Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie.
von
Ernst Haeckel
Professor an der Universität Jena.
Volks-Ausgabe
171.-180. Tausend
Mit einem Nachworte: Das Glaubensbekenntniß der Reinen Vernunft.
Alfred Kröner Verlag in Stuttgart.
Pieter'sche Hofbuchdruckerei Stephan Seibel & Co. in Altenburg.
Vorwort zur ersten Auflage
(1899)
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Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts, an dessen Ende wir stehen, gehört das lebendige Wachstum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits durch die ungeheuren Fortschritte der wirklichen Natur-Erkenntniß in diesem merkwürdigsten Abschnitte der menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der "Offenbarung" gerathen ist, und endlich durch die entsprechende Ausbreitung und Verstärkung des vernünftigen Bedürfnisses nach Verständniß der unzähligen neu entdeckten Thatsachen, nach klarer Erkenntniß ihrer Ursachen.
Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unseren "Jahrhundert der Naturwissenschaft" entspricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretischen Verständnisses und jene höhere Erkenntniß des kausalen Zusammenhanges aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und größtentheils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als "Philosophie" gelehrt wird, weit davon entfernt ist, jene neu erworbenen Schätze der Erfahrungswissenschaft in sich aufzunehmen. Und mit gleichem Bedauern müssen wir auf der anderen Seite zugestehen, daß die meisten Vertreter der sogenannten"exakten Naturwissenschaft" sich mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beobachtung und des Versuchs begnügen und die tiefere Erkenntniß des allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinungen - d. h. eben Philosophie! - für überflüssig halten. Während diese reinen Empiriker "den Wald vor Bäumen nicht sehen", begnügen sich jene Metaphysiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne seine Bäume zu sehen. Der Begriff der "Naturphilosophie", in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforschung, die empirische und die spekulative Methode, zusammenlaufen, wird sogar noch heute in weiten Kreisen beider Richtungen mit Abscheu zurückgewiesen.
Dieser unnatürliche und verderbliche Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, zwischen den Ergebnissen der Erfahrung und des Denkens, wird unstreitig in weiten gebildeten Kreisen immer lebhafter und schmerzlicher empfunden. Das bezeugt schon der wachsende Umfang der ungeheuren populären "naturphilosophischen" Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entstanden ist. Das bezeugt auch die erfreuliche Thatsache, daß trotz jener gegenseitigen Abneigung der beobachtenden Naturforscher und der denkenden Philosophen dennoch hervorragende Männer der Wissenschaft aus beiden Lagern sich gegenseitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Lösung jener höchsten Aufgabe der Forschung streben, die wir kurz mit einem Worte als "die Welträthsel" bezeichnen.
Die Untersuchungen über diese "Welträthsel", welche in in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftiger Weise nicht den Anspruch erheben, eine vollständige Lösung derselben zu bringen; vielmehr sollen sie nur eine kritische Beleuchtung derselben für weitere gebildete Kreise geben und die Frage zu beantworten suche, wie weit wir uns gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche Stufe der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach diesem unendliche entfernten Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?
Die Antwort auf diese großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur subjektiv und nur theilweise richtig sein; denn meine Kenntnisse der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Wesens sind beschränkt, ebenso wie diejenigen aller anderen Menschen. Das Einzige, was ich für dieselben voll in Anspruch nehme, und was auch meine entschiedensten Gegner anerkennen müssen, ist, daß meine monistische Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d. h. der vollständige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch unablässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erscheinungen erworben habe. Diese naturphilosophische Gedankenarbeite erstreckt sich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß sie reif im menschlichen Sinne ist; ich bin auch völlig gewiß, daß diese "reife Frucht" vom Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daseins, die mir noch beschieden ist, keine bedeutende Vervollkommnung und keine prinzipiellen Veränderungen erfahren wird.
Alle wesentlichen und entscheidenden Anschauungen meiner monistischen und genetischen Philosophie habe ich schon vor 33 Jahren in meiner "Generellen Morphologie der Organismen" niedergelegt, einem weitschweifigen und schwerfällig geschriebenen Werke, welches nur sehr wenige Leser gefunden hat. Es war der erste Versuch, die neubegründete Entwickelungslehre für das ganze Gebiet der organischen Formen-Wissenschaft durchzuführen. Um wenigstens einen Theil der neuen, darin enthaltenen Gedanken zur Geltung zu bringen und um zugleich einen weiteren Kreis von Gebildeten für die größten Erkenntnißfortschritte unseres Jahrhunderts zu interessiren, veröffentlichte ich zwei Jahre später (1868) meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte". Da dieses leichter geschürzte Werk trotz seiner großen Mängel in neun starken Auflagen und zwölf verschiedenen Uebersetzungen erschien, hat es nicht wenig zur Verbreitung der monistischen Weltanschauung beigetragen. Dasselbe gilt auch wohl von der weniger gelesenen "Anthropogenie", in welcher ich (1874) die schwierige Aufgabe zu lösen versuchte, die wichtigsten Thatsachen der menschlichen Entwickelungsgeschichte einem größeren Kreise von Gebildeten zugänglich und verständlich zu machen; die vierte, umgearbeitete Auflage derselben erschien 1891. Einige bedeutende und besonders werthvolle Fortschritte, welche neuerdings dieser wichtigste Theil der Anthropogenie gemacht hat, habe ich in den Vortrage beleuchtet, den ich 1898 "Über unsere gegenwärtige Kenntniß vom Ursprung des Menschen" auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten habe (siebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen unserer modernen Naturphilosophie, die ein besonderes Interesse bieten, habe ich behandelt in meinen "Gesammelten populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre" (1878). Endlich habe ich die allgemeinsten Grundsätze meiner monistischen Philosophie und ihre besondere Beziehung zu den herrschenden Glaubenslehren kurz zusammengefaßt in dem "Glaubensbekenntniß eines Naturforschers: "Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" (1892, achte Auflage 1899).
Die vorliegende Schrift über die "Welträthsel" ist die weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Ueberzeugungen, welche ich in den vorstehend angeführten Schriftten bereits ein Menschenalter hindurch vertreten habe. Ich gedenke damit meine Studien auf dem Gebiete der monistischen Weltanschauung abzuschließen.
Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes "System der monistischen Philosophie" auf Grund der Entwickelungslehre auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht mehr aus, und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters drängen zum Abschluß. Auch ich bin ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit dessen Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.
Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menschliche Wissen in Folge fortgeschrittener Arbeitsteilung in unserem Jahrhundert erlangt hat, läßt es schon heute unmöglich erscheinen, alle Zweige desselben mit gleicher Gründlichkeit zu umfassen und ihren inneren Zusammenhang einheitlich darzustellen. Selbst ein Genius ersten Ranges, der alle Gebiete der Wissenschaft gleichmäßig beherrschte, und der die künstlerische Gabe ihrer einheitlichen Darstellung in vollem Maße besäße, würde doch nicht im Stande sein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfassendes allgemeines Bild des ganzen "Kosmos" auszuführen. Mir selbst, dessen Kenntnisse in den verschiedenen Gebieten sehr ungleich und lückenhaft sind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines solchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Einheit seiner Teile nachzuweisen, trotz sehr ungleicher Ausführung derselben. Das vorliegende Buch über die Welträthsel trägt daher auch nur den Charakter eines "Skizzenbuches", in welchem Studien von sehr ungleichen Werthe zu einem Ganzen zusammengefügt sind. Da die Niederschrift derselben zum Theil schon in früheren Jahren, zum anderen Theil aber erst in der letzten Zeit erfolgte, ist die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch sind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden gewesen; ich bitte dieselben zu entschuldigen.
Indem ich hiermit von meinen Lesern mich verabschiede, spreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewissenhafte Arbeit - trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel - ein kleines Scherflein zur Lösung der "Welträthsel" beigetragen habe, und daß ich im Kampfe der Weltanschauungen manchem ehrlichen und nach reiner Vernunft-Erkenntniß ringenden Leser denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner festen Ueberzeugung allein zur Wahrheit führt, den Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Philosophie.
Jena, am Ostersonntage, 2. April 1899.
Ernst Haeckel
Inhalt
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I. Anthropologischer Theil:
Der Mensche.
1. Stellung der Welträthsel
2. Unser Körperbau
3. Unser Leben
4. Unsere Keimesgeschichte
5. Unsere Stammesgeschichte
II. Psychologischer Theil:
Die Seele.
6. Das Wesen der Seele
7. Stufenleiter der Seele
8. Keimesgeschichte der Seele
9. Stammesgeschichte der Seele
10. Bewußtsein der Seele
11. Unsterblichkeit der Seele
III. Kosmologischer Theil:
Die Welt.
12. Das Substanz-Gesetz
13. Entwickelungsgeschichte der Welt
14. Einheit der Natur
15. Gott und Welt
IV. Theologischer Theil:
Der Gott.
16. Wissen und Glauben
17. Wissenschaft und Christentum
18. Unsere monistische Religion
19. Unsere monistische Sittenlehre
20. Lösung der Welträthsel
Anmerkungen und Erläuterungen
Nachwort: Das Glaubensbekenntniß der Reinen Vernunft
Erstes Kapitel.
Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanschauungen. Monismus und Dualismus.
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Inhalt: Stand der menschlichen Kultur und Weltanschauung am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Fortschritte der Natur-Erkenntniß, der organischen und anorganischen Naturwissenschaft. Substanz-Gesetz und Entwickelungs-Gesetz. Fortschritte der Technik und der angewandten Chemie. Stillstand auf anderen Kultur-Gebieten: Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Anthropismus. Kosmologische Perspektive. Kosmologische Lehrsätze. Widerlegung des anthropistischen Größenwahns. Zahl der Welträthsel. Kritik der sieben 'Welträthsel. Wege zu ihrer Lösung. Thätigkeit der Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Philosophie und Naturwissenschaft. Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.
Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute stehen, bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele. Alle Gebildeten sind sich darüber einig, daß dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem Anfange unlösbar schienen. Nicht die überraschenden theoretischen Fortschritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß, sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwerthung in Technik, Industrie, Verkehr u. s. w. haben unserem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Konflikte entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und socialem Gebiete. Es erscheint daher nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Ueberzeugung nur durch muthiges Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.
Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereich der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akustik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität, in der Mechanik und Wärmelehre die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und, was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische Wärme-Theorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusamenhängen, und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner zusammensetzen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewisen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von "Werden und Vergehen". Die Chemie hat uns mit einer Masse von neuen früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr siebzig) bestehen, und die zum Theil die größte praktische Bedeutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat uns gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die "chemische Basis des Lebens" darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen aber in theoretischer Bedeutung der Erkenntniß des gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanz-Gesetzes. Indem dieses "kosmologische Grundgesetz" die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträthsel zu deren Lösung führt.
Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Uebersicht über den jetzigen Stand unserer Natur-Erkenntniß und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Substanz-Gesetz ebenbürtig ist und welcher dasselbe ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von "Entwickelung" der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universun beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist, als eine ewige "Entwickelung der Substanz", dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind unseres 19. Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur "Frage aller Fragen" geschenkt, zu den großen Welträthsel von der "Stellung des Menschen in der Natur" und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande sind, die Herrschaft des Entwickelungs-Gesetzes - und zwar der "monistischen Genesis!" - im Gesammtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanz-Gesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen Naturphilosophen; sie leuchten uns deshalb als drei Sterne erster Größe unter allen anderen großen Männern unseres Jahrhunderts.
Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Natur-Erkenntniß entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im "Zeitalter des Verkehrs" stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittelst Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den technischen Fortschritten der Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serum-Therapie die Leider der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie sehr wir durch diese und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt haben, ist so allbekannt, dajß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Aether vertheilt sind, unterliegen sämmtlich dem Substanz-Gesetz; während in einem Theile des Universum die rotirenden Weltkörper langsam ihrer Rückbildung und ihrem Untergang entgegen gehen, erfolgt in einem andern Theile des Weltraums Neubildung und Fortentwickelung. 5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungs-Prozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8. Unter den verschiedenen Thier-Stämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Processes auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbelthiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendste Zweig des Wirbelthier-Stammes hat sich erst spät (während der Trias-Periode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klasse der Säugethiere entwickelt. 10. Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die Ordnung der Herrenthiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiär-Zeit (von mindestens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niedersten Zottenthieren (Prochoriaten) entstanden ist. 11. Das jüngste und vollkommenste Aestchen des Primaten-Zweiges ist der Mensch, der erst gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von Menschen-Affen hervorgegangen ist. 12. Demnach ist die sogenannte "Weltgeschichte" - d. h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte des Menschen abgespielt hat, eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planeten-Systems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen organischen Natur.
Nichts scheint mit geeigneter als diese großartige kosmologische Perspektive, um von vornherein den richtigen Maßstab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur Lösung der großen, uns umgebenden Welträthsel einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die maßgebende "Stellung des Menschen in der Natur" klar bewiesen, sondern auch der herrschende anthropistische Größenwahn" widerlegt, die Anmaßung, mit der der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Theil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eitlen Menschen hat ihn dazu verführt, sich als "Ebenbild Gottes" zu betrachten, für seine vergängliche Person ein "ewiges Leben" in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte "Freiheit des Willens" besitzt. Der lächerliche Cäsaren-Wahn des Caligula ist eine spezielle Form dieser hochmüthigen Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn aufgeben und die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen, können wir zur Lösung der "Welträthsel" gelangen). (Vergl. Anm. 1, S. 156).
Da mein Monismus sich von demjenigen des Berliner Rhetors wesentlich unterscheidet, da aber andererseits seine Auffassung der "sieben Welträthsel" großen Beifall in weiten Kreisen gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vornheren zu denselben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner Ansicht werden die drei "transscendenten" Räthsel (I, II, V) durch unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind durch unsere moderne Entwickelungslehre endgültig gelöst; das siebente und letzte Welträthsel, die Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unser größter idealistischer Dichter, Schiller, den beiden streitenden Heeren, den Philosophen und Naturforschern zu:
"Feindschaft sei zwischen Euch!
"Noch kommt das Bündniß zu frühe!
"Wenn Ihr im Suchen Euch trennt,
"Wird erst die Wahrheit erkannt!"
Seitdem hat sich das Verhältniß zum Glück gründlich geändert; indem beide Heere auf verschiedenen Wegen nach demselben höchsten Ziele strebten, haben sie sich in demselben zusammengefunden und nähern sich im gemeinsamen Bunde immer mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir sind jetzt am Ende des Jahrhunderts zu jener monistischen Erkenntniß-Methode zurückgekehrt, welche schon an dessen Anfang von unserm größten realistischen Dichter, Goethe, als die einzig naturgemäße anerkannt war.
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Monistische Studien über menschliche und vergleichende Anatomie. Uebereinstimmung in der gröberen und feineren Organisation des Menschen und der Säugethiere.
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Inhalt: Grundlegende Bedeutung der Anatomie. Menschliche Anatomie. Hippokrates. Aristoteles. Galenus. Vesalius. Vergleichende Anatomie. Schleiden und Schwann. Kölliker. Virchow. Wirbelthier-Natur des Menschen. Tetrapoden-Natur des Menschen. Säugethier-Natur des Menschen. Placentalien-Natur des Menschen. Primaten-Natur des Menschen. Halbaffen und Affen. Katarrhinen. Papiomorphen und Anthropomorphen. Wesentliche Gleichheit im Körperbau des Menschen und der Menschenaffen.
Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die Gestaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächst den sichtbaren Körper ins Auge zu fassen, an welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen Erscheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gild ebenso für den Menschen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie muß in das Innere derselben eindringen und ihre feineren Bestandtheilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende Untersuchung im weitesten Umfange auszuführen hat, ist die Anatomie.
Das Emporblühen des Christentums und der damit verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die römischen Päpste, die größten Gaukler der Weltgeschichte, waren vor Allem bestrebt, die Menschheit in Unwissenheit zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menschlichen Organismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unser wahres Wesen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus fast die einzige Quelle für die menschliche Anatomie, ebenso wie diejenigen des Aristoteles für die gesammte Naturgeschichte. Erst als im sechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Reformation die geistige Weltherrschaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltsystem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geocentrischen Weltanschauung zerstört wurde, begann auch für die Erkenntniß des menschlichen Körpers eine neue Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesalius (aus Brüssel), Eustachius und Fallopius (aus Modena) förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die genaue Kenntniß unseres Körperbaues so sehr, daß ihren zahlreichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältnisse hauptsächlich nur Einzelheiten festzustellen übrig blieben. Der ebenso kühne als geistreiche und unermüdliche Andreas Vesalius (dessen Familie, wie der Name sagt, aus Wesel stammte) ging bahnbrechend Allen voran; er vollendete schon in seinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk "De humani corporis fabrica", 1543; er gab der ganzen menschlichen Anatomie eine neue, selbstständige Richtung und sichere Grundlage. Dafür wurde Vesalius später in Madrid - wo er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war - von der Inquisition als Zauberer zum Tode verurtheilt. Er rettete sich nur dadurch, daß er eine Reise nach Jerusalem antrat; auf der Rückreise erlitt er bei der Insel Zante Schiffbruch und starb hier im Elend, krank und aller Mittel beraubt.
