Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
13. Brief
Würzburg, 11. 1. 1853.Dienstag früh.
. . . Gestern vor 8 Tagen, am Montag den 3ten, war die Stiftungsfeier der
Universität, die im Jahre 1582 von dem Stifter des Juliushospitals, Bischof
Julius Echter von Mespelbrunn, gegründet worden war. Es wurden die
Bearbeitungen der Preisaufgaben des vorigen Jahres bekannt gemacht. Die
theologische und juristische war gar nicht bearbeitet worden; die einzige
Abhandlung, welche mit einem Preise gekrönt wurde, war eine medizinische:
"Über die Lehre vom Soor des menschlichen Körpers". - Dann hielt der alte
Rektor, Dr. Hoffmann, Prof. der Philosophie, eine Rede über die "Bedeutung
der Fakultäten für die Entwicklung der Wissenschaft", die mir sehr gefallen
hat und die Du auch noch erhalten sollst. Er faßt darin hauptsächlich das
Verhältnis der Philosophie zur Theologie ins Auge und beweist, daß allein
ein auf tiefsinnigen Christianismus gegründetes System des Theismus, wie es
erst in neuester Zeit von Franz Baader (NB. Ich hatte den Namen noch nie
gehört!) mit viel Glück, aber wenig Anerkennung versucht worden sei, für die
Philosophie und die Menschheit selbst von wahrem Heil sein könne, und auch
das allein Rechte und Wahre sei. Namentlich beweist er von Anfang bis Ende
die Inkonsequenz und Nichtigkeit des Spinozismus, obwohl man den Stifter
dieser Schule selbst seine Achtung nicht versagen könne. Hegel und Fichte
sowie Schelling, selbst Kant werden auch nicht als konsequenzt und
unbefangen betrachtet. Was mich noch am meisten in der Abhandlung, die mir
ihrem größten Teile nach ganz richtig und gut zu sein scheint, frappiert
hat, ist, daß er Schleiermacher mit den oben geannten Pantheisten
zusammenstellt und ihm einen idealistischen Pantheismus (!) zuschreibt,
während er allerdings zugibt, daß die großen und bedeutenden Schüler
desselben nciht auf dem Boden des Pantheismus stehengeblieben seien, wie
auch von jenen andern Schelling selbst sich noch bis zum Theismus erhoben
habe, und dies fast von allen Schülern derselben in der Neuzeit mehr oder
weniger gelten könne. Die Haupttendenz ist, wie gesagt, Widerlegung des
Pantheismus. - . . .
Was Du mir über den Wert und die Bedeutung, über die Allmacht und den großen
Einfluß schreibst, den das Christenthum auf unsre jetzige hohe Kulturstufe
ausübt, und zu deren Erreichung es beigetragen, so bin ich damit vollkommen
einverstanden. Noch am Sonntag abend las ich in dem Hieckeschen Lesebuch für
obere Gymnasialklassen auch einen ganz vortrefflichen Aufsatz, in dem das
nämliche Thema berührt wurde. (Überhaupt enthält diese Hieckesche Sammlung
einen wahren Schatz der trefflichsten Aufsätze, die auch Dich sehr
interessieren werden, und die Du noch lesen mußt. Für Gymnasien sind sie
meiner Ansicht nach zu schwer!)
Was mein Medizinstudium anbetrifft, so werde ich tagtäglich von der
Unausführbarkeit desselben gewisser überzeugt; um mich noch einmal zu
versuchen, wohnte ich heute der chirurgischen Klinik im Hospitale bei, wo
eine Krebsgeschwulst unter der Schulter operiert wurde; ich habe nicht nur
für dieses Semester, sondern für mein ganzes Leben genug davon. - Daß es
übrigens nicht bloß Hypochondrie ist, die mich davon abhält, könnt Ihr z. B.
daraus sehen, daß in den ersten Tagen meines Hierseins im Hospitale der
Typhus herrschte und ich nicht krank geworden bin, obwohl selbst der Mann,
dessen Arm ich sezierte, am Typhus gestorben war. - Die Anatomie für sich
ist, wie gesagt, wunderschön, aber nur keine Pathologie, keine
Krankheitsgeschichten! - . . .
Gestern nachmittag habe ich bei Scherer in der medizinischen Chemie
hospitiert; im ganzen wird sie sich von der organischen, besonders von der
Anthropochemie wenig unterscheiden. Sein Vortrag ist sehr anziehend, Scherer
ist, wie auch Virchow und Kölliker, mit denen er das berühmte Würzburger
Kleeblatt bildet noch sehr jung. Alle drei stehen noch im Anfang der
Dreißiger. Und was werde ich in diesem Alter getan haben? Wahrscheinlich
nichts!
Doch bis dahin ist noch lange Zeit, und vielleicht wird doch noch etwas aus
Eurem treuen alten Jungen.
Ernst Haeckel, stud. phil.
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999