Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

24. Brief

Würzburg, 23. 5. 1853

Liebe Eltern!

Das schöne Pfingstfest habe ich auf meine Weise, d. h. traurig und fröhlich zugleich, zugebracht. Am Sonntag wollte ich in die Kirche; trotzdem ich aber schon 5 Minuten vor voll da war und noch kein Orgelton zu hören war, standen doch die Leute vor den geöffneten Türen bis auf die Straße hinaus, so daß an Hören nicht zu denken war. Dafür hörte ich den andern Morgen eine recht gute Frühpredigt. Da es so schönes Wetter war, hätte ich gar zu gern enen ordentlichen Ausflug gemacht. Meine Bekannten hatten sämtlich eine größere dreitägige Tour nach dem schönen, unterhalb gelegenen Wertheim unternommen, an der ich aus verschiedenen Gründen, schon weil es viel zu weit war, nicht teilnehmen konnte. Ich mußte mich also begnügen, in Erinnerungen an die früheren Pfingstferien zu schwelgen, die ich immer in schönen Gegenden verbracht hatte, namentlich die vor 2 Jahren, wo ich mit Karl in Koburg war. Die schöne Sonne, welche nach vielen Regentagen zum erstenmal wieder im ganzen Glanze erschien, lockte mich aber doch gar zu sehr hinaus, und so entschloß ich mich, auf eigne Faust in den 1 Stunde entfernten Zeller Wald zu wandern. Schon auf dem Hinweg hatte ich einen großen Triumpf; ich fand nämlich an einer alten Weinbergsmauer ein seltnes, merkwürdiges Farrenkraut, Ceterach officinarum, für das bisher nur ein einziger unsicherer Standort in der hiesigen Flora bekannt war. Auf der Höhe vor dem Wald hat man eine herrliche Aussicht auf das ganze Maintal mit Stadt und Festung. Leider konnte ich nicht zeichnen, da es sehr windig war. Im Walde drin war es ganz herrlich, so windstill und ruhig und doch so sonnig und wonnig unter den schönen alten Buchen, daß ich mir aus schönem Moos (wovon ein Exemplar beiliegt) am Fuße eines uralten Baums ein förmliches Lager bereitete - dann - (hört! hört!), mir selbst sehr komisch vorkommend, mit wahrem innigen Vergnügen ein paar Bücher "Odyssee" im Urtext las! Von Zeit zu Zeit streckte ich mich dann recht träumerisch aus und dachte mit inniger Sehnsucht an meine fernen Lieben. Jetzt wurde mir aber auch recht schmerzlich klar, wie sehr mir ein intimer Freund fehlt, dem ich so recht mein Inneres erschließen könnte. Es gehört auch mit zu meinem Pech, daß ich wohl nie so einen finden werde. Ich kenne hier zwar viele sehr nette Leute; diese bilden aber einen abgeschlossenen Kreis für sich, in den ich wohl kurioses Kraut nicht eintreten kann und darf. Daß dieses schmerzliche Entbehren nicht an mir liegt, könnt Ihr daraus entnehmen, daß ich wirklich ganz ernstlich darauf ausgehe, mir einen Herzensfreund zu erjagen, fast wie Diogenes mit der Laterne. Doch was kohle ich da wieder für ein Zeug; lieber zu unserm Wald zurück, der wirklich ganz herrlich war, und indem es mir (wirklich fast sentimental und graulich) bei Vogelgesang und Windesrauschen so herrlich wohl gefiel, daß ich erst spät am Abend mich davon trennen konnte und mit meiner Trommel voll schönem Efeu, mit dem ich dann Humboldts Bild bekränzte, am Main nach Hause wanderte und mich noch am Anblick eines ganz mit Studenten bepflanzten Dampfschiffes ergötzte, die eine Tour gemacht hatten. Solche kleinen Dampfschifftouren wurden an den Feiertagen mehrere und werden, wie ich höre, den ganzen Sommer hindurch an jedem schönen Sonn- und Feiertag (deren es wöchentlich 1-2 gibt!) von