Gewebelehre (Histologie) und Zellenlehre (Cytologie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende, entwickelte sich im Laufe unseres Jahrhunderts die mikroskopische Anatomie. Schon im Anfange desselben (1802) unternahm ein französicher Arzt, Bichat, den Versuch, mittels des Mikroskopes die Organe des menschlichen Körpers in ihre einzelnen feineren Bestandtheile zu zerlegen und die Beziehungen dieser verschiedenen Gewebe (Hista oder Tela) festzustellen. Aber dieser erste Versuch führte nicht weit, da ihm das gemeinsame Element für die zahlreichen, verschiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erst 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schleiden (in Jena) entdeckt und gleich darauf auch für die Thiere von Theodor Schwann nachgewiesen, dem Schüler und Assistenten von Johannes Müller in Berlin. Zwei andere berühmte Schüler dieses großen und bahnbrechenden Meisters, Albert Kölliker und Rudolf Virchow, führten dann im sechsten Decennium des 19. Jahrhunderts (in Würzburg) die Zellentheorie und die darauf gegründete Gewebelehre für den gesunden und kranken Organismus des Menschen im Einzelnen durch; sie wiesen nach, daß auch im Menschen, wie in allen anderen Thieren, alle Gewebe sich aus den gleichen mikroskopischen Formbestandtheilen, den Zellen, zusammensetzen, und daß diese "Elementar-Organismen" die wahren, selbstthätigen Staatsbürger sind, die zu Milliarden vereinigt, unsern Körper, den "Zellenstaat", aufbauen. Alle diese Zellen entstehen durch oft wiederholte Theilung aus einer einzigen, einfachen Zelle, aus der "Stammzelle" oder "befruchteten Eizelle" (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zusammensetzung der Gewebe ist beim Menschen dieselbe wie bei den übrigen Wirbelthieren. Unter diesen zeichnen sich die Säugethiere, die jüngste und höchst entwickelte Klasse, durch gewisse besondere, spät erworbene Eigenthümlichkeiten aus. So ist z. B. die mikroskopische Bildung der Haare, der Hautdrüsen, der Milchdrüsen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz eigenthümlich und verschieden von derjenigen der übrigen Vertebraten; der Mensch ist auch in allen diesen feinsten histologischen Beziehungen ein echtes Säugethier.
Die mikroskopischen Forschungen von Albert Kölliker und Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten nicht nur unsere Kenntniß vom feineren Körperbau des Menschen und der Thiere nach allen Richtungen, sondern sie wurden auch besonders wichtig durch die Verbindung mit der Entwickelungsgeschichte der Zelle und der Gewebe; sie bestätigen namentlich die wichtige Theorie von Carl Theodor Siebold (1845), daß die niedrigsten Thiere, die Infusorien und Rhizopoden, einzellige Organismen sind.
Die gleiche Erscheinung zeigt sich nun auch, wenn wir die übrigen Organe unseres Körpers mit denen der anderen Wirbelthiere vergleichen: überall bleibt in Folge der Vererbung die ursprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieselbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Theile höchst mannigfaltig sich sondert, entsprechend der Anpassung an sehr verschiedene Lebensbedingungen. So sehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreist, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Principalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz bestimmten Stelle das Herz entsteht; dieses "Ventral-Herz" ist für alle Wirbelthiere ebenso charakteristisch wie umgekehrt das Rückengefäß oder "Dorsal-Herz" für die Gliederthiere und Weichthiere. Nicht minder eigenthümlich ist bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Atmung dienenden Kopfdarm (oder "Kiemendarm") und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher "Leberdarm"); ferner die Gliederung des Muskelsystems, die besondere Bildung der Harn- und Geschlechtsorgane u. s. w. In allen diesen anatomischen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Wirbelthier.
Diese anatomische Einheit des verwickelten Knochengerüstes in den vier Gliedmaßen allen Tetrapoden ist sehr wichtig. Um sich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Frosches mit demjenigen eines Affen oder Menschen aufmerksam zu vergleichen. Da sieht man sofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denselben Hauptstücken zusammengesetzt ist wie bei den übrigen "Vierfüßern". Ueberall sehen wir, daß das erste Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen starken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, Humerus; hinten den Obeschenkel, Femur); dagegen wird das zweite Glied ursprünglich stets durch zwei Knochen gestützt (vorn Ellbogen, Ulna, und Speiche, Radius; hinten Wadenbein, Fibula, und Schienbein, Tibia). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, so überrascht uns die Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denselben zusammensetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und gesondert sind; vorn entsprechen sich in allen Klassen der Tetrapoden die drei Knochengruppen des Vorderfußes (oder der "Hand"): I. Handwurzel (Carpus), II. Mittelhand (Metacarpus) und III. fünf Finger (Digiti anteriores); ebenso hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I. Fußwurzel (Tarsus), II. Mittelfuß (Metatarsus) und III. fünf Zehen (Digiti posteriores). Sehr schwierig war die Aufgabe, alle diese zahlreichen kleinen Knochen, die im Einzelnen höchst mannigfaltig gestaltet und umgebildet, theilweise oft verschmolzen oder verschwunden sind, auf eine und dieselbe Urform zurückzuführen, sowie die Gleichwerthigkeit (oder Homologie) der einzelnen Theile überall festzustellen. Diese wichtige Aufgabe wurde erst vollständig von dem bedeutendsten vergleichenden Anatomen der Gegenwart gelöst, von Carl Gegenbaur. Er zeigte in seinen "Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere" (1864), wie diese charakteristische "fünfzehige Beinform" der landbewohnenden Tetrapoden ursprünglich (erst in der Steinkohlenperiode) aus der vielstrahligen "Flosse" (Brustflosse oder Bauchflosse) der älteren, wasserbewohnenden Fische entstanden ist. In gleicher Weise hatte Derselbe in seinen berühmten "Untersuchungen über das Kopfskelett der Wirbelthiere" (1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteren Schädelform der Fische abgeleitet, derjenigen der Haifische (Selachier).
Besonders bemerkenswert ist noch, daß die ursprüngliche, zuerst bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entstandene Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen - die Pentadactylie - sich in Folge strenger Vererbung noch beim Menschen bis auf den heutigen Tag conservirt hat. Selbstverständlich ist dem entsprechend auch die typische Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Hauptsache dieselbe geblieben wie bei den übrigen "Vierfüßern"; auch in diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echter Tetrapode.
Die vergleichende Anatomie ergiebt somit für den unbefangenen und kritischen Forscher die bedeutungsvolle Thatsache, daß der Körperbau des Menschen und der Menschenaffen nicht nur im höchsten Grade ähnlich, sondern in allen wesentlichen Beziehungen derselbe ist. Dieselben 200 Knochen, in der gleichen Anordnung und Zusammensetzung, bilden unser inneres Knochengerüst; dieselben 300 Muskeln bewirken unsere Bewegungen; dieselben Haare bedecken unsere Haut; dieselben Gruppen von Ganglienzellen setzen den kunstvollen Wunderbau unseres Gehirns zusammen; dasselbe vierkammerige Herz ist das centrale Pumpwerk unseres Blutkreislaufs; dieselben 32 Zähne setzen in der gleichen Anordnung unser Gebiß zusammen; dieselben Speicheldrüsen, Leber- und Darmdrüsen vermitteln unsere Verdauung; dieselben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die Erhaltung unseres Geschlechts.
Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewisse geringe Unterschiede in der Größe und Gestalt der meisten Organe zwischen dem Menschen und Menschenaffen; allein dieselben oder ähnliche Unterschiede entdecken wir auch bei der sorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menschenrassen, ja sogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen Individuen unserer eigenen Rasse. Wir finden nicht zwei Personen in derselben, welche ganz genau dieselbe Größe und Form der Nase, der Ohren, der Augen u. s. w. haben. Man braucht bloß aufmerksam in einer größeren Gesellschaft diese einzelnen Theile der menschlichen Gesichtsbildung bei zahlreichen Personen zu vergleichen, um sich von der erstaunlichen Mannigfaltigkeit in deren specieller Gestaltung, von der weitgehenden Variabilität der Species-Form zu überzeugen. Oft sind ja bekanntlich selbst Geschwister von so verschiedener Körperbildung, daß ihre Abstammung von einem und demselben Elternpaare kaum glaublich erscheint. Alle diese individuellen Unterschiede beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körperbau; denn sie sind nur bedingt durch geringe Verschiedenheiten in Wachsthum der einzelnen Theile.
Drittes Kapitel.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende Physiologie. Uebereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen und der Säugethiere.
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Inhalt: Entwickelung der Physiologie im Alterthum und Mittelalter. Galenus. Experiment und Vivisektion. Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus): Haller. Teleologische und vitalistische Auffassung des Lebens. Mechanistische und monistische Beurtheilung der physiologischen Prozesse. Vergleichende Physiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller. Cellular-Physiologie: Max Verworn. Cellular-Pathologie: Virchow. Säugethier-Physiologie. Uebereinstimmung aller Lebensthätigkeiten beim Menschen und Affen.
Unsere Kenntniß vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbstständigen, wirklichen Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu einem der vornehmsten, interessantesten und wichtigsten Wissenzweige entwickelt. Diese "Lehre von den Lebensthätigkeiten", die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als diese letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierigkeiten stieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegensatz zum Tode, ist natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den "todten" Naturkörpern fehlten: selbstständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. s. w. Allein die Unterscheidung solcher "organischen Bewegungen" von ähnlichen Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich, daß der naive Naturmensch auch diesen "todten Körpern" ein selbstständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen konnte man sich ja bei den letzteren ebenso wenig befriedigende Rechenschaft geben als bei den ersteren.
Der Ruhm, alle diese zerstreuten Kenntnisse zusammengefaßt und den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus, demselben, den wir auch als den ersten großen Anatomen des Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 15). Bei seinen Untersuchungen über die Organe des menschlichen Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren Lebensthätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr ervergleichend und untersuchte vor Allem die menschenähnlichen Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er erkannte auch bereits den hohen Werth des physiologischen Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühlsseligen Gemüthsmenschen vielfach auf das Heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Methoden der Lebens-Forschung und haben uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben; diese Thatsache wurde schon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder "Spiritus". Das Pneuma psychicon - die "Seele" - hat ihren Sitz in Gehirn und den Nerven, sie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon - das "Herz" - bewirkt die "sphygmischen Funktionen", den Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der sogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoffwechsels, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dabei legte er besonderes Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es dereinst gelingen werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandtheil auszuscheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen, ehe dieses Respirations-Pneuma - der Sauerstoff - durch Lavoisier entdeckt wurde.
Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch für seine Physiologie das großartige System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureus, die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christenthums bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten der Naturerkenntniß die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte, selbstständig wieder die Lebensthätigkeiten des Menschen zu untersuchen und über den Bezirk des Systems von Galenus hinauszugehen. Erst im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von angesehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelsus, Servetus, Vesalius u. A.). Aber erst im Jahre 1628 veröffentliche der englische Arzt Harvey seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige, unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle unablässig durch das kommunicirende Röhrensystem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's Untersuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren er den berühmten Satz aufstellte: "Alles Lebendige entwickelt sich aus einem Ei" (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen Werke "Elementa physiologiae" begründete er den selbstständigen Werth dieser Wisserschaft und nicht nur in ihrer Beziehung zur praktischen Medicin. Indem aber Haller für die Nerven-Thätigkeit eine besondere "Empfindungskraft oder Sensibilität" und ebenso für die Muskelbewegung eine besondere "Reizbarkeit oder Irritabilität" als Ursache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigenthümlichen "Lebenskraft" (Vis vitalis). (Vergl. Anm. 2, S. 157.)
Die werthvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes Müller war sein "Handbuch von der Physiologie des Menschen" (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieses klassiche Werk gab viel mehr, als der Titel besagt; es ist der Entwurf zu einer umfassenden "Vergleichenden Biologie". Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der Induktion und Deduktion. Allerdings war Müller ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte sich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht über den physikalischen und chemischen Gesetzen der übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das "Leben" selbst, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erscheinungen, die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Ueberall war er bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs, der Athmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortschritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten Lebens-Erscheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso wie in der Physiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller ist zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese verschiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in sich vereinigte. Gleich nach seinem Tode zerfiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die jetzt fast allgemein durch vier oder mehr ordentliche Lehrstühle vertreten werden: Menschliche und vergleichende Anatomie, pathologische Anatomie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte. Man hat die Arbeitstheilung dieses ungeheuren Wissensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht hatte.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf gegründete Cellular-Physiologie erst in neuester Zeit selbstständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn (in Jena) sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen "Phyche-physiologischen Protisten-Studien" (1889) hat derselbe auf Grund sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgestellte "Theorie der Zellseele" durch das genaue Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß "die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die Brücke bilden, welche die chemischen Processe in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Thiere verbindet". Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner "Allgemeinen Physiologie" (zweite Auflage1897). Dieses ausgezeichnete Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt von Johannes Müller zurück im Gegensatze zu den einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische und chemische Experimente das Wesen der Lebens-Erscheinungen ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müller's und durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Gesammt-Gebiet der Lebens-Erscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Ueberzeugung, daß auch die sämmtlichen Lebensthätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Thiere.
Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Gedanken, die Zellen-Theorie vom gesunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen Veränderungen, welche als bestimmte "Krankheitsbilder" den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders während der sieben Jahre seiner Lehrthätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß seine (1858 veräffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische Medicin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für unsere Aufgabe ist diese Reform der Medicin deshalb so bedeutungsvoll, weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurtheilung der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der gesunde, unterliegt denselben "ewigen ehernen Gesetzen" der Physik und Chemie, wie die ganze übrige organische Welt.
Besonders interessant ist endlich die Thatsache, daß die Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu der artikulirten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch lebenden Menschenaffen giebt es eine indische Art, welche musikalisch ist: derHylobates syndactylus auf Sumatro singt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Thönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinen Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffs-Sprache sich langsam und stufenweise aus der unvollkommenen Lautsprache unserer pliocänen Affen-Ahnen entwickelt hat. (Vergl. den 18. Vortrag meiner "Anthropogenie".)
Monistische Studien über menschliche und vergleichende Ontogenie. Uebereinstimmung der Keimbildung und Entwicklung des Menschen und der Wirbelthiere.
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Inhalt: Aeltere Keimesgeschichte. Präformationslehre. Einschachtelungs-Lehre. Haller und Leibniz. Epigenesis-Lehre. C. F. Wolff. Keimblätter-Lehre. Carl Ernst Baer. Entdeckung des menschlichen Eies. Remak. Kölliker. Eizelle und Keimzelle. Gasträa-Theorie. Protozoen und Metazoen. Eizelle und Samenzelle des Menschen. Oscar Hertwig. Empfängniß oder Befruchtung. Keimanlage des Menschen. Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die Keimhüllen des Menschen. Amnion, Serolemma und Allantois. Placenta-Bildung und Nachgeburt. Siebhaut udn Nabelstrang. Die scheibenförmige Placenta der Affen und des Menschen.
In noch höherem Maaße als die vergleichende Anatomie und Physiologie ist die vergleichende Ontogenie, die Entwicklungsgeschichte des Einzelthieres oder Individuums, ein Kind unseres neunzehnten Jahrhunderts. Wie entsteht der Mensch im Mutterleibe? Und wie entstehen die Thiere aus den Eiern? Wie entsteht die Pflanze aus dem Samenkorn? Diese inhaltsschwere Frage hat zwar auch schon seit Jahrtausenden den denkenden Menschengeist beschäftigt, aber erst sehr spät, erst vor 70 Jahren, zeigte uns der Embryologie Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer in die Kenntniß der geheimnißvollen Thatsachen der Keimesgeschichte einzudringen; und noch viel später, vor 40 Jahren, lieferte uns Darwin durch seine Reform der Descendenz-Theorie den Schlüssel, mit dessen Hülfe wir die verschlossene Pforte ihres Verständnisses öffnen und zur Erkenntniß ihrer Ursachen gelangen können. Da ich diese hochinteressanten, aber auch schwierig zu vertstehenden Verhältnisse in meiner Keimesgeschichte des Menschen (- im ersten Theile der Anthropogenie, fünfte Auflage 1903 -) einer ausführlichen, populärwissenschaftlichen Darstellung unterzogen habe, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung und Deutung nur der wichtigsten Erscheinungen. Wir wollen dabei zunächst einen historischen Rückblick auf die ältere Ontogenie und die damit verknüpfte Präformations-Theorie werfen.
Alle diese älteren Beobachter waren von der Vorstellung beherrscht, daß im Ei der Thiere, ähnlich wie im Samen der höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen seinen Theilen bereits fertig vorhanden sei, nur in einem so feinen und so durchsichtigen Zustande, daß man sie nicht erkennen könne; die ganze Entwicklung sei demnach nichts weiter, als Wachstum oder "Auswickelung" (Evolutio) der eingewickelten Theile (Partes involutae). Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird sie auch "Evolutions-Theorie" genannt; allein unter diesem Begriffe verstehen viele neuere Autoren auch die ganz verschiedene Transformations-Theorie.
