ihnen vortreffliche Stützen für die Abstammungslehre, ohne welche sie überhaupt nicht zu begreifen ist.

Endlich ist als die wichtigste inductive Grundlage der Descendenz-Theorie die individuelle Entwickelungsgeschichte aller Organismen, die gesammte Ontogenie zu bezeichnen. Da ber unsere weiteren Vorträge diesen Gegenstand ganz speciell zu behandeln haben, brauche ich hier Nichts weiter darüber zu sagen. Ich werde mich vielmehr bemühen, Ihnen Schritt für Schritt in den folgenden Vorträgen zu zeigen, wie die gesammten Erscheinungen der Ontogenie eine zusammenhängende Beweiskette für die Wahrheit der Abstammungslehre bilden und nur durch die Phylogenie erklärbar sind. Indem wir diesen engen Causal-Nexus zwischen Ontogenese und Phylogenese benutzen und uns beständig auf unser biogenetisches Grundgesetz stützen, werden wir im Stande sein, die Abstammung des Menschen von niederen Thieren aus den Thatsachen der Ontogenie Stufe für Stufe nachzuweisen.

Schliesslich ist noch anzuführen, dass in neuester Zeit die wichtige theoretische Frage von dem Wesen und dem Begriffe der Art oder Species, die den eigentlichen Angelpunkt aller Streitigkeiten über die Descendenz-Theorie bildet, definitiv erledigt worden ist. Seit mehr als einem Jahrhundert ist diese Frage von den verschiedensten Gesichtspunkten erörtert worden, ohne dass irgend ein befriedigendes Resultat erreicht wurde. Tausende von Zoologen und Botanikern haben sich während dieses Zeitraums tagtäglich mit der systematischen Unterscheidung und Beschreibung der Species beschäftigt, ohne sich über die Bedeutung derselben klar zu werden. Viele Hunderttausende von Thierarten und Pflanzenarten sind als "gute Arten" aufgestellt und benannt worden, ohne dass ihre Gründer die Berechtigung dazu nachweisen und die logische Begründung ihrer Unterscheidung geben konnten. Endlose Streitigkeiten über die leere Frage, ob die als Species unterschiedene Form eine "gute oder schlechte Art", eine "Species oder Varietät", eine "Subspecies der Rasse" sei, sind zwischen den "reinen Systematikern" geführt worden, ohne dass dieselben sich nach Inhalt und Umfang diser Begriffe gefragt hätten. Hätte man sich ernsthaft bemüht, über die letzteren klar zu werden, so würde man schon längst eingesehen haben, dass sie gar keine absolute Bedeutung besitzen, sondern nur Gruppenstufen oder Kategorien des Systems von relativer Bedeutung sind.

Allerdings hat im Jahre 1857 ein berühmter und geistreicher, aber sehr unzuverlässiger und dogmatischer Naturforscher, Louis Agassiz, den Versuch gemacht, jenen Kategorien eine absolute Bedeutung beizulegen. Es geschah dies in dem "Essay on classification", in welchem die Erscheinungen der organischen Natur auf den Kopf gestellt, und statt aus natürlichen Ursachen erklärt, vielmehr durch das siebenkantige Prisma theologischer Träumerei betrachtet werden. Jede "gute Art oder bona species" ist hiernach ein "verkörperter Schöpfungsgedanke Gottes". Allein diese schöne Phrase hält vor der naturphilosophischen Kritik eben so wenig Stand, wie alle anderen Versuche, den absoluten Species-Begriff zu retten. Ich glaube dies genügend in der ausführlichen Kritik des morphologischen und physiologischen Species-Begriffes und der Kategorien des Systems bewiesen zu haben, welche ich 1866 in der "Generellen Morphologie" gegeben habe (Band II, S. 323-402).

Das Dogma von der Species-Constanz ist zerstört, und die entgegengesetzte Behauptung, dass aller verschiedenen Species von gemeinsamen Stammformen abstammen, stösst auf keine ernstliche Schwierigkeiten mehr. Alle die weitschweifigen Untersuchungen über das, was die Art eigentlich ist, und wie es möglich ist, dass verschiedene Arten von einer Stammart abstammen, sind gegenwärtig dadurch zu einem völlig befriedigenden Abschluss gediehen, dass die scharfen Grenzen zwischen Species und Varietät einerseits, zwischen Species und Genus anderseits völlig aufgehoben sind. Den analytischen Beweis dafür habe ich in meiner 1872 erschienenen Monographie der Kalkschwämme22) geliefert, indem ich in dieser kleinen, aber höchst lehrreichen Thiergruppe die Variabilität aller Species auf das Genaueste untersucht und die Unmöglichkeit dogmatischer Species-Unterscheidung im Einzelnen dargethan habe. Je nachdem der Systematiker hier die Begriffe von Genus, Species und Varietät weiter oder enger fasst, kann er in der kleinen Gruppe der Kalkschwämme nur ein einziges Genus mit drei Species, oder 3 Gattungen mit 289 Arten, 21 Genera mit 111 Species, oder 39 Gattungen mit 289 Arten, oder gar 113 Genera mit 591 Species unterscheiden. Ausserdem sind aber alle diese mannigfaltigen Formen durch zahlreiche Zwischenstufen und Uebergangsformen so zusammenhängend verbunden, dass man die gemeinsame Abstammung aller Calcispongien von einer einzigen Stammform, dem Olynthus, sicher nachweisen kann.

Hierdurch glaube ich die analytische Lösung des Problems von der Entstehung der Arten gegeben und somit die Forderung derjenigen Gegner der Descendenz-Theorie erfüllt zu haben, die "im Einzelnen" die Abstammung verwandter Arten von einer Stammform nachgewiesen sehen wollten. Wem die synthetischen Beweise für die Wahrheit der Abstammungslehre nicht genügen, welche die vergleichende Anatomie und Ontogenie, die Paläontologie und Dysteleologie, die Chorologie und Systematik liefern, der mag die analytischen Beweise in der Monographie der Kalkschwämme, ein Product fünfjähriger genauester Beobachtungen, zu widerlegen suchen. Ich wiederhole: Wenn man der Descendenz-Theorie noch immer die Behauptung entgegenhält, dass die Abstammung aller Arten einer Gruppe bisher noch niemals überzeugend im Einzelnen nachgewiesen sei, so ist diese Behauptung nunmehr völlig grundlos. Die Monographie der Kalkschwämme liefert diesen analytischen Nachweis im Einzelnen wirklich, und wie ich überzeugt bin, mit unwiderleglicher Sicherheit. Jeder Naturforscher, der das umfangreiche, von mir benutzte Untersuchungs-Material durcharbeitet und meine Angaben nachuntersucht, wird finden, dass man bei den Kalkschwämmen im Stande ist, die Species Schritt für Schritt auf dem Wege ihrer Entstehung, in statu nascendi, zu verfolgen. Wenn dies aber wirklich der Fall ist, wenn wir in einer einzigen Klasse oder Familie die Abstammung aller Species von einer gemeinsamen Stammform nachzuweisen im Stande sind, dann ist auch die Frage von der Descendenz des Menschen definitiv gelöst, dann sind wir im Stande, die Abstammung des Menschen von niederen Thieren zu beweisen.

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.