Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern

87. Brief

Würzburg, 17. 7. 1856.

Liebste Eltern!

. . . Gott sei Dank, daß es unserer lieben Mama etwas besser geht. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr mich der Gedanke an sie, namentlich an die gegründete Befürchtung, sie in den Händes eines schauderhaften Scharlatans zu wissen, mich Tag und Nacht gequält und geängstigt hat. Dieser eine qualvolle Gedanke ließ fast keine andern aufkommen und hat wenigstens das Gute gehabt, daß ich darüber mehrere sehr unangenehme Nachrichten, die mich dieser Tage getroffen, fast gar nicht berücksichtigt habe. Hätte mir Euer heutiger Brief nicht endlich die Nachricht gebracht, daß der Esel von Doktor endlich zu China übergegangen sei, so hätte ich ihm einen Brief präpariert, aus der er die Wahrheit in etwas bitterer Weise Wort für Wort hätte ablecken können. Eine solche Handlungsweise im Jahre 1856 ist wirklich unerhört und verdient, daß man sie als abschreckendes Beispiel bekannt machte. Der Kerl hat mich so gewurmt, daß ich ihn vor bitterem Haß und Ärger hätte durchhauen können . . .

Wenn Du, lieber Vater, in M. einen so liebenswürdigen Mann mit übereinstimmenden Ansichten zu finden glaubst, so hüte Dich wohl und bedenke, daß diese Menschen wie die Hofleute oder die Gummischuhe oder vielmehr wie die Guttapercha-Köpfe auf den Weinstöpseln sind, denen man nach Belieben eine passende Gestalt geben kann, und die lediglich nach der gewünschten Pfeife tanzen! Ist er bei Dir, so schwärmt er für Liberalismus, und im nächsten Augenblick preist er bei einem Junker den Absolutismus, während er einen Augenblick vorher bei einem Demokraten für die rote Republik schwärmte! Diese schlappschwänzigen, glatten, polierten Leute von der "feinen Bildung" sind mir in den Tod zuwider! . . .

Ich meinerseits habe dieser Tage oft meinem Gott gedankt, daß er mich selbst hat Medizin studieren lassen, so daß ich wenigstens nicht selbst als unschuldiges Schlachtopfer unter die pfuscherischen Hände eines solchen Quacksalbers kommen werde und meine Lieben wenigstens davor etwas hüten und warnen kann. -

. . . Nun, der liebe Gott möge alles zum Besten lenken und das wieder gut zu machen suchen, was die Menschen sich zu verderben bemühen. Hoffentlich bringt er dich, mein liebstes Mutterchen, bald ganz gesund und munter als meine alte, liebe Alte in meine Arme! . . .

Mit Virchow stehe ich mich gegenwärtig recht gut. Wir scheinen uns allmählich etwas aneinander zu gewöhnen. Übermorgen geben wir ihm ein großes Abschiedsfest. Beckmann wird immer liebenswürdiger und ist wirklich ein ganz prächtiger Mensch. Mein ganzes körperliches Vergnügen ist jetzt das Schwimmen, was ich fast mit exzessiver Leidenschaft treibe. Vorgestern habe ich z. B. über eine Stunde im Main herumgetollt, bis ich ganz matt und geschlagen, so recht totmüde war. Dann ist mir immer so recht wohl und gut zumut . . .




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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999