Einschachtelungs-Lehre (Scatulations-Theorie). In engem Zusammenhange mit der Präformations-Lehre und in berechtiger Schlußfolge aus derselben entstand im 17. Jahrhundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beschäftigte, die sonderbare "Einschachtelungslehre". Da man annahm, dajß im Ei bereits die Anlage des ganzen Organismus mit allen seinen Theilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Generation darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier der nächtsfolgenden u. s w., in infinitum! Darauf hin berechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren - am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes - die Keime von 200000 Millionen Menschen gleichzeitig erschaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer, als der hochangesehene Philosoph Leibniz, schloß sich diesen Ausführungen an und verwerthete sie für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sich auch auf die Seele; - "die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge (!!), immer in der Form organischer Körper existiert".
Besonders wichtig erschien mir dabei der Umstand, daß bei den Schwammthieren und bei den niederen Nessenthieren (Polypen, Medusen) der Körper lange Zeit hindurch oder selbst zeitlebens bloß aus zwei einfachen Zellenschichten besteht; bei den Medusen hatte diese schon Huxley (1849) mit den beiden primären Keimblättern der Wirbelthiere verglichen. Gestützt auf diese Beobachtungen und Vergleichungen stellte ich dann 1872 in meiner "Philosophie der Kalkschwämme" die "Gasträa-Theorie" auf, deren wesentlichste Lehrsätze folgende sind; I. Das ganze Thierreich zerfällt in zwei wesentlich verschiedene Hauptgruppen, die einzelligen Urthiere (Protozoa) und die vielzelligen Gewebethiere (Metazoa); der ganze Organismus der Protozoen (Rhizopoden und Infusorien) bleibt zeitlebens eine einfache Zelle (seltener ein lockerer Zellverein, ohne Gewebebildung, ein Coenobium); dagegen der Organismus der Metazoen ist nur im ersten Beginn einzellig, später aus vielen Zellen zusammengesetzt, welche Gewebe bilden. II. Daher ist auch die Fortpflanzung und Entwickelung in beiden Hauptgruppen der Thiere wesentlich verschieden; die Protozoen vermehren sich gewöhnlich nur ungeschlechtlich, durch Theilung, Knospung oder Sporenbildung; sie besitzen noch keine echten Eier und ein Sperma. Die Metazoen dagegen sind in männliches und weibliches Geschlecht geschieden und vermehren sich vorwiegend geschlechtlich, mittelst echter Eier, welche vom männlichen Samen befruchtet werden. III. Daher entstehen auch nur bei den Metazoen wirkliche Keimblätter, und aus diesen Gewebe, während solche bei den Protozoen noch ganz fehlen. IV. Bei allen Metazoen entstehen zunächst nur zwei primäre Keimblätter, und diese haben überall dieselbe wesentliche Bedeutung: aus dem äußeren Hautblatt entwickelt sich die äußere Hautdecke und das Nervensystem; aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darmkanal und alle übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall zunächst aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus diesen beiden primären Keimblättern besteht, nannte ich Darmlarve oder Becherkeim (Gastrula); ihr becherförmiger, zweischichtiger Körper umschließt ursprünglich eine einfache verdauende Höhle, den Urdarm (Progaster oder Archenteron), und dessen einfache Oeffnung ist der Urmund (Prostoma oder Blastoporus). Dies sind die ältesten Organe des vielzelligen Thierkörpers, und die beiden Zellenschichten seiner Wand, einfache Epithelien, sind seine ältesten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe sind erst später (sekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieser Gleichartigkeit oder Homologie der Gastrula in sämmtlichen Stämmen und Klassen der Gewebethiere zog ich nach dem biogenetischen Grundgesetze (Kap. V), den Schluß, daß alle Metazoen ursprünglich von einer gemeinsamen Stammform abstammen, Gasträa, und daß diese uralte (laurentische) längst ausgestorbene Stammform im Wesentlichen die Körperform und Zusammensetzung der heutigen, durch Vererbung erhaltenen Gastrula besaß. VII. Dieser phylogenetische Schluß aus der Vergleichung der ontogenetischen Thatsachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gasträaden existiren (Orthonectiden, Cyemarien, Physemarien), sowie älteste Formen anderer Thierstämme, deren Organisation sich nur sehr wenig über diese letzeren erhebt (Olynthus unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwasserpolyp, unter den Nesselthieren, Convoluta und andere Kryptocoelen, als einfache Strudelwürmer, unter den Plattenthieren). VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verchiedenen Gewebethiere aus der Gastrula sind zwei verschiedene Hauptgruppen zu unterscheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und besitzen weder Blut noch After: das ist der Fall bei den Gasträaden, Spongien, Nesselthieren und Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere (Coelomaria oder Blitateria) hingegen besitzen eine echte Leibeshöhle und meistens auch Blut und After; dahin gehören die Wurmthiere (Vermalia) und die höheren typischen Thierstämme, welche sich aus diesen entwickelt haben, die Sternthiere, Weichthiere, Gliederthiere, Mantelthiere und Wirbelthiere.
Das sind die wesentlichsten Lehrsätze meiner Gasträa-Theorie, deren ersten Entwurf (1872) ich später weiter ausgeführt und in einer Reihe von "Studien zur Gasträa-Theorie" (1873-1884) fester zu begründen mich bemüht habe. Obgleich dieselbe Anfangs fast allgemein abgelehnt und während eines Decenniums von zahlreichen Autoritäten heftig bekämpft wurde, ist sie doch gegenwärtig (seit etwa 15 Jahren) von allen sachkundigen Fachgenossen angenommen. Sehen wir nun, welche weitreichenden Schlüsse sich aus der Gasträa-Theorie und der Keimesgeschichte überhaupt für unsere Hauptfrage, die "Stellung des Menschen in der Natur", ergeben.
Die feineren Vorgänge bei der Empfängniß und der geschlechtlichen Zeugung überhaupt sind daher von allerhöchster Wichtigkeit; sie sind uns in ihren Einzelheiten erst sei 1875 bekannt geworden, seit Oscar Hertwig, mein damaliger Schüler und Reisebegleiter, in Ajaccio auf Corsica seine bahnbrechenden Untersuchungen über die Befruchtung der Thier-Eier an den Seeigeln begann. Die schöne Hauptstadt der Rosmarin-Insel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war auch der Ort, an welchem zuerst die Geheimnisse der thierischen Empfängniß in den wichtigen Einzelheiten genau beobachtet wurden. Hertwig fand, daß das einzige wesentliche Ereigniß bei der Befruchtung die Verschmelzung der beiden Geschlechtszellen und ihrer Kerne ist. Von den Millionen männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umschwärmen, dringt nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemische, dem Geruch verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen, nähern sich und verschmelzen mit einander. So entsteht durch die sinnliche Empfindung der beiden Geschlechts-Kerne, in Folge von "erotischem Chemotropismus", eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenschaften beider Eltern in sich vereinigt; der Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütterlichen Charakterzüge auf die Stammzelle, aus der die nun das Kind entwickelt; das gilt ebenso von den körperlichen, wie von den sogenannten geistigen Eigenschaften.
Bei den älteren und niederen Gruppen der Zottenthiere (Placentalia) ist die ganze Oberfläche der äußeren Fruchthülle (Chorion) mit zahlreichen kurzen Zotten bedeckt; diese "Chorionzotten" wachsen in grubenförmige Vertiefungen der Schleimhaut der Gebärmutter hinein und lösen sich bei der Geburt leicht von dieser ab. Das ist der Fall bei den meisten Hufthieren (z.B. Schwein, Kameel, Pferd), bei den meisten Walthieren und Halbaffen; man hat diese Malloplacentalien als Indeciduata bezeichnet (mit diffuser Zottenhaut, Malloplacenta). Auch bei den übrigen Zottenthieren und beim Menschen ist dieselbe Bildung anfänglich vorhanden. Bald aber verändert sie sich, indem die Zotten auf einem Theile des Chorion rückgebildet werden; auf dem anderen Theile entwickeln sie sich dafür um so stärker und verwachsen sehr fest mit der Schleimhaut des Uterus. In Folge dieser innigen Verwachsung löst sich bei der Geburt ein Theil der letzeren ab und wird unter Blutverlust entfernt. Diese hinfällige Haut oder Siebhaut (Decidua) ist eine charakteristische Bildung der höheren Zottenthiere, die man deshalb als Deciduata zusammengefaßt hat; dahin gehören namentlich die Raubthiere, Nagethiere, Affen und Menschen; bei den Raubthieren und einzelnen Hufthieren (z.B. Elephanten) ist die Placenta gürtelförmig (Zonoplacentalia), dagegen bei den Nagethieren, bei den Insektenfressern (Maulwurf, Igel), bei den Affen und Menschen scheibenförmig (Discoplacentalia).
Noch vor zehn Jahren glaubten die meisten Embryologen, daß sich der Mensch durch gewisse Eigenthümlichkeiten in der Bildung seiner Placenta auszeichne, namentlich durch den Besitz der sogenannten Decidua reflexa, sowie durch die besondere Bildung des Nabelstranges, welcher diese mit dem Keime verbindet; diese eigenthümlichen Embryonal-Organe sollten den übrigen Zottenthieren, und insbesondere den Affen fehlen. Der wichtige Nabelstrang oder die Nabelschnur (Funiculus umbilicalis) ist ein zylindrischer, weicher Strang von 40-60 cm Länge und von der Dicke des kleinen Fingers (11-13 mm). Er stellt die Verbindung zwischen dem Embryo und dem Mutterkuchen her, indem er die ernährenden Blutgefäße aus dem Körper des Keimes in den Fruchtkuchen leitet; außerdem enthält er auch den Stiel der Allantois und des Dottersackes. Während nun der Dottersack bei menschlichen Früchten aus der dritten Woche der Schwangerschaft noch die größere Hälfte der Keimblase darstellt, wird er später bald rückgebildet, so daß man ihn früher bei reifen Früchten ganz vermißte; doch ist er als Rudiment noch immer vorhanden und auch nach der Geburt noch als winziges Nabelbläschen (Vesicula umbilicalis) nachzuweisen. Auch die blasenförmige Anlage der Allantois selbst wird beim Menschen frühzeitig rückgebildet, was mit einer etwas abweichenden Bildung des Amnion zusammenhängt, der Entstehung des sogenannten "Bauchstiels". auf die komplicirten anatomischen und embryologischen Verhältnisse dieser Bildungen, die ich in meiner Anthropogenie (23. Vortrag) geschildert und illustrirt habe, können wir hier nicht eingehen.
Die Gegner der Entwickelungslehre wiesen noch vor zehn Jahren auf diese "ganz besonderen Eigenthümlichkeiten" der Fruchtbildung beim Menschen hin, durch die er sich von allen anderen Säugethieren unterscheiden sollte. Da wies 1890 Emil Selenka nach, daß dieselben Eigenthümlichkeiten sich auch bei den Menschenaffen finden, insbesondere beim Orang (Satyrus), während sie den niederen Affen fehlen. Also bestätigte sich auch hier wieder der Pithecometra-Satz von Huxley: "Die Unterschiede zwischen den Menschen und den Menschenaffen sind geringer als diejenigen zwischen den letzteren und den niederen Affen." Die angeblichen "Beweise gegen die nahe Blutsverwandtschaft des Menschen und der Affen" ergaben sich bei genauer Untersuchung der thatsächlichen Verhältnisse auch hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zu Gunsten derselben.
Jeder Naturforscher, der mit offenen Augen in diese dunkeln, aber höchst interessanten Labyrinth-Gänge unserer Keimesgeschichte tiefer eindringt, und der im Stande ist, sie kritisch mit derjenigen der übrigen Säugethiere zu vergleichen, wird in denselben die bedeutungsvollsten Lichtträger für das Verständniß unserer Stammesgeschichte finden. Denn die verschiedenen Stufen der Keimbildung werfen als palingenetische Vererbungs-Phänomene ein helles Licht auf die entsprechenden Stufen unserer Ahnen-Reihe, gemäß dem biogenetischen Grundgesetze. Aber auch die cenogenetischen Anpassungs-Erscheinungen, die Bildung der vergänglichen Embryonal-Organe - der charakteristischen Keimhüllen, und vor allem der Placenta - geben uns ganz bestimmte Aufschlüsse über unsere nahe Stammverwandtschaft mit den Primaten.
Monistische Studien über Ursprung und Abstammung des Menschen von den Wirbelthieren, zunächst von den Herrenthieren.
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Inhalt: Ursprung des Menschen. Mythische Schöpfungsgeschichte. Moses und Linné. Die Schöpfung der konstanten Arten. Katastrophen-Lehre. Cuvier. Transformismus, Goethe (1790). Descendenz-Theorie, Lamarck (1809). Selektions-Theorie, Darwin (1859). Stammesgeschichte (Phylogenie) (1866). Stammbäume. Generelle Morphologie. Naturliche Schöpfungsgeschichte. Systematische Phylogenie. Biogenetisches Grundgesetz. Anthropogenie. Abstammung des Menschen von den Affen. Pithecoiden-Theorie. Der fossile Pithecanthropus von Dubois (1894).
Der jüngste unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie ist diejenige Naturwissenschaft, welche wir Stammesgeschichte oder Phylogenie nennen. Sie hat sich noch weit später und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt, als ihre natürliche Schwester, die Keimesgeschichte oder Ontogenie. Diese letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der geheimnißvollen Vorgänge, durch welche sich die organischen Individuen, die Einzelwesen der Thiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeschichte hingegen hat die viel dunklere und schwierigere Frage zu beantworten: "Wie sind die organischen Species entstanden, die einzelnen Arten der Thiere und Pflanzen?".
Die Ontogenie (sowohl Embryologie als Metamorphosenlehre) konnte zur Lösung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächst unmittelbar den empirischen Weg der Beobachtung betreten; sie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die sichtbaren Umbildungen zu verfolgen, welche der organische Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel schwieriger war von vornherein die entfernt liegende Aufgabe der Phylogenie; denn die langsamen Processe der allmählichen Umbildung, welche die Entstehung der Thier- und Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen sich unmerklich im Verlaufe von Jahrtausenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beobachtung ist nur in sehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Theil dieser historischen Vorgänge kann nur indirekt erschlossen werden: durch kritische Reflexion, durch vergleichende Benutzung von empirischen Urkunden, welche sehr verschiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morphologie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welcher der natürlichen Stammesgeschichte allgemein durch die enge Verknüpfung der "Schöpfungsgeschichte" mit übernatürlichen Mythen und religiösen Dogmen bereitet wurde; es ist daher begreiflich, daß erst im Laufe der letzten vierzig Jahre die wissenschaftliche Existenz der wahren Stammesgeschichte unter schweren Kämpfen errungen und gesichert werden mußte.
Höchst verhängnißvoll aber wurde für die Wissenschaft das theoretische Dogma, welches schon von Linné selbst mit seinem praktischen Species-Begriffe verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Species-Begriffes, nach Inhalt und Umfang desselben. Und gerade diese Fundamental-Frage beantwortete sein Schöpfer in naivster Weise, in Anlehnung an den allgemein gültigen Mosaischen Schöpfungs-Mythus: "Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens". (- Es giebt so viel verschiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind. -). Mit diesem theosophischen Dogma war jede natürliche Erklärung der Art-Entstehung abgeschnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig existirende Thier- und Pflanzen-Welt; er hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgestorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der Erdgeschichte unseren Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert hatten.
Erst im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden diese fossilen Thiere durch Cuvier näher bekannt. Er gab in seinem berühmten Werke über die fossilen Knochen der vierfüßigen Wirbelthiere (1812) die erste genaue Beschreibung und richtige Deutung zahlreicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte eine Reihe von ganz verschiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an Linné's Lehre von der absoluten Beständigkeit der Species fest hielt, glaubte er deren Entstehung nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von großen Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen in der Erdgeschichte auf einander gefolgt sei; im Beginne jeder großen Erd-Revolution sollten alle lebenden Geschöpfe vernichtet und am Ende derselben eine neue Bevölkerung erschaffen worden sein. Obgleich diese Katastrophen-Theorie von Cuvier zu den absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten Wunderglauben hinauslief, gewann sie doch bald allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin (1859) herrschend.
Man hätte erwarten sollen, daß dieser großartige Versuch, die Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie wissenschaftlich zu begründen, alsbald den herrschenden Mythus von der Species-Schöpfung erschüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte. Indessen vermochte Lamarck gegenüber der konservativen Autorität seines großen Gegners Cuvier ebenso wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre später sein Kollege und Gesinnungsgenosse Géoffroy St. Hilaire. Die berühmten Kämpfe, welcher dieser Naturphilosoph 1830 im Schooße der Pariser Akademie mit Cuvier zu bestehen hatte, endigten mit einem vollständigen Siege des Letzteren. Die mächtige Entfaltung, welche zu jener Zeit das empirische Studium der Biologie fand, die Fülle von interessanten Entdeckungen auf den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Physiologie, die Begründung der Zellentheorie und die Fortschritte der Ontogenie gaben den Zoologen und Botanikern einen solchen Ueberfluß von dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die schwierige und dunkle Frage nach der Entstehung der Arten ganz vergessen wurde. Man beruhigte sich bei dem althergebrachten Schöpfungs-Dogma. Selbst nachdem der große englische Naturforscher Charles Lyell 1830 in seinen Principien der Geologie die abenteuerliche Katastrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und für die anorganische Natur unseres Planeten einen natürlichen und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewiesen hatte, fand sein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organische Natur keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie, welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenso vergessen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche 50 Jahre früher (1759) Caspar Friedrich Wolff in seiner Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendsten Ideen über natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erst nachdem Darwin 1859 die Lösung des Schöpfungs-Problems von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwischen angesammelten Schatz von empirischen Kenntnissen glücklich dazu verwerthet hatte, fing man an, sich auf Lamarck, als seinen bedeutendsten Vorgänger, wieder zu besinnen.