geschlossenen Gesellschaften und publice unternommen, und zwar sowohl von dem sehr vergnügungssüchtigen Volk als von den nicht minder ihr Leben genießenden Studenten. Auch ich nahm am 2ten Feiertag mittag mehr spaßeshalber als aus wahrer Lust (da ich ja allein war) an einer solchen teil und fuhr um 2 Uhr auf einem mit Blumen und Fahnen geschmückten Dampfer, dem bald zwei andere nachfolgten, den Main hinunter nach dem 1 1/2 Stunden entfernten Veitshöchheim. Die Fahrt selbst auf den mannichfachen Windungen des Mains, abwechselnd zwischen Rebenhügeln und Wäldchen hin, machte mir viel Freude und erinnerte mich sehr an unsere letzte Rheinreise, wo ich zum letztenmal auf einem Dampfschiffe gefahren war. Am Bestimmungsort angelangt, stürzte alles sogleich in den fürstlichen Park, von dem mir meine Wirtin nicht genug hatte erzählen und vormalen können, wie herrlich und prächtig es dort sei. Ich hatte schon an einem einzigen Blick genug, als ich, kaum eingetreten, vor mir eine lange Allee von grauenhaft verstümmelten Buchen sah, die eine wie die andere zu regelmäßig vierseitigen Pyramiden zugestutzt waren. Als ich nun vollends sah und hörte, wie sowohl die "haute volée" als das "profanum vulgus" von Würzburg in den tönendsten Phrasen laut diese greulichen altfranzösischen Geschmacklosigkeiten, steinernen Liebesgötter, verschnittenen Buchsbaumfiguren, chinesische Pavillons usw. bewunderte, machte ich sogleich linksum kehrt und lief schnurstracks in den 3/4 Stunden entfernten Edelmannswald, einen berühmten botanischen Standort, wo ich zwar keine Menschen (leider!?), aber desto herrlichere Waldbäume fand, zwischen denen ich mich ein paar Stunden planlos herumtrieb. So kam ich auch unvermutet auf eine kahle Waldecke, von der aus man einen herrlichen Blick das ganze Maintal hinunter hat, der mir sehr überraschend war. Es standen zwar schöne, seltne, auch neue Pflanzen dort, aber alles noch nicht blühend, da die ganze Vegetation wenigstens 3-4 Wochen zurück ist wegen der großen Kälte. Um 7 Uhr trat ich die Rückfahrt an, auf welcher mir das Beobachten des bier- und liebeseligen Volks, das in dem "harrlich kunstboren" Garten seine südlichen Gefühle noch um einige Prozent erhöht hatte, viel Spaß machte. Da alles, vom Kapitän bis auf den Heizer hinunter, ziemlich stark angesäuselt war, so kamen wir erst sehr spät nach Würzburg, unter fortwährendem Böllerschießen, Schreien, Jubeln, Jauchzen, Singen und grauenhafter Produktion einer Musikbande, die den ganzen Vormittag ihre Talente hatte spielen lassen. So oft sich ein paar Menschen am Ufer oder eine lustige Dorfgesellschaft zeigte, schrie die ganze, mehrere hundert Personen starke Schiffsgesellschaft laut ein "Vivat hoch!" hinüber, wehte mit den Tüchern und ließ sich von den Dorfmusikanten mit einem Tusch antworten. Obgleich ich auf der ganzen Fahrt kein bekanntes Gesicht sah und kein Wort sprach, machte sie mir doch bei dem herrlichen Wetter viel Freude. Nun folgte bis gestern aber wieder ein wahrhaft sündflutliches Regenwetter, das nur an einem Tage aussetzte. An diesem machte ich solo eine Exkursion über die nördlichen Weinberge nach Versbach, wobei ich die schöne Traubenhyazinthe (Muscari racemosum ), die wir in unsern Gärten hatten, blühend fand, nach einem schönen Moose aber vergeblich suchte. Sonst ist mir diese Woche sehr still und einsam vergangen . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999