Vergleichen wir die beiden großen Begründer des Transformismus, so finden wir bei Lamarck überwiegende Neigung zur Deduktion und zum Entwurfe eines vollständigen monistischen Naturbildes, bei Darwin hingegen vorherrschende Anwendung der Induktion und das vorsichtige Bemühen, die einzelnen Theile der Descendenz-Theorie durch Beobachtung und Experiment möglichst sicher zu begründen. Während der französische Naturphilosoph den damaligen Kreis des empirischen Wissens weit überschritt und eigentlich das Programm der zukünftigen Forschung entwarf, hatte der englische Experimentator umgekehrt den großen Vortheil, das einigende Erklärungs-Princip für eine Masse von empirischen Kenntnissen zu begründen, die bis dahin unverstanden sich angehäuft hatten. So erklärt es sich, daß der Erfolg von Darwin ebenso überwältigend, wie derjenige von Lamarck verschwindend war. Darwin hatte aber nicht allein das große Verdienst, die allgemeinen Ergebnisse der verschiedenen biologischen Forschungskreise in dem gemeinsamen Brennpunkte des Descendenz-Princips zu sammeln und dadurch einheitlich zu erklären, sondern er entdeckte auch in dem Selektions-Princip jene direkte Ursache der Transformation, welche Lamarck noch gefehlt hatte. Indem Darwin als praktischer Tierzüchter die Erfahrungen der künstlichen Zuchtwahl auf die Organismen im freien Naturzustande anwendete und in dem "Kampf um's Dasein" das auslesende Princip der natürlichen Zuchtwahl entdeckte, schuf er seine bedeutungsvolle Selektionstheorie, den eigentlichen Darwinismus (vergl. hierüber Arnold Lang, Zur Charakteristik der Forschungswege von Lamarck und Darwin. Jena 1889).
Als weitere Folgerung dieser Pithecoiden-Theorie (oder "Affen-Abstammungslehre" des Menschen) ergab sich die schwierige Aufgabe, nicht nur die nächstverwandten Säugethier-Ahnen des Menschen in der Tertiär-Zeit zu erforschen, sondern auch die lange Reihe der älteren thierischen Vorfahren, welche in früheren Zeiträumen der Erdgeschichte gelebt und während ungezählter Jahr-Millionen sich entwickelt hatten. Die hypothetische Lösung dieser großen historischen Aufgabe hatte ich schon 1866 in der Generellen Morphologie zu beginnen versucht; weiter ausgeführt habe ich dieselbe 1874 in meiner Anthropogenie (I. Teil: Keimesgeschichte, II Theil: Stammesgeschichte). Die fünfte, umgearbeitete Auflage dieses Buches (1903) enthält diejenige Darstellung der Entwickelungsgeschichte des Menschen, welche bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Urkundenkenntniß sich dem fernen Ziele der Wahrheit nach meiner persönlichen Auffassung am meisten nähert; ich war dabei stets bemüht, alle drei empirischen Urkunden, die Paläontologie, Ontogenie und Morphologie (oder vergleichende Anatomie) möglichst gleichmäßig und im Zusammenhange zu benutzen. Sicher werden die hier gegebenen Descendenz-Hypothesen im Einzelnen durch spätere phylogenetische Forschungen vielfach ergänzt und berichtigt werden; aber eben so sicher steht für mich die Ueberzeugung, daß der dort entworfene Stufengang der menschlichen Stammesgeschichte im Großen und Ganzen der Wahrheit entspricht. Denn die historische Reihenfolge der Wirbelthier-Versteinerungen entspricht vollständig der morphologischen Entwickelungsreihe, welche uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die silurischen Fische folgen die devonischen Lurchfische, die karbonischen Amphibien, die permischen Reptilien und die mesozoischen Säugethiere; von diesen erscheinen wiederum zunächst in der Trias die niedersten Formen, die Gabelthiere (Monotremen), dann im Jura die Beutelthiere (Marsupialien), und darauf in der Kreide die ältesten Zottenthiere (Placentalien). Von diesen letzteren treten wieder zunächst in der ältesten Tertiär-Zeit (Eocaen) die niedersten Primaten-Ahnen auf, die Halbaffen, und zwar von den Catarrhinen zuerst die Hundsaffen (Cynopitheken), später die Menschenaffen (Anthropomorphen); aus einem Zweige dieser letzteren ist während der Pliocän-Zeit der sprachlose Affenmensch entstanden (Pithecanthropus alalus), und diesem endlich der sprechende Mensch.
Viel schwieriger und unsicherer als diese Kette unserer Wirbelthier-Ahnen ist diejenige der vorhergehenden wirbellosen Ahnen zu erforschen; denn von ihren weichen skelettlosen Körpern kennen wir keine versteinerten Ueberreste; die Paläontologie kann uns hier keinerlei Zeugniß liefern. Um so wichtiger werden hier die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie. Da der menschliche Keim denselben Chordula-Zustand durchläuft, wie der Embryo allen anderen Wirbelthiere, da er sich ebenso aus zwei Keimblättern einer Gastrula entwickelt, schließen wir nach dem biogenetischen Grundgesetze auf die frühere Existenz entsprechender Ahnen-Formen (Vermalien, Gastraeaden). Vor Allem wichtig aber ist die fundamentale Thatsache, daß auch der Keim des Menschen, gleich demjenigen aller anderen Thiere, sich ursprünglich aus einer einer einfachen Zelle entwickelt; denn diese Stammzelle (Cytula) - die "befruchtete Eizelle" - weist zweifellos auf eine entsprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes (laurentisches) Protozoon.
Für unsere monistische Philosophie ist es übrigens zunächst ziemlich gleichgiltig, wie sich im Einzelnen die Stufenreihe unserer thierischen Vorfahren noch sicherer feststellen lassen wird. Für sie bleibt als sichere historische Thatsache die folgenschwere Erkenntniß bestehen, daß der Mensch zunächst vom Affen abstammt, weiterhin von einer langen Reihe niederer Wirbelthiere. Die logische Begründung dieses Pithekometra-Satzes habe ich schon 1866 im siebenten Buche der "Generellen Morphologie" betont (S. 427): "Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächst aus echten Affen, entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktions-Schluß, welcher sich aus dem generellen Induktions-Gesetze der Descendenz-Theorie mit absoluter Nothwendigkeit ergiebt."
Von größter Bedeutung für die definitive Feststellung und Anerkennung dieses fundamentalen Pithekometra-Satzes sind die paläontologishcne Entdeckungen der letzten drei Dezennien geworden; insbesondere haben uns die überraschenden Funde von zahlreichen ausgestorbenen Säugethieren der Tertiär-Zeit in den Stand gesetzt, die Stammesgeschichte dieser wichtigen Thierklasse, von den niedersten, eierlegenden Monotremen bis zum Menschen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formenreichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und Herrenthiere, erscheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derselben ins Auge fassen. Diese Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt und die scharfen Unterschiede der vier Legionen gänzlich verwischt, wenn wir ihre tertiären, ausgestorbenen Vorfahren vergleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geschichts-Dämmerung der ältesten Tertiär-Zeit hinabsteigen (mindestens drei Millionen Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklasse der Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden "Urzottenthieren" vertreten; und in diesen Prochoriaten erscheinen die Charaktere jener vier divergenten Legionen so gemischt und verwischt, daß wir sie vernünftiger Weise nur als gemeinsame Vorfahren derselben deuten können. Die ältesten Raubthiere (Ictopsales), die ältesten Nagethiere (Esthonychales), die ältesten Hufthiere (Condylarthrales) und die ältesten Herrenthiere (Lemuravales) besitzen alle im Wesentlichen dieselbe Bildung des Knochen-Gerüstes und dasselbe typische Gebiß der ursprünglichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahlzähne); sie zeichnen sich alle durch die geringe Größe und die unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (besonders des wichtigsten Teiles, der Großhirnrinde, die sich erst später bei den miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren "Denkorgane" entwickelt hat): sie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße, die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada). Bei manchen dieser ältesten Zottenthiere der Eozän-Zeit war es Anfangs zweifelhaft, ob man sie zu den Raubthieren oder Nagethieren, zu den Hufthieren oder Herrenthieren stellen sollte; so sehr nähern sich hier unten diese vier großen, später so sehr verschiedenen Legionen der Placentalien bis zur Berührung. Unzweifelhaft folgt daraus ihr gemeinsamer Ursprung aus einer einzigen Stammgruppe. Diese Prochoriata lebten schon in der vorhergehenden Kreide-Periode (vor mehr als drei Jahr-Millionen!) und sind wahrscheinlich in der Jura-Periode aus einer Gruppe von insektenfressenden Beutelthieren (Amphitheria) durch Ausbildung einer primitiven Placenta diffusa entstanden, einer Zottenhaut einfachster Art.
Die wichtigsten aber von allen neueren paläontologischen Entdeckungen, welche Stammesgeschichte der Zottenthiere aufgeklärt haben, betreffen unseren eigenen Stamm, die Legion der Herrenthiere (Primates). Früher waren versteinerte Reste derselben äußerst selten. Noch Cuvier, der große Gründer der Paläontologie, behauptete bis zu seinem Tode (1832), daß es keine Versteinerungen von Primaten gäbe; zwar hatte er selbst schon den Schädel eines eocänen Halbaffen (Adapis) beschrieben, ihn aber irrthümlich für ein Hufthier gehalten. In den letzten beiden Decennien sind aber gut erhaltene, versteinerte Skelette von Halbaffen und Affen in ziemlicher Zahl entdeckt worden; darunter befinden sich alle die wichtigen Zwischenglieder, welche eine zusammenhängende Ahnen-Kette von den ältesten Halbaffen bis zum Menschen hinauf darstellen.
Der berühmteste und interessanteste von diesen fossilen Funden ist der versteinerte Affenmensch von Java, welchen der holländische Militär-Arzt Eugen Dubois 1894 entdeckt hat, der vielbesprochene Pithecanthropus erectus. Er ist in der That das vielgesuchte "Missing link", das angeblich "fehlende Glied" in der Primaten-Kette, welche sich ununterbrochen vom niedersten katarrhinen Affen bis zum höchst entwickelten Menschen hinaufzieht. Ich habe die hohe Bedeutung, welche dieser merkwürdige Fund besitzt, ausführlich erörtert in dem Vortrage "Ueber unsere gegenwärtige Kenntniß vom Ursprung des Menschen", welchen ich am 26 August 1898 auf dem vierten Internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten habe. Der Paläontologe, welcher die Bedingungen für Bildung und Entdeckung von Versteinerungen kennt, wird die Entdeckung des Pithecanthropus als einen besonders glücklichen Zufall betrachten. Denn als Baumbewohner kommen die Affen nach ihrem Tode (wenn sie nicht zufällig ins Wasser fallen) nur selten unter Verhältnisse, welche die Erhaltung und Versteinerung ihres Knochengerüstes gestatten. Durch den Fund dieses fossilen Affenmenschen von Java ist also auch von Seiten der Paläontologie die "Abstammung des Menschen vom Affen" ebenso klar und sicher bewiesen, wie es früher schon durch die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie geschehen war; wir besitzen jetzt in der That alle wesentlichen Urkunden unserer Stammesgeschichte.
Monistische Studien über den Begriff der Psyche. Aufgaben und Methoden der wissenschaflichen Psychologie. Psychologische Metamorphosen.
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Inhalt: Fundamentale Bedeutung der Psychologie, Begriff und Methoden derselben. Gegensätze der Ansichten darüber. Dualistische und monistische Psychologie. Verhältniß zum Substanz-Gesetz. Begriffs-Verwirrung. Psychologische Metamorphosen: Kant, Virchow, Du Bois-Reymond. Erkenntnißwege der Seelenkunde. Introspektive Methode (Selbstbeobachtung). Exakte Methode (Psychophysik). Vergleichende Methode (Thier-Psychologie). Psychologischer Principien-Wechsel, Wundt. Völker-Psychologie und Ethnographie, Bastian. Ontogenetische Psychologie, Preyer. Phylogenetische Psychologie, Darwin, Romanes.
Die Erscheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der psychischen Thätigkeit zusammenfaßt, sind unter allen uns bekannten Phänomenen einerseits die wichtigsten und interessantesten, andererseits die verwickeltesten und räthselhaftesten. Da die Natur-Erkenntniß selbst, die Aufgabe unserer vorliegenden philosophischen Studien, ein Theil des Seelenlebens ist, und da mithin auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der "Psyche" zur Voraussetzung hat, so kann man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie wieder ein Theil der Philosophie oder der Physiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie wiederum die genaue Kenntniß des menschlichen Organismus voraussetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigsten Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der sogenannten "Psychologen" besitzt jedoch von diesen anatomischen Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine Kenntniß, und so erklärt sich die bedauerliche Thatsache, daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre wesentliche Aufgabe herrschen, wie in der Psychologie. Diese Konfusion ist in den letzten drei Decennien um so fühlbarer hervorgetreten, je mehr die großartigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie unsere Kenntniß vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten Seelen-Organs erweitert haben.
Diese hypothetische "Geisteswelt", die von der materiellen Körperwelt ganz unabhängig sein soll, und auf deren Annahme das ganze künstliche Gebäude der dualistischen Weltanschauung ruht, ist lediglich ein Produkt der dichtenden Phantasie; und dasselbe gilt von dem mystischen, eng mit ihr verknüpften Glauben an die "Unsterblichkeit der Seele", dessen wissenschaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch besonders darthun müssen (im 11. Kapitel). Wenn die in diesem Sagenkreise herrschenden Glaubens-Vorstellungen wirklich begründet wären, so müßten die betreffenden Erscheinungen nicht dem Substanz-Gesetze unterworfen sein; diese einzige Ausnahme von dem höchsten kosmologischen Grundgesetze müßte aber erst sehr spät im Laufe der organischen Erdgeschichte eingetreten sein, da sie nur die "Seele" des Menschen und der höheren Thiere betrifft. Auch das Dogma des "freien Willens", ein anderes wesentliches Stück der dualistischen Psychologie, ist mit dem unversalen Substanz-Gesetze ganz unvereinbar.
Gleich allen anderen Natur-Erscheinungen sind auch diejenigen des Seelenlebens dem obersten, Alles beherrschenden Substanzgesetze unterworfen; es giebt auch in diesem Gebiete keine einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze (vgl. Kapitel 12). Die Vorgänge des niederen Seelenlebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen - aber ebenso auch bei den niederen Thieren - , ihre Reizbarkeit, ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung, sind unmittelbar bedingt durch physiologische Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch physikalische und chemische Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe müssen wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menschen behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtseins; denn diese letzteren haben sich phylogenetisch aus jenen ersteren entwickelt, und nur der höhere Grad der Integration oder Centralisation, der Association oder Vereinigung der früher getrennten Funktionen, erhebt sie zu dieser erstaunlichen Höhe.
Ein interessantes Beispiel ähnlicher tiefgehender Wandlungen bieten zwei der berühmtesten Naturforscher, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer psychologischen Grundanschauungen darf um so weniger übersehen werden, als beide Berliner Biologen seit mehr als 40 Jahren an der größten Universität Deutschlands eine höchst bedeutende Relle gespielt und sowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle Begründer der Cellular-Pathologie, war in der besten Zeit seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, um die Mitte des 19. Jahrhunderts (und besonders während seines Würzburger Aufenthalts, von 1849 - 1856) reiner Monist; ergalt damals als einer der hervorragendsten Vertreter jenes neu erwachenden "Materialismus", der im Jahre 1855 besonders durch zwei berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt wrude: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im Menschen - sämmtlich als mechanische Natur-Erscheinungen aufgefaßt! - legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeichneter Artikel in den ersten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder. Wohl die bedeutendste unter diesen Abhandlungen und diejeningen, in welcher er seine damalige monistische Weltanschauung am klarsten zusammenfaßte, ist diejenige über "Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin" (1849). Es geschah gewiß mit Bedacht und mit der Ueberzeugung ihres philosophischen Werthes, daß Virchow 1856 dieses "medicinische Glaubens-Bekenntniß" an die Spitze seiner "Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin" stellte. Er vertritt darin ebenso klar als bestimmt die fundamentalen Principien unseres heutigen Monismus, wie ich sie hier mit Bezug auf die Lösung der "Welträthsel" darstelle; er verteidigt die alleinige Berechtigung der Erfahrungs-Wissenschaft, deren einzige zuverlässige Quellen Sinnesthätigkeit und Gehirn-Funktion sind; er bekämpft ebenso entschieden den anthropologischen Dualismus, jede sognannte Offenbarung und jede "Transcendenz" mit ihren zwei Wegen: "Glauben und Anthropomorphismus". Vor Allem betont er den monistischen Charakter der Anthropologie, den untrennbaren Zusammenhang von Geist und Körper, vor Kraft und Materie; am Schlusse seines Vorworts spricht er (S. 4) den Satz aus: "Ich habe die Ueberzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden werde, den Satz von der Einheit des menschlichen Wesens und seine Konsequenzen zu verleugnen." Leider war die "Ueberzeugung" ein schwerer Irrthum; denn 28 Jahre später vertrat Virchow ganz entgegengesetzte principielle Anschauungen; es geschah dies in jener vielbesprochenen Rede über "Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate", die er 1877 auf der Naturforscher-Versammlung in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift "Freie Wissenschaft und freie Lehre" (1878) zurückgewiesen habe.
Aehnliche Widersprüche in Bezug auf die wichtigsten philosophischen Grundsätze wie Virchow hat auch Emil Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der dualistischen Schulen und vor Allem der Ecclesia militans errungen. Je mehr dieser berühmte Rhetor der Berliner Akademie im Allgemeinen die Grundsätze unseres Monismus vertrat, je mehr er selbst zur Widerlegung des Vitalismus und der transcendenten Lebens-Auffassung beigetragen hatte, desto lauter war das Triumph-Geschrei der Gegner, als er 1872 in seiner wirkungsvollen Ignorabimus-Rede das "Bewußtsein" als ein unlösbares Welträthsel hingestellt und als eine übernatürliche Erscheinung den anderen Gehirn-Funktionen gegenüber gestellt hatte. Ich komme später (im 10. Kapitel) darauf zurück.
In den letzten vierzig Jahren ist eine große Anzahl von Schriften über vergleichende Psychologie der Thiere erschienen, großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anstoß, welchen 1859 Charles Darwin durch sein Werk über den Ursprung der Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs-Theorie in das psychologische Gebiet. Einige der wichtigsten dieser Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner, G. H. Schneider, Fritz Schulze und Karl Groos in Deutschland, Alfred Espinas und E. Jourdan in Frankreich, Tito Vignoli u. A. in Italien.
In Deutschland git gegenwärtig als einer der bedeutendsten Psychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er besitzt vor den meisten anderen Philosophen den unschätzbaren Vorzug einer gründlichen zoologischen, anatomischen und physiologischen Bildung. Früher Assistent und Schüler von Helmholtz, hatte sich Wundt frühzeitig daran gewöhnt, die Grundgesetze der Physik und Chemie im gesammten Gebiete der Physiologie geltend zu machen, also auch im Sinne von Johannes Müller in der Psychologie, als einem Theilgebiete der letzteren. Von diesen Gesichtspunkten geleitet, veröffentlichte Wundt 1863 werthvolle "Vorlesungen über die Menschen- und Thier-Seele". Er liefert darin, wie er selbst in der Vorrede sagt, den Nachweis, daß der Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns "einen Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den äußeren Eindrücken stammen". Was mir aber besonders wichtig und werthvoll an Wundt's Werk erscheint, ist, daß er "hier zum ersten Male das Gesetz der Erhaltung der Kraft auf das psychische Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von Thatsachen der Elektrophysiologie zur Beweisführung benutzt" (l. c. p. VIII).
Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt (1892) eine zweite, wesentlich verkürzte und gänzlich umgearbeitete Auflage seiner "Vorlesungen über die Menschen- und Thier-Seele". Die wichtigsten Principien der ersten Auflage sind in der zweiten völlig aufgegeben, und der monistische Standpunkt der ersteren ist mit einem rein dualistischen vertauscht. Wundt selbst sagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er sich erst allmählich von den fundamentalen Irrthümern der ersten befreit habe, und daß er "diese Arbeit schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte"; sie "lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen mochte, ledig zu werden wünschte". In der That sind die wichtigsten Grundanschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundt's weit verbreiteten "Vorlesungen" völlig entgegengesetzte; in der ersten Auflage rein monistisch und materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen wie die gesammte Physiologie, von der sie nur ein Theil ist; dreißig Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine Geisteswissenschaft geworden, deren Principien und Objekte von denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Princip des psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem "jedem psychischen Geschehen irgend welche physische Vorgänge entsprechen", beide aber völlig unabhängig von einander sind und nicht in natürlichem Kausal-Zusammenhang stehen. Dieser vollkommene Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geist hat begreiflicher Weise den lebhaften Beifall der herrschenden Schul-Philosophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die entgegengesetzten Anschauungen unseres modernen Monismus vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren "beschränkten" Standpunkt seit mehr als vierzig Jahren stehe und mich trotz aller bestgemeinten Anstrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die "Jugendsünden" des jungen Physiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß halten und sie gegen die entgegengesetzten Grundanschauungen des alten Philosophen Wundt energisch vertheidigen.
Sehr interessant ist der totale philosophische Principien-Wechsel, der uns hier wieder bei Wundt, wie früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernst Baer und bei Anderen begegnet. In ihrer Jugend umfassen diese kühnen und talentvollen Naturforscher das ganze Gebiet ihrer biologischen Forschung mit weitem Blick und streben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben sie eingesehen, daß dieser nicht vollkommen erreichbar ist, und deshalb geben sie ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser psychologischen Metamorphose können sie natürlich anführen, daß sie in der Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe übersehen und die wahren Ziele verkannt hätten; erst mit der reiferen Einsicht des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie sich von ihrem Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten, daß die großen Männer der Wissenschaft in jüngeren Jahren unbefangener und muthiger an ihre schwierige Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Bereicherung sondern auch zur Trübung der Einsicht, und mit dem Greisenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenso im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese erkenntnißtheoretische Metamorphose an sich eine lehrreiche psychologische Thatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen des "Gesinnungswechsels", daß die höchsten Seelen-Funktionen ebenso wesentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.
Die weitere Ausführung von Darwin's Psychologie und ihre besondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelenlebens verdanken wir einem ausgezeichneten englischen Naturforscher, George Romanes. Leider wurde er durch seinen allzu frühen, kürzlich erfolgten Tod an der Vollendung des großen Werkes gehindert, welches alle Teile der vergleichenden Seelenkunde gleichmäßig im Sinne der monistischen Entwickelungslehre ausbauen sollte. Die beiden Theile dieses Werkes, welche erschienen sind, gehören zu den werthvollsten Erzeugnissen der gesammten psychologischen Literatur. Denn getreu den Principien unserer modernen monistischen Naturforschung sind darin erstens die wichtigsten Thatsachen zusammengefaßt und geordnet, welche seit Jahrtausenden durch Beobachtung und Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empirisch festgestellt wurden; zweitens sind dieselben mit objektiver Kritik geprüft und zweckmäßig gruppirt; und drittens ergeben sich daraus diejenigen Vernunft-Schlüsse über die wichtigsten allgemeinen Fragen der Psychologie, welche allein mit den Grundsätzen unserer modernen monistischen Weltanschauung vereinbar sind. Der erste Band von Romanes' Werk (440 Seiten, Leipzig 1885) führt den Titel: "Die geistige Entwickelung im Thierreich" und stellt die ganze lange Stufenreihe der psychischen Entwickelung im Thierreiche von den einfachsten Empfindungen und Instinkten der niedersten Thiere bis zu den vollkommensten Erscheinungen des Bewußtseins und der Vernunft bei den hochststehenden Thieren im natürlichen Zusammenhang dar. Es sind darin auch viele Mittheilungen aus hinterlassenen Manuskripten "über den Instinkt" von Darwin mitgetheilt, und zugleich ist eine "vollständige Sammlung von Allem, was derselbe auf dem Gebiete der Psychologie geschrieben hat", gegeben.
Der zweite und der wichtigste Theil von Romanes' Werk behandelt "die geistige Entwickelung beim Menschen und den Ursprung der menschlichen Befähigung" (430 Seiten, Leipzig 1893). Der scharfsinnige Psychologe führt darin den überzeugenden Beweis, "daß die psychologische Schranke zwischen Thier und Mensch überwunden ist" (!); das begriffliche Denken und Abstraktions-Vermögen des Menschen hat sich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens und Vorstellens bei den nächstverwandten Säugethieren entwickelt. Die höchsten Geistesthätigkeiten des Menschen, Vernunft, Sprache und Bewußtsein, sind aus den niederen Vorstufen derselben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen und Halbaffen) hervorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige "Geistesthätigkeit", welche ihm ausschließlich eigenthümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der nächstverwandten Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.
Den Leser meines Buches, welcher sich für diese hochwichtigen "Seelen-Fragen" interessirt, verweise ich auf das grundlegende Werk von Romanes. Ich stimme fast in allen Anschauungen und Ueberzeugungen mit ihm und mit Darwin überein; wo sich etwa scheinbare Unterschiede zwischen diesen Autoren und zwischen meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen sie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form meinerseits oder auf einem unbedeutenden Unterschiede in der Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den charakteristischen Merkmalen dieser "Begriff-Wissenschaft", daß über ihre wichtigsten Grundbegriffe die angesehendsten Philosophen ganz verschiedene Ansichten haben.
(Nachschrift. Nach dem Tode von Romanes erschien eine angeblich von ihm verfaßte Schrift: "Gedanken über Religion"; sie widerspricht den früheren theilweise {- Psychologische Metamorphose?? S. 41}).
Monistische Studien über vergleichende Psychologie. Die psychologische Skala. Psychoplasma und Nervensystem. Instinkt und Vernunft.
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Inhalt: Psychologische Einheit der organischen Natur. Materielle Basis der Psyche: Psychoplasma. Skale der Empfindungen. Skala der Bewegungen. Skala der Reflexe. Einfache und zusammengesetzte Reflexe. Reflexthat und Bewußtsein. Skala der Vorstellungen. Unbewußte und bewußte Vorstellungen. Skala des Gedächtnisses. Unbewußtes und bewußtes Gedächtniß. Associon der Vorstellungen. Instinkte. Primäre und sekundäre Instinkte. Skala der Vernunft. Sprache. Gemüthsbewegungen und Leidenschaften. Wille. Freiheit des Willens.
Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hülfe der Entwickelungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche, hat uns zu der Ueberzeugung geführt, daß das organische Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften sich entwickelt, aus den physiologischen Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich subjektive und introspektive Zergliederung der höchstentwickelten Philosophen-Seele sein, sondern die objektive und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von niederen thierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Skale zu unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Decennien unseres Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden, vor Allem in dem ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl. S. 46). Wir beschränken uns hier auf die kurze Besprechung einiger der allgemeinsten Fragen, welche uns die Erkenntniß jener Stufenleiter vorlegt.
I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagirt auf die einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Theile der unvollkommensten Thiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Theile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzirung specifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigenthümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. die "specifische Energie" dieser höheren Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centralisation oder Integration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Associon der früheren isolirten oder lokalisirten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren Thieren. V. Auf der fünften Stufe entwickelt sich durch Spiegelung der Empfindungen in einem Central-Theile des Nervensystems die höchste psychische Funktion, die bewußte Empfindung; so beim Menschen und den höheren Wirbelthieren, wahrscheinlich auch bei einem Theile der höheren wirbellosen Thiere, besonders der Gliederthiere.
I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens, bei Chromaceen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene Wachstums-Bewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinsam zukommen. Dieselben geschehen gewöhnlich so langsam, daß man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden Körpers. II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen sich kriechend oder schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung einer schleimigen Masse. III. Andere, im Wasser schwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a., stegen auf und nieder, indem sie ihr specifisches Gewicht verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder Ausstoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, besonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Papilionaceen, führen Bewegungen von Blättern oder anderen Theilen mittelst Turgor-Wechsels aus, d. h. sie verändern die Spannung des Protoplasmas und damit auch dessen Druck auf die umschließende elastische Zellenwand. V. Die wichtigsten von allen organischen Bewegungen sind die Kontraktions-Erscheinungen, d. h. Gestalts-veränderungen der Körper-Oberfläche, welche mit gegenseitigen Lage-Verschiebungen ihrer Theilchen verbunden sind; sie verlaufen stets mit zwei verschiedenen Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktions-Phase (Zusammenziehung) und der Expansions-Phase (Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasma-Kontraktion werden unterschieden Va: die amöboiden Bewegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen u. s. w.); Vb: die ähnlichen Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und Wimperbewegung) bei Infusiorien, Spermien, Flimmer-Epithel-Zellen, und endlich Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Thieren).
I. Auf der untersten Stufe der Organisation, bei den niedersten Protisten, lösen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme, Elektricität u. s. w.) im indifferenten Protoplasma nur jene unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachsthums und Stoffwechsels aus, welche allen Organismen gemeinsam sind. Dasselbe gilt auch für die meisten Pflanzen.
II. Bei vielen frei beweglichen Protisten (besonders Amöben, Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers äußere Bewegungen desselben hervor, die sich in der Gestaltsveränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung, Pseudopoden-Bildung, Ausstrecken und Einziehen von Scheinfüßchen); diese unbestimmten, veränderlichen Fortsätze des Plasma sind keine beständigen Organe. In gleicher Weise äußert sich die allgemeine organische Reizbarkeit als indifferenter Reflex auch bei den empfindlichen "Sinnpflanzen" und den niedersten Metazoen; bei diesen vielzelligen Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer zusammenhängen.
III. Viele Protisten, namenlich höher entwickelte Protozoen, sondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Organelle einfachster Art: sensible Tast-Organe und motorische Bewegungs-Organe; beide Werkzeuge sind direkte äußere Fortsätze des Protoplasma; der Reiz, welcher die ersteren trifft, wird unmittelbar durch das Psychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zusammenziehung. Besonders klar ist diese Erscheinung zu beobachten und auch experimentell festzustellen bei vielen festsitzenden Infusorien (z. B. Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den Ciliaten). Der schwächste Reiz, welcher die sehr empfindlichen Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt sofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen festgehefteten Ende. Man bezeichnet diese Erscheinung als "einfachen Reflexbogen".
IV. An diese Vorgänge im einzelligen Organismus der Infusorien schließt sich unmittelbar der interessante Mechanismus der Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen Körper vieler niederen Metazoen finden, besonders bei Nesselthieren (Polypen, Korallen). jede einzelne "Neuromuskel-Zelle" ist ein "einzelliges Reflex-Organ"; sie besitzt an der Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Theil, an dem entgegengesetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht sich zusammen, sobald der erstere gereizt wird.
V. Bei anderen Nesselthieren, namentlich bei den frei schwimmenden Medusen - welche den festsitzenden Polypen nächst verwandt sind - zerfällt die einfache Neuromuskel-Zelle in zwei verschiedene, aber durch einen Faden noch zusammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (inder Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in diesem zweizelligen Reflex-Organ ist die erstere das Elementar-Organ der Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die Verbindungsbrücke des Psychoplasma-Fadens leitet den Reiz von der ersteren zur letztere hinüber.
VI. Der wichtigste Fortschritt in der stufenweisen Ausbildung des Reflex-Mechanismus ist die Sonderung von drei Zellen; an die Stelle der eben genannten einfachen Verbindungsbrücke tritt eine selbstständige dritte Zelle, die Seelenzelle oder Ganglienzelle; damit erscheint zugleich eine neue psychische Funktion, die unbewußte "Vorstellung", deren Sitz eben diese centrale Zelle ist. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinneszelle zunächst auf diese vermittelnde Vorstellungs-Zelle oder Seelenzelle übertragen und erst von dieser als Befehl zur Bewegung an die motorische Muskelzelle abgegeben. Diese "dreizelligen Reflexorgane" sind überwiegend bei der großen Mehrzahl der wirbellosen Thiere entwickelt.
VII. An die Stelle dieser Einrichtung tritt bei den meisten Wirbelthieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle nicht eine, sondern zwei verschiedene Seelenzellen eingeschaltet werden. Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächst centripetal auf die Empfindungszelle übertragen (die sensible Seelenzelle), von dieser auf die Willenszelle (die motorische Seelenzelle) und von dieser letzteren erst auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche solche Reflex-Organe sich verbinden und neue Seelenzellen eingeschaltet werden, entsteht der kompizirte Reflex-Mechanismus des Menschen und der höheren Wirbelthiere.
I. Cellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtniß reproducirt werden. Bei mehr als viertausend Radiolarien-Arten, welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Species durch eine besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses specifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des "plastischen Distanz-Gefühls", wie ich in meiner Psychologie der Radiolarien gezeigt habe (1887, S. 121).
II Histonale Vorstellung. Schon bei den Cönobien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-Armes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später spontan reproducirt werden kann, so müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonal-Vorstellung annehmen, gebunden an das Psychoplasma der associirten Gewebe-Zellen.
III. Unbewußte Vorstellung der Ganglien-Zellen. Diese dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser Seelenthätigkeit im Thierreich; sie erscheint als eine Lokalisation des Vorstellens auf bestimmte "Seelenzellen". Im einfachsten Falle erscheint sie daher bei der Reflexthat erst auf der sechsten Stufe der Entwickelung, wenn das dreizellige Reflex-Organ gebildet ist; der Sitz der Vorstellung ist dann die mittlere Seelenzelle, welche zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle eingeschaltet ist. Mit der aufsteigenden Entwickelung des Centralnervensystems im Thierreich, seiner zunehmenden Differenzirung und Integration erhebt sich auch die Ausbildung dieser unbewußten Vorstellungen zu immer höheren Stufen.
IV. Bewußte Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den höchsten Entwickelungsstufen der thierischen Organisation entwickelt sich das Bewußtsein als eine besondere Funktion eines bestimmten Central-Organs des Nervensystems. Indem die Vorstellungen bewußte werden, und indem besondere Gehirntheile sich zur Associon der bewußten Vorstellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten psychischen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Ueberlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren, unbewußten und den jüngeren, bewußten Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den ersteren polyphyletisch entstanden sind; denn wir finden bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen des Wirbelthier-Stammes (Mensch, Säugethiere, ein Theil der niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten Vertretern anderer Thierstämme (Ameisen und andere Insekten, Spinnen und höhere Krebse unter den Gliederthieren, Cephalopoden unter den Weichthieren).
I.
II.
III. Gleicher Weise ist die dritte Stufe, das "unbewußte Gedächtniß" derjenigen Thiere, die bereits ein Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden "unbewußten Vorstellungen" zu betrachten, welche in gewissen Ganglien-Zellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Thieren ist wohl alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menschen und den höheren Thieren, denen wir Bewußtsein zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtnisses ungleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten; davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen u. s. w., täglich vollziehen.
IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Thieren vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene "innere Spiegelung", als die höchste Blüthe derselben psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren niederen thierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in den Ganglien-Zellen abspielen.
Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinkt-Formen die primären und sekundären zu unterscheiden; primäre Instinkte sind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens innewohnten und unbewußte waren, vor Allem die Triebe der Selbsterhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fortpflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der Vernunft entstanden; bei höheren Thieren sind sie später, wie beim Menschen, Gegenstände des Bewußtseins geworden. Umgekehrt verhält es sich mit den sekundären Instinkten; diese sind ursprünglich durch intelligente Anpassung entstanden, durch verständiges Nachdenken und Schließen, sowie zweckmäßiges bewußtes Handeln; allmählich sind sie so zur Gewohnheit geworden, daß diese "altera natura" unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als "angeboren" erscheint. Das ursprünglich mit diesen besonderen Instinkten der höheren Thiere und des Menschen verknüpfte Bewußtsein und Nachdenken ist im Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie bei der "abgekürzten Vererbung"). Die unbewußten zweckmäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunsttriebe) erscheinen jetzt als angeborne Instinkte. So ist auch die Entstehung der angeborenen "Erkenntnisse a priori" beim Menschen zu erklären, welche ursprünglich bei seinen Voreltern a posteriori sich empirisch entwickelt hatten.
Erst wenn des "dreizellige Reflexorgan" sich entwickelt (S. 49), wenn zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle die selbstständige dritte Zelle eingeschaltet wird, die "Seelenzelle oder Ganglienzelle", können wir diese als ein selbstständiges Elementar-Organ des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen Thieren, meistens noch unbewußt. Erst, wenn sich bei den höheren Thieren das Bewußtsein entwickelt, als subjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchste Stufe, welche ihn qualitativ dem menschlichen Willen gleichstellt, und für den man im Sprachgebrauch das Prädikat der "Freiheit" in Anspruch nimmt. Seine freie Entfaltung und Wirkung erscheint um so imposanter, je mehr sich mit der freien und schnellen Ortsbewegung das Muskelsystem und die Sinnesorgane entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.
Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst verworrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die Thatsache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im 18. und Büchner im 19. Jahrhundert. Die christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist; also bestimmte er auch das Handeln des Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen handelte, anders als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die monistischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, Allen voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechanischen Weltanschauung.
Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zu Gunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Thiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willens-Akt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelenthätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag giebt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statik der Gemüthsbewegungen bestimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die historische Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer Vertrebraten-Ahnen.
Monistische Studien über ontogenetische Psychologie. Entwickelung des Seelenlebens im individuellen Leben der Person.
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Inhalt: Bedeutung der Ontogenie für die Psychologie. Entwickelung der Kindes-Seele. Beginn der Existenz der individuellen Seele. Einschachtelung der Seele. Mytholgie des Seelen-Ursprungs. Physiologie des Seelen-Ursprungs. Elementare Vorgänge bei der Befruchtung. Kopulation der weiblichen Eizelle und der männlichen Samenzelle. Zellenliebe. Vererbung der Seele von Eltern und Voreltern. Ihre physiologische Natur als Mechanik des Plasma. Seelenmischung (psychische Amphigonie). Rückschlag, psychologischer Atavismus. Das biogenetische Grundgesetz in der Psychologie. Palingenetische Wiederholung und cenogenetische Abänderung. Embryonale und postembryonale Psychogenie.
Unsere menschliche Seele - gleichviel, wie man ihr Wesen auffaßt - unterliegt einer stetigen Entwickelung. Diese ontogenetische Thatsache ist für unsere monistische Psychologie von fundamentaler Bedeutung, obwohl die meisten "Psychologen vom Fach" ihr theils nur geringe, theils gar keine Berücksichtigung schenken. Wie nun die individuelle Entwickelungsgeschichte nach Baer's Ausdruck - und nach der jetzt allgemein herrschenden Ueberzeugung der Biologen - der "wahre Lichtträger für alle Untersuchungen über organische Körper ist", so wird dieselbe auch über die wichtigsten Geheimnisse ihres Seelenlebens uns erst das wahre Licht anzünden.
Obgleich nun diese "Keimesgeschichte der Menschen-Seele" äußerst wichtig und interessant ist, hat sie doch bisher nur in sehr beschränktem Umfange die verdiente Berücksichtigung gefunden. Es waren bisher fast ausschließlich die Pädagogen, welche sich mit einem Theile derselben beschäftigen; durch ihren praktischen Beruf darauf angewiesen, die Ausbildung der Seelenthätigkeit beim Kinde zu leiten und zu überwachen, mußten sie auch theoretisches Interesse an den dabei beobachteten psychogenetischen Thatsachen finden. Indessen standen diese Pädagogen - soweit sie überhaupt darüber nachdachten! - in der Neuzeit wie im Alterthum größtentheils im Banne der herrschenden dualistischen Psychologie; dagegen waren sie mit den wichtigsten Thatsachen der vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organization und Funktion des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erst die Kinder in schulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden Lebensjahren. Die merkwürigen Erscheinungen, welche die individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern, wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in seiner interessanten Schrift über "Die Seele des Kindes; Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren". Indessen müssen wir, um volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erste Entstehung der Seele im befruchteten Ei.
Leibniz übertrug diese Einschachtelungs-Lehre ganz folgerichtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für sie eine wahre Entwickelung (Epigenesis) ebenso wie für den Körper und sagte seiner Theodicee: "So sollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Species, dagewesen sind; daß sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfange der Dinge, immer in Form organisirter Körper existirt haben." Aehnliche Vorstellungen erhielten sich sowohl in der Biologie wie in der Philosophie noch bis in das dritte Decennium des 19. Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeschichte durch Baer den Todesstoß versetzte. Im Gebiete der Psychologie haben sie aber selbst bis auf den heutigen Tag noch vielfach Geltung; sie stellen nur eine Gruppe unter den vielen seltsamen, mysthischen Vorstellungen dar, welche die Ontogenie der Psyche auch heute noch aufweist.
Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung zusammentreffen, oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B. bei Fischen) in Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und legen sich fest an einander. Die Ursache dieser cellularen Attraktion ist eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als "erotischen Chemotopismus" bezeichnen; man kann sie auch geradezu (sowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Roman-Liebe) "Zellen-Wahlverwandtschaft" oder "sexuelle Zellenliebe" nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma schwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und versuchen in deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normaler Weise nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das ersehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald sich dieses bevorzugte "Samenthierchen" mit seinem "Kopfe" (d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimschicht abgesondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre versetzte oder sie durch narkotische Mittel (Chloroform, Morphium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieser Schutzhülle; dann trat "Ueberbefruchtung oder Polyspermie" ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten sich in den Leib der bewußtlosen Zelle ein (Anthropogenie S. 54.). Diese merkwürdige Thatsache bezeugt ebenso einen niederen Grad von "cellularem Instinkt" (oder mindestens von specifischer, sinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geschlechtszellen wie die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Innern abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig miteinander. So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle entstanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und aus deren wiederholter Theilung der ganze vielzellige Organismus hervorgeht.
Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen merkwürdigen, erst in den letzten 28 Jahren sicher beobachteten Thatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung erkannt. Wir fassen hier die wesentlichesten Folgerungen in folgenden fünf Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie jedes andere Thier, im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle. II. Diese Stammzelle (Cytula) entsteht überall auf dieselbe Weise, durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen verschiedenen Ursprungs, der weiblichen Eizelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene "Zellseele", d. h. beide sind durch eine besondere Form von Empfindung und von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Befruchtung oder Empfängniß verschmelzen nicht nur die Plasmakörper der beiden Geschlechtszellen un ihre Kerne, sondern auch die "Seelen" derselben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden sind, vereinigen sich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des "Seelenkeimes" der neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt jede Person leiblche und geistige Eigenschaften von beiden Eltern; durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väterlichen Eigenschaften.
Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der Konception wird ferner die höchst wichtige Thatsache festgestellt, daß jeder Mensch wie jedes andere Thier einen Beginn der individuellen Existenz hat; die völlige Kopulation der beiden sexuellen Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern auch ihre "Seele". Durch diese Thatsache allein schon wird der alte Mythus von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt, auf den wir später zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch sehr verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Mensch seine individuelle Existenz der "Gnade des liebenden Gottes" verdankt. Die Ursache derselben beruht vielmehr einzig und allein auf dem "Eros" seiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen vielzelligen Thieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe, welcher zu deren Begattung führt. Das Wesentliche bei diesem physiologischen Processe ist aber nicht, wie man früher annahm, die "Umarmung" oder die damit verknüpften Liebespiele, sondern einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in die weiblichen Geschlechts-Kanäle. Nur dadurch wird es bei den landbewohnenden Thieren möglich, daß der befruchtende Samen mit der abgelösten Eizelle zusammenkommt (was beim Menschen gewöhnlich innerhalb des Uterus geschieht). Bei niederen, wasserbewohnenden Thieren (z. B. Fischen, Muscheln, Medusen) werden beiderlei reife Geschlechts-Produkte einfach in das Wasser entleert, und hier bleibt ihr Zusammentreffen dem Zufall überlassen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit zugleich fallen jene zusammengesetzten psychischen Funktionen des "Liebeslebens" hinweg, die bei höheren Thieren eine so große Rolle spielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopulierenden Thieren jene interessanten Organe, die Darwin als "sekundäre Sexual-Charaktere" bezeichnet hat, die Produkte der geschlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des Hirsches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvöggel und vieler Hühner-Vögel, sowie viele anderen Auszeichnungen der Männchen, welche den Weibchen fehlen. (Vergl. Wilhelm Bölsche, Liebesleben der Natur, 3 Bände, 1901.)
Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin (1859) das wissenschaftliche Verständniß eröffnet hat, reich an dunkeln Räthseln und physiologischen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt nach, 40 Jahren, alle Seiten desselben klar vor Augen liegen. Aber so viel haben wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der Thätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müssen wir auch diese schließlich auf physikalische und chemische Processe, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen, daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete Stammzelle überträgt. Die Vermischung beider Zellkerne ist das eigentliche Hauptmoment der Vererbung; durch sie werden ebenso die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen Thatsachen steht die dualistische und mystische Psychologie der noch heute herrschenden Schulen rathlos gegenüber, während sie sich durch unsere monistische Psychogenie in einfachster Weise vollkommen erklären.
Aus diesen Thatsachen allein schon läßt sich die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erscheinungen in der organischen Natur begreifen. In extremer, aber einseitiger Konsequenz ergiebt sich daraus die Auffassung von Weismann, welcher die Amphimixis, die Mischung des Keimplasma bei der geschlechtlichen Zeugung, sogar als die allgemeine und ausschließliche Ursache der individuellen Variabilität betrachtet. Diese exklusive Auffassung, die mit seiner Theorie von der Kontinuität des Keimplasma zusammenhängt, ist nach meiner Ansicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueberzeugung fest, daß die mächtigen Gesetze der progressiven Vererbung und der damit verknüpften funktionellen Anpassung ebenso für die Seele wie für den Leib gelten. Die neuen Eigenschaften, welche des Individuum während seines Lebens erworben hat, können theilweise auf die molekulare Zusammensetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samenzelle zurückwirken und können so durch Vererbung unter gewissen Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die nächste Generation übertragen werden.
Gerade in feineren Züges des Seelenlebens, im Besitze bestimmter künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie des Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen oft hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den Eltern; nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug hervor, den weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch in diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben Vererbungsgesetze für die Psyche wie für die Physiognomie, für die individuelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts und anderer Körpertheile. Am auffälligsten können wir dieselben in regierenden Dynastien und in alten Adels-Geschlechtern verfolgten, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur genaueren historischen Darstellung der Individuen in der Generations-Kette Veranlassung gegeben hat, so z. B. bei den Hohenzollern, Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen u. s. w., und nicht minder bei den römischen Cäsaren.
Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwickelungsgeschichte der Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachduck darauf legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahr-Millionen so beträchtliche Störungen oder Cenogenesen sich ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche, reine Bild der Palingenese oder des "Geschichts-Auszuges" stark getrübt und verändert erscheint. Während einerseits durch die Gesetze der gleichzeitigen und gleichörtlichen Vererbung die palingenetische Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie andererseits durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung wesentlich cenogenetisch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190). Zunächst ist das deutlich erkennbar in der Keimesgeschichte der Seelen-Organe, des Nerven-Systems, der Muskeln und dasselbe aber auch von ver Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung dieser Organe gebunden ist. Die Keimesgeschichte derselben ist beim Menschen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren, schon deshalb stark cenogenetisch abgeändert, weil die volle Ausbildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers stattfindet. Wir müssen daher als zwei Hauptperioden der individuellen Psychogenie unterscheiden; I. die embryonale und II. die postembryonale Entwickelungsgeschichte der Seele.
Bei diesen älteren und niederen wasserbewohnenden Wirbelthieren besaß die Keimesgeschichte noch in viel höherem Grade den palingenetischen Charakter, wie es auch noch bei den meisten Fischen und Amphibien der Gegenwart der Fall ist. Die bekannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Frösche, bewahren noch heute in der ersten Zeit ihres freien Wasserlebens den Körperbau ihrer Fisch-Ahnen; sie gleichen ihnen auch in der Lebensweise, in der Kiemenathmung, in der Funktion ihrer Sinnes-Organe und ihrer anderen Seelen-Organe. Erst wenn die interessante Metamorphose der schwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn sie sich an das Landleben gewöhnen, verwandelt sich ihr fischähnlicher Körper in das vierfüßige, kriechende Amphibium; an die Stelle der Kiemen-Athmung im Wasser tritt die ausschließliche Luftathmung durch Lungen, und mit der veränderten Lebensweise erlangt auch der Seelen-Apparat, Nervensystem und Sinnes-Organe, einen höheren Grad der Ausbildung. Wenn wir die Psychogenie der Kaulquappen von Anfang bis zu Ende vollständig verfolgen könnten, würden wir das biogenetische Grundgesetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden können. Denn sie entwickeln sich unmittelbar unter den wechselnden Bedingungen der Außenwelt und müssen diesen frühzeitig ihre Empfindung und Bewegung anpassen. Die schwimmende Kaulquappe besitzt nicht nur die Organization, sondern auch die Lebensweise und Seelenthätigkeit des Fisches und erlangt erst durch ihre Verwandlung diejenige des Frosches.
Beim Menschen wie bei allen anderen Amnioten ist das nicht der Fall; ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die schützenden Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt entzogen und jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt. Außerdem aber bietet die besondere Brutpflege der Amnionthiere ihrem Keime viel günstigere Bedingungen für cenogenetische Abkürzung der palingenetischen Entwickelung. Vor Allem gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie geschieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (bei eierlegenden Säugethieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben ist, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutelthieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dottersackes und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den höchstentwickelten Zottenthieren (Placentalia) hat diese zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet sich während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keimschlafes, einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem Winterschlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener Insekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. s. w.). Hier ist der Puppenschlaf, während dessen die wichtigsten Umbildungen der Organe und Gewebe vor sich gehen, um so interessanter, als der vorhergehende Zustand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein sehr entwickeltes Seelenleben besitzt, und als dieses bedeutend unter derjenigen Stufe steht, welche später (nach dem Puppenschlaf) das vollendete, geflügelte und geschlechtsreife Insekt zeigt.
Monistische Studien über phylogenetische Psychologie. Entwickelung des Seelenlebens in der thierischen Ahnenreihe des Menschen.
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Inhalt: Stufenweise historische Entwickelung der Menschenseele aus der Thierseele. Methoden der phylogenetischen Psychologie. Vier Hauptstufen in der Stammesgeschichte der Seele. I. Zellseele (Cytopsyche) der Protisten (Infusorien, Eizelle), Cellular-Psychologie. II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche (Cönopsyche). Psychologie der Morula und der Blastula. III. Gewebe-Seele (Histopsyche). Ihre Duplicität. Pflanzenseele. Seele von nervenlosen niederen Thieren. Doppelseele der Siphonophoren (Personal-Seele und Kormal-Seele). IV. Nervenseele (Neuropsyche) bei höheren Thieren. Drei Bestandtheile ihres Seelen-Apparates: Sinnesorgane, Muskeln und Nerven. Typische Bildung des Nervenzentrums in den verschiedenen Thierstämmen. Seelenorgan der Wirbelthiere: Markrohr oder Medullarohr (Gehirn und Rückenmark). Seelen-Geschichte der Säugethiere.
Die Descendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthropologie hat uns überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer langen Reihe thierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung um Laufe vieler Jahr-Millionen langsam und stufenweise sich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen Seelenthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Entwickelung unseres ganzen Körpers und Geistes gelangt sind, so ergiebt sich auch für die moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische Entwickelung der Menschenseele aus der Thierseele stufenweise zu verfolgen. Die Lösung dieser Aufgabe versucht unsere "Stammesgeschichte der Seele" oder die Phylogenie der Psyche; man kann sie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogenetischen Psychologie oder - im Gegensatze zur biontischen (individuellen) - als phyletische Psychogenie bezeichnen. Obgleich diese neue Wissenschaft noch kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre Existenz-Berechtigung von den meisten Fach-Psychologen bestritten wird, müssen wir für sie dennoch die allerhöchste Wichtigkeit und das größte Interesse in Anspruch nehmen. Denn nach unserer festen Ueberzeugung ist sie vor Allem berufen, uns das große "Welträthsel" vom Wesen und der Entstehung unserer Seele zu lösen.
Durch kritische Deutung dieser verschiedenen Keimbildungen, deren Entstehung aus einander wir unmittelbar durch mikroskopische Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelst unseres biogenetischen Grundgesetzes die wichtigsten Aufschlüsse über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte unseres Seelenlebens; wir können deren zunächst acht unterscheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellseele: Infusorien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Katallakten; 3. älteste Metazoen mit Ephithelial-Seele: Platodarien; 3. wirbelose Ahnen mit einfachem Scheitelhirn: Vermalien; 5. schädellose Wirbelthiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn; Akranier; 6. Schädelthiere mit Gehirn (aus fünf Hirnblasen entstanden): Kranioten; 7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde: Placentalien; 8. höhere Menschen-Affen und Menschen, mit Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen. Unter diesen acht Hauptstufen in der Stammesgeschiche der menschlichen Psyche lassen sich weiterhin noch eine Anzahl von untergeordneten Entwickelungsstufen mit mehr oder weniger Klarheit unterscheiden. Selbstverständlich sind wir aber bei deren Rekonstruktion auf diejenigen lückenhaften Zeugnisse der empirischen Psychologie angewiesen, welche uns die vergleichende Anatomie und Physiologie der gegenwärtigen Fauna an die Hand giebt. Da die Schädelthiere der sechsten Stufe, und zwar echte Fische, sich schon im silurischen System versteinert finden, sind wir zu der Ansicht gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Versteinerung nicht fähigen!) Ahnen-Stufen sich schon in früherer, präsilurischer Zeit entwickelt haben.
Ueber die Seelenthätigkeit dieser einzelligen Organismen unterrichtet uns die vergleichende Physiologie der heute noch lebenden Protisten; sowohl genaue Beobachtung als sinnreiches Experiment haben uns hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues Gebiet voll höchst interessanter Erscheinungen eröffnet. Die beste Darstellung derselben hat 1889 Max Verworn gegeben, in seinen gedankenreichen, auf eigene originelle Versuche gestützten "Psychophysiologischen Protisten-Studien". Auch die wenigen älteren Beobachtungen über "das Seelenleben der Protisten" sind darin zusammengestellt. Verworn gelangte zu der festen Ueberzeugung, daß bei allen Protisten die psychischen Vorgänge noch unbewußt sind, daß die Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den molekularen Lebensprocessen im Plasma selbst zusammenfallen, und daß ihre letzten Ursachen in den Eigenschaften der Plasma-Moleküle (der Plastidule) zu suchen sind. "Die psychischen Vorgänge im Protistenreich sind daher die Brücke, welche die chemischen Processe in der unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Thiere verbindet; sie repräsentiren den Keim der höchsten psychischen Erscheinungen bei den Metazoen und dem Menschen."
Die sorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente von Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und anderen neueren Protisten-Forschern, liefern die bündigen Beweise für meine monistische "Theorie der Zellseele" (1866). Gestützt auf eigene langjährige Untersuchungen von verschiedenen Protisten, besonders von Rhizopoden und Infusorien, hatte ich schon vor 33 Jahren den Satz aufgestellt, daß jede lebendige Zelle psychische Eigenschaften besitzt, und daß also auch das Seelenleben der vielzelligen Thiere und Pflanzen nichts Anderes ist als das Resultat der psychischen Funktionen der ihren Leib zusammensetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen (z. B. Algen und Spongien) sind alle Zellen des Körpers gleichmäßig (oder mit geringen Unterschieden) daran betheiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entsprechend den Gesetzen der Arbeitstheilung, nur ein auserlesener Theil derselben, die "Seelenzellen". die bedeutungsvollen Konsequenzen dieser "Cellular-Psychologie" hatte ich theils 1876 in meiner Schrift über die "Perigenesis der Pladistule" erörtert, theils 1877 in meiner Münchener Rede "über die heutige Entwickelungslehre im Verhältniß zur Gesammtwissenschaft". Eine mehr populäre Darstellung derselben enthalten meine beiden Wiener Vorträge (1878) "über Ursprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge" und "über Zellseelen und Seelenzellen".
Die einfache Zellseele zeigt übrigens schon innerhalb des Protistenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsstufen, von ganz einfachen, primitiven bis zu sehr vollkommenen und hohen Seelen-Zuständen. Bei den ältesten und einfachsten Protisten ist das Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens vertheilt; bei den höheren Formen dagegen sondern sich als physiologische Organe derselben besondere "Zellwerkzeuge" oder Organelle. Derartige motorische Zelltheile sind die Pseudopodien der Rhizopoden, die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infusorien. Als ein inneres Central-Organ des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet, welcher den ältesten und niedersten Protisten noch fehlt. In physiologisch-chemischer Beziehung ist besonders hervorzuheben, daß die ursprünglichsten und ältesten Protisten Plasmodomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechsel, also Protophyten oder "Urpflanzen"; aus ihnen entstanden erst sekundär durch Metasitismus, die ersten Plasmophagen, mit thierischen Stoffwechsel, also Protozoen oder "Urthiere". Dieser Metasitismus, die "Umkehrung des Stoffwechsels", bedeutete einen wichtigen physiologischen Fortschritt; denn damit begann die Entwickelung jener charakteristischen Vorzüge der Thierseele, welche der Pflanzenseele noch fehlen.
Die höchste Ausbildung der thierischen Zellseele treffen wir in der Klasse der Ciliaten oder Wimper-Infusorien. Wenn wir dieselbe mit den entsprechenden Seelenthätigkeiten höherer vielzelliger Thiere vergleichen, so scheint kaum ein psychologischer Unterschied zu bestehen; die sensiblen und motorischen Organelle jener Protozoen scheinen dasselbe zu leisten wie die Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieser Metazoen. Man hat sogar in dem großen Zellkern (Meganucleus) der Infusorien ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle spiele wie das Gehirn im Seelenleben höherer Thiere. Indessen ist sehr schwer zu entscheiden, wie weit diese Vergleiche berechtigt sind; auch gehen darüber die Ansichten der speciellen Infusorien-Kenner weit auseinander. Die Einen fassen alle spontanen Körperbewegungen derselben als automatische oder impulsive, alle Reiz-Bewegungen als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweise willkürliche und absichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den Infusorien bereits ein gewisses Bewußtsein, eine einheitliche Ich-Vorstellung zuschreiben, wird diese von den Ersteren geleugnet. Gleichviel, wie man diese höchst schwierige Frage entscheiden will, so steht doch soviel fest, daß uns diese einzelligen Protozoen eine hochentwickelte Zellseele zeigen, welche für die richtige Beurtheilung der Psyche unserer ältesten einzelligen Vorfahren von höchstem Interesse ist.
Die psychologischen Thatsachen, welche wir unmittelbar bei der Bildung der Blastula beobachten können, sind theils Bewegungen, theils Empfindungen dieses Zellvereins. Die Bewegungen zerfallen in zwei Gruppen: 1. die inneren Bewegungen, welche überall in wesentlich gleicher Weise beim Vorgange der gewöhnlichen (indirekten) Zelltheilung sich wiederholen (Bildung der Kernspindel, Mitose, Karyokinese u. s. w.); 2. die äußeren Bewegungen, welche in der gesetzmäßigen Lage-Veränderung der geselligen Zellen und ihrer Gruppirung bei Bildung des Blastoderms zu Tage treten. Wir fassen diese Bewegungen als heredive und unbewußte auf, weil sie überall in gleicher Weise durch Vererbung von den älteren Ahnenreihen der Protisten bedingt sind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen unterschieden werden: 1. die Empfindungen der einzelnen Zellen, welche sich in der Behauptung ihrer individuellen Selbstständigkeit und ihrem Verhalten gegen die Nachbar-Zellen äußern (mit denen sie in Kontakt und theilweise durch Plasma-Brücken in direkter Verbindung stehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen Zellvereins oder Cönobiums, welche in der individuellen Gestaltung der Blastula als Hohlkugel zu Tage tritt (Anthropogenie S. 491).
Das kausale Verständniß der Blastula-Bildung liefert uns das biogenetische Grundgesetz, indem es die unmittelbar zu beobachtenden Erscheinungen derselben durch die Vererbung erklärt und auf entsprechende historische Vorgänge zurückführt, welche sich ursprünglich bei der Entstehung der ältesten Protisten-Cönobien, der Blastäaden, vollzogen haben (Syst. Phyl. III, 22-26). Die physiologische und psychologische Einsicht in diese wichtigen Prozesse der ältesten Zellen-Associon gewinnen wir aber durch Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden Cönobien. Solche beständige Zellvereine oder Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder Zellstöckchen bezeichnet) sind noch heute sehr verbreitet, sowohl unter den plasmodomen Urpflanzen (z. B. Paulomeen, Diatomeen, Volvocinen) als unter den plasmaphagen Urthieren (Infusorien und Rhizopoden). In allen diesen Cönobien können wir bereits neben einander zwei verschiedene Stufen der psychischen Thätigkeit unterscheiden: I. die Zellseele der einzelnen Zell-Individuen (als "Elementar-Organismen") und II. die Cönobialseele des ganzen Zellvereins.
III.
III. A.
Allerdings hat nun die neuere Pflanzen-Physiologie viele dieser "Reizbewegungen" oder Tropismen rein physikalisch erklärt, durch besondere Verhältnisse des Wachsthums, durch Turgor-Schwankungen u. s. w. Allein diese mechanischen Ursachen sind nicht mehr und nicht minder psychophysisch als die ähnlichen "Reflex-Bewegungen" bei Spongien, Polypen und anderen nervenlosen Metazoen, selbst wenn der Mechanismus derselben hier wesentlich verschieden ist. Der Charakter der Histospyche oder Gewebe-Seele zeigt sich in beiden Fällen gleichmäßig darin, daß die Zellen des Gewebes (des gesetzmäßig geordneten Zellverbandes) die von einem Theile empfangenen Reize fortleiten und dadurch Bewegungen anderer Theile oder des ganzen Organs hervorrufen. Diese Reizleitung kann hier ebenso als "Seelenthätigkeit" bezeichnet werden wie die vollkommenere Form derselben bei den Nerventhieren; sie erklärt sich anatomisch dadurch daß die socialen Zellen des Gewebes oder Zellverbandes nicht (wie man früher glaubte) getrennt an einander liegen, sondern überall durch feine Plasmafäden oder Brücken zusammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) bei der Berührung oder Erschütterung ihre ausgebreiteten Fiederblättchen schließen und die Blattstiele herabsenken, wenn die reizbare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter diese rasch zusammenklappt und die Fliege fängt, so erscheint die Empfindung lebhafter, die Reizleitung schneller und die Bewegung energischer als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeschwammes und vieler anderer Spongien.
III. B.
Dieselbe primitive Bildung scheinen auch noch die Platodarien zu besitzen, die ältesten und einfachsten Formen der Plattenthiere (Platodes). Einige von diesen Kryptocölen (Convoluta u. s. w.) haben noch kein gesondertes Nervensystem, während dasselbe bei ihren nächstverwandten Epigonen, den Strudelwürmern (Turbellaria), bereits von der Hautdecke sich abgesondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.
IV.
Die großen Fortschritte der Anatomie und Physiologie, der Histologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unsere tiefere Kenntniß des Seelen-Apparates mit einer Fülle der interessantesten Entdeckungen bereichert. Wenn die spekulative Philosophie auch nur die wichtigsten von diesen bedeutungsvollen Erwerbungen der empirischen Biologie in sich aufgenommen hätte, müßte sie heute schon eine ganz andere Physiognomie zeigen, als es leider der Fall ist. Da eine eingehende Besprechung derselben uns hier zu weit führen würde, beschränke ich mich darauf, nur das Wichtigste hervorzuheben.
Jeder der höheren Thierstämme besitzt sein eigenthümliches Seelen-Organ; in jedem ist das Central-Nervensystem durch eine besondere Gestalt, Lage und Zusammensetzung ausgezeichnet. Unter den strahlig gebauten Nesselthieren (Cnidaria) zeigen die Medusen einen Nervenring am Schirmrande, meistens mit vier oder acht Ganglien ausgestattet. Bei den fünfstrahligen Sternthieren (Echinoderma) ist der Mund von einem Nervenring umgeben, von welchem fünf Nervenstämme ausstrahlen. Die zweiseitig-symmetrischen Plattenthiere (Platodes) und Wurmthiere (Vermalia) besitzen ein Scheitelhirn oder Akroganglion, zusammengesetzt aus ein paar dorsalen, oberhalb des Mundes gelegenen Ganglien; von diesen "oberen Schlundknoten" gehen zwei seitliche Nerven-Stämme an die Haut und die Muskeln. Bei einem Theile der Vermalien und bei den Weichthieren (Mollusca) treten dazu noch ein paar ventrale "untere Schlundknoten", welche sich mit den ersteren durch einen den Schlund umfassenden Ring verbinden. Dieser "Schlundring" kehrt auch bei den Gliederthieren (Articulata) wieder, setzt sich aber hier auf der Bauchseite des langgestreckten Körpers in ein "Bauchmark" fort, einen strickleiterförmigen Doppelstrang, welcher in jedem Gliede zu einem Doppel-Ganglion anschwillt. Ganz entgegengesetzte Bildung des Seelen-Organs zeigen die Wirbelthiere (Vertebrata); hier findet sich allgemein auf der Rückenseite des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark entwickelt; aus einer Anschwellung seines vorderen Theiles entsteht später das charakteristische blasenförmige Gehirn.
Obgleich nun so die Seelen-Organe der höheren Thierstämme in Lage, Form und Zusammensetzung sehr charakteristische Verschiedenheiten zeigen, ist doch die vergleichende Anatomie im Stande gewesen, für die meisten einen gemeinsamen Ursprung nachzuweisen, aus dem Scheitelhirn der Platoden und Vermalien; und allen gemeinsam ist die Entstehung aus der äußersten Zellenschicht des Keimes, aus dem "Hautsinnesblatt" (Ektoderm). Ebenso finden wir in allen Formen der nervösen Centralorgane dieselbe wesentliche Struktur wieder, die Zusammensetzung aus Ganglien-Zellen oder "Seelenzellen" (den eigentlichen aktiven Elementar-Organen der Psyche) und aus Nervenfasern, welche den Zusammenhang und die Leitung der Aktion vermitteln.
Das lange dorsale, so entstandene cylindrische Nervenrohr oder Medullar-Rohr ist durchaus für die Wirbelthiere charakteristisch, in der frühen Embryonal-Anlage überall dasselbe und die gemeinsame Grundlage aller der verschiedenen Formen des Seelen-Organs, die sich später daraus entwickeln. Nur eine einzige Gruppe von wirbellosen Thieren zeigt eine ähnliche Bildung; das sind die seltsamen meerbewohnenden Mantelthiere (Tunicata), die Kopelaten, Ascidien und Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlichkeiten des Körperbaues (besonders in der Bildung der Chorda und des Kiemendarmes) auffallende Unterschiede zu den übrigen Wirbellosen und Uebereinstimmung mit den Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide Thierstämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer gemeinsamen älteren Stammgruppe von Vermalien hervorgegangen sind, aus den Prochordoniern. Ein wichtiger Unterschied beider Stämme besteht darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine sehr einfache Organisation behält (die meisten sitzen später auf dem Meeresboden fest und werden rückgebildet). Bei den Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteristische innere Gliederung des Körpers ein, die "Urwirbelbildung" (Vertebratio). Diese vermittelt die weit höhere morphologische und physiologische Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt im Menschen die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie prägt sich auch frühzeitig schon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher segmentaler Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder "Spinal-Nerven" an die einzelnen Körpersegmente gehen.
I. Erste Stufe: Schädellose (Acrania), heute nur noch vertreten durch den Lanzelot (Amphioxus); das Seelenorgan bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs stehen und stellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn. II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma), die älteste Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch die Pricken (Petromyzontes) und die Inger (Myxinoides); das Vorderende des Markrohrs schwillt zu einer Blase an, welche sich in fünf hinter einander liegende Hirnblasen sondert (Großhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); diese fünf Hirnblasen bilden die gemeinsame Grundlage, aus welcher sich das Gehirn sämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken bis zum Menschen hinauf. III. Dritte Stufe; Urfische (Selachii), ähnlich den heutigen Haifischen; bei diesen ältesten Fischen, von denen alle Kiefermäuler Gnathostoma) abstammen beginnt die stärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblasen. IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieser ältesten Klasse der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerst in der Steinkohlen-Periode erscheinen, beginnt die characteristische Körperbildung der Vierfüßer (Tetrapoda) und eine entsprechende Umbildung des Fischgehirns; sie schreitet weiter fort in ihren permischen Epigonen, den Reptilien, deren älteste Vertreter, die Stammreptilien (Tocosauria), die gemeinsamen Stammformen aller Amnioten sind (der Reptilien und Vögel einerseits, der Säugethiere andererseits). V. bis VIII. Fünfte bis achte Stufe: Säugethiere (Mammalia).
Die Bildungsgeschichte unseres Nervensystems und die damit verknüpfte Stammesgeschichte unserer Seele habe ich in meiner "Anthropogenie" ausführlich behandelt und durch zahlreiche Abbildungen erläutert (V. Aufl., 24. Vortrag). Ich muß daher hier darauf verweisen, sowie auf die Anmerkungen, in denen ich einige der wichtigsten Thatsachen besonders hervorgehoben habe. Dagegen lasse ich hier noch einige Bemerkungen über den letzten und interessantesten Theil derselben folgen, über die Entwickelung der Seele und ihrer Organe innerhalb der Säugethier-Klasse: ich erinnere dabei besonders daran, daß der monophyletische Ursprung dieser Klasse, die Abstammung aller Säugethiere von einer gemeinsamen Stammform (der Trias-Periode), jetzt sicher festgestellt. ist.
Monistische Studien über bewußtes und unbewußtes Seelenleben. Entwickelungsgeschichte und Theorie des Bewußtseins.
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Inhalt: Das Bewußtsein als Naturerscheinung. Begriff desselben. Schwierigkeiten der Beurtheilung. Sein Verhältniß zum Seelenleben. Unser menschliches Bewußtsein. Verschiedene Theorien: I. Anthropistische Theorie (Descartes). II. Neurologische Theorie (Darwin). III Animalische Theorie (Schopenhauer). IV. Biologische Theorie (Fechner). V. Cellulare Theorie (Fritz Schultze). IV. Atomistische Theorie. Monistische und dualistische Theorie. Transcendenz des Bewußtseins. Ignorabimus (Du Bois-Reymond). Physiologie des Bewußtseins. Entdeckung der Denkorgane (Flechsig). Pathologie. Doppeltes und intermittirendes Bewußtsein. Ontogenie des Bewußtseins; Veränderung in den verschiedenen Lebensaltern. Phylogenie des Bewußtseins. Begriffs-Bildung.
Unter allen Aeußerungen des Seelenlebens giebt es keine, die so wunderbar erscheint und so verschieden beurtheilt wird wie das Bewußtsein. Nicht allein über das eigentliche Wesen dieser Seelenthätigkeit und über ihr Verhältniß zum Körper, sondern auch über ihre Verbreitung in der organischen Welt, über ihre Entstehung und Entwickelung stehen sich noch heute, wie seit Jahrtausenden, die widersprechendsten Ansichten gegenüber. Mehr als jede andere psychische Funktion hat das Bewußtsein zu der irrthümlichen Vorstellung eines "immatierellen Seelenwesens" und im Anschluß daran zu dem Aberglauben des "persönlichen Unsterblichkeit" Veranlassung gegeben; viele der schwersten Irrthümer, die unser modernes Kultur-Leben noch heute beherrschen, sind darauf zurückzuführen. Ich habe daher schon früher das Bewußtsein als das "psychologische Central-Mysterium" bezeichnet; es ist die feste Citadelle aller mystischen und dualistischen Irrthümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der bestgerüsteten Vernunft zu scheitern drohen. Schon diese Thatsache allein rechtfertigt es, daß wir hier dem Bewußtsein eine besondere kritische Betrachtung von unserem monistischen Standpunkte aus widmen. Wir werden sehen, daß das Bewußtsein nicht mehr und nicht minder wie jede andere Seelenthätigkeit eine Natur-Erscheinung ist, und daß es gleich allen anderen Natur-Erscheinungen dem Substanz-Gesetz unterworfen ist.
I.
II.
III
IV.
V.
VI.
Ich selbst habe diese Hypothese des Atombewußtseins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier besonders hervorzuheben, weil E. Du Bois-Reymond mir diese Ansicht fälschlicherweise untergeschoben hat. In der scharfen Polemik, welche derselbe (1880) in seiner Rede über "die sieben Welträthsel" gegen mich führt, bekämpft er meine "verderbliche falsche Natur-Philosophie" auf das Heftigste und behauptet, ich hätte in meinem Aufsatz über die Perigenesis der Plastidule die "Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtsein haben, als metaphysisches Axiom hingestellt". Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren psychischen Thätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuschreiben kann, unbewußt vorstelle, ebenso unbewußt, wie das elementare Gedächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Physiologen Ewald Hering (1870) als "eine allgemeine Funktion der organisirten Materie" (besser der lebendigen Substanz") betrachte. Du Bois-Reymond verwechselt hier in auffälliger Weise "Seele" und "Bewußtsein"; ich will dahin gestellt sein lassen, ob er diese Konfusion nur aus Versehen begeht. Da er selbst das Bewußtsein für eine transcendente Erscheinung erklärt, einen Theil der anderen Seelen-Funktionen (z.B. Sinnes-Thätigkeit) aber nicht, muß ich annehmen, daß er beide Begriffe für verschieden hält. Aus anderen Stellen seiner eleganten Reden geht freilich das Gegentheil hervor, wie denn überhaupt dieser berühmte Rhetor sich gerade in Bezug auf wichtige Principien-Fragen oft auffallend widerspricht. Ich betone hier nochmals, daß für mich das Bewußtsein nur einen Theil der Seelen-Erscheinungen bildet, die wir am Menschen und den höheren Thieren beobachten, während der weitaus größere Theil derselben unbewußt abläuft.
Der Kürze halber, und zugleich um das Wesen des Leipziger Vortrages mit einem Schlagworte zu charakterisieren, habe ich dieselbe als "Ignorabimus-Rede" bezeichnet; es ist dies um so mehr gestattet, als E. Du Bois-Reymond selbst acht Jahre später (in der Rede über die sieben Welträthsel, 1880) den außerordentlichen Erfolg derselben mit berechtigtem Stolze rühmen und dabei sagen konnte; "Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort 'Ignorabimus', in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth." Thatsächlich erschollen die lauten "Töne des freudig zustimmenden Lobes" aus den Hörsälen der dualistischen und spiritualistischen Philosophie und besonders aus dem Heerlager der Ecclesia militans (der "schwarzen Internationale"); aber auch alle Spiritualisten und alle gläubigen Gemüther, welche durch das 'Ignorabimus' die Unsterblichkeit ihrer theuren "Seele" gerettet wähnten, waren davon entzückt. Den "wegwerfendsten Tadel erfuhr die glänzende Ignorabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Naturforscher und Philosophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphilosophische Kenntnisse und über den erforderlichen moralischen Muth verfügten, um den dogmatischen Machtsprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner selbst später gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt sich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieselbe unzweifelhaft "ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk, eine schöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber die Mehrheit - und besonders das "schöne Geschlecht"! - eine schöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerthe" (Monismus S. 44). Innerlich analysirt dagegen enthält die Ignorabimus-Rede das entschiedene Programm des metaphysischen Dualismus: die Welt ist "doppelt unbegreiflich": einmal die materielle Welt, in welcher "Materie und Kraft" ihr Wesen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des "Geistes", in welcher "Denken und Bewußtsein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar" sind, wie bei der ersteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrschende Dualismus und Mysticismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender principieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz seiner "schönen Reden"!), ebenso wie alle anderen sachkundigen, klaren und konsequent denkenden Naturforscher der Gegenwart.
Allerdings hat der Verfasser der Ignorabimus-Rede am Schlusse derselben kurz auf die Frage hingewiesen, ob nicht jene beiden gegenüberstehenden "Welträthsel", das allgemeine Substanz-Problem und besondere Bewußtseins-Problem, zusammenfallen. Er sagt: "Freilich ist diese Vorstellung die einfachste und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig." - Dieser letzteren Ansicht bin ich von Anfang an entschieden entgegengetreten und habe mich zu zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht zwei verschiedene Welträthsel sind. "Das neurologische Problem des Bewußtseins ist nur ein besonderer Fall von dem allumfassende kosmologischen Problem, der Substanz-Frage." (Monismus, 1892, S. 23).
Es ist hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende Polemik und die sehr umfangreiche, darüber entstandene Literatur einzugehen. Ich habe schon vor 30 Jahren, im Vorwort zur ersten Auflage meiner Anthropogenie, gegen die Ignorabimus-Rede, ihre dualistischen Principien und ihre metaphysischen Trugschlüsse entschiedenen Protest erhoben, und ich habe denselben ausführlich begründet in meiner Schrift über "Freie Wissenschaft und freie Lehre" (Stuttgart 1878, s. 78, 82 etc.). Auch in "Monismus" habe ich denselben wieder berührt (S. 23, 44). Du Bois-Reymond, welcher dadurch an seiner empfindlichsten Stelle getroffen war, antwortete sehr gereizt in verschiedenen Reden; auch diese sind, wie die meisten seiner vielgelesenen Reden, blendend durch den eleganten französischen Stil und fesselnd durch den Bilderreichthum und die überraschenden Redewendungen. Aber eine wesentliche Förderung der Welterkenntniß liefert ihre oberflächliche Betrachtungsweise nicht. Am wenigsten gilt das vom Darwinismus, als dessen Anhänger sich der Berliner Physiologe später bedingungsweise bekennt, obgleich er nie das Geringste zu seiner Förderung gethan hat; seine absprechenden Bemerkungen über das biogenetische Grundgesetz, seine Verwerfung der Stammesgeschichte u. s. w. bekunden hinlänglich, daß derselbe weder mit den empirschen Thatsachen der vergleichenden Morphologie und Entwickelungsgeschichte hinreichend vertraut, noch zu der philosophischen Würdigung ihrer hohen theoretischen Bedeutung befähigt war.
Physiologische Beobachtung und Experiment haben seit zwanzig Jahren den sicheren Beweis geführt, daß derjenige engere Bezirk des Säugethier-Gehirns, den man in diesem Sinne als "Sitz" (besser als "Organ") des Bewußtseins bezeichnet, ein Theil des Großhirns ist, und zwar jener spät entstandene "graue Mantel" oder die "Großhirnrinde", welche aus dem konvexen Dorsal-Theil der primären Hirnblase, des Vorderhirns, sich entwickelt. Aber auch die morphologische Begründung dieser physiologischen Erkenntniß ist den bewunderungswürdigen Fortschritten der mikroskopischen Gehirn-Anatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten Forschungs-Methoden der neuesten Zeit verdanken (Kölliker, Flechsig, Golgi, Edinger, Weigert u. s. w.).
Wohl die wichtigste von diesen Erkenntnissen ist die Entdeckung der Denkorgane durch Paul Flechsig in Leipzig; er wies nach, daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der centralen Sinnesorgane oder "innere Enpfindungssphären" liegen, die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptslappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Zwischen diesen vier "Sinnesherden" liegen die vier großen "Denkherde" oder Associons-Centren, die realen Organe des Geisteslebens; sie sind jene höchsten Werkzeuge der Seelenthätigkeit, welche das Denken und das Bewußtsein vermitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Associons-Centrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Associons-Centrum, hinten das Principalhirn oder das "große occipito-temporaleAssocions-Centrum" (das wichtigste von allen!) und endlich tief unten, im Innern versteckt, das Inselhirn oder "die Reilsche Insel", das insulare Associons-Centrum. Dieser vier Denkherde, durch eigenthümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren "Denkorgane", die einzigen Organe unseres Bewußtseins. In neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, daß in einem Theile derselbe sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugethieren fehlen, und welche die Ueberlegenheit des menschlichen Bewußtseins erklären.
Alle diese und andere bekannte Thatsachen beweisen, daß das Bewußtsein beim Menschen - und genau ebenso bei den nächstverwandten Säugethieren - veränderlich ist, und daß seine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung u s. w.). Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des alternirenden oder doppelten Bewußtseins, welche an einen "Generationswechsel der Vorstellungen" erinnern; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen Tagen, unter veränderten Umständen ein ganz verschiedenes Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern gethan hat; gestern konnte er sagen; Ich bin Ich; - heute muß er sagen; Ich bin ein Anderer. Solche Intermissionen des Bewußtseins können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre dauern, sie können selbst bleibend werden.
Auch jene höchste Entwickelungsstufe des Bewußtseins, welche nur der Kulturmensch erreicht, hat sich erst allmählich und stufenweise - eben durch den Fortschritt der Kultur selbst - aus niederen Zuständen entwickelt, wie wir sie noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns schon die Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Begriffe eng verknüpft ist. Je höher sich beim denkenden Kultur-Menschen die Begriffs-Bildung entwickelt, je mehr er fähig wird, aus zahlreichen verschiedenen Einzelheiten die gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen und unter allgemeine Begriffe zu bringen, desto klarer und tiefer wird damit sein Bewußtsein.
Monistische Studien über Thanatismus und Athanismus. Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Aggregatszustand der Seelen-Substanz
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Inhalt: Die Citadelle des Aberglaubens. Athanismus und Thanatismus. Individueller Charakter des Todes. Unsterblichkeit der Einzelligen (Protisten). Kosmische und persönliche Unsterblichkeit. Primärer Thanatismus (bei Naturvölkern). Sekundärer Thanatismus (bei älteren und neueren Philosophen). Athanismus und Religion. Entstehung des Unsterblichkeitsglaubens. Christlicher Athanismus. Das ewige Leben. Das jüngste Gericht. Metaphysischer Athanismus. Seelen-Substanz. Aether-Seele. Luft-Seele. Flüssige und feste Seelen. Unsterblichkeit der Thierseele. Beweise für und gegen den Athanismus. Athanistische Illusionen.
Indem wir uns von der genetischen Betrachtung der Seele zu der großen Frage ihrer "Unsterblichkeit" wenden, betreten wir jenes höchste Gebiet des Aberglaubens, welches gewissermaßen die unzerstörbare Citadelle aller mystischen und dualistischen Vorstellungs-Kreise bildet. Denn bei dieser Kardinal-Frage knüpft sich an die rein philosophischen Vorstellungen mehr als bei jedem anderen Problem das egoistische Interesse der menschlichen Person, welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod hinaus garantirt haben will. Dieses "höhere Gemüths-Bedürfniß" ist so mächtig, daß es alle logischen Schlüsse der kritischen Vernunft über den Haufen wirft. Bewußt oder unbewußt werden bei den meisten Menschen alle übrigen allgemeinen Ansichten, also auch die ganze Weltanschauung, von dem Dogma der persönlichen Unsterblichkeit beeinflußt, und an diesen theoretischen Irrthum knüpfen sich praktische Folgerungen von weistestreichender Wirkung. Es wird daher unsere Aufgabe sein, alle Seiten dieses wichtigen Dogmas kritisch zu prüfen und seine Unhaltbarkeit gegenüber den empirischen Erkenntnissen der modernen Biologie nachzuweisen.
Indem wir hier das physiologische Problem des Todes berühren, betonen wir nochmals den individuellen Charakter dieser organischen Natur-Erscheinung. Wir verstehen unter Tod ausschließlich das definitive Aufhören der Lebensthätigkeit des organischen Individuums, gleichviel welcher Kategorie oder welcher Stufenfolge der Individualität das betreffende Einzelwesen angehört. Der Mensch ist todt, wenn seine Person stirbt, gleichviel ob er gar keine Nachkommenschaft hinterlassen hat, oder ob er Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen sich durch viele Generationen fruchtbar fortpflanzen. Man sagt ja in gewissem Sinne, daß der "Geist" großer Männer (z. B. in einer Dynastie hervorragender Herrscher, in einer Familie talentvoller Künstler) durch Generationen fortlebt; und ebenso sagt man, daß die "Seele" ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern sich forterhält. Allein in diesen Fällen handelt es sich stets um verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine abgelöste mikroskopische Zelle (die Spermazelle des Vaters, die Eizelle der Mutter) gewisse Eigenschaften der Substanz auf die Nachkommen überträgt. Die einzelnen Personen, welche jene Geschlechtszellen zu Tausenden produciren, bleiben trotzdem sterblich, und mit ihrem Tode erlischt ihre individuelle Seelen-Thätigkeit ebenso wie jede andere physiologische Funktion.
Während der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters wagte begreiflicher Weise nur selten ein kühner Freidenker seine abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beispiele von Galilei, von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philosophen, welche von den "Nachfolgern Christi" der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden, schreckten genügend jedes freie Bekenntniß ab. Dieses wurde erst wieder möglich, nachdem die Reformation und die Renaissance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geschichte der neueren Philosophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menschliche Vernunft dem Aberglauben der Unsterblichkeit zu entrinnen versuchte. Immerhin verlieh demselben trotzdem die enge Verknüpfung mit dem christlichen Dogma auch in den freieren protestantischen Kreisen solche Macht, daß selbst die meisten überzeugten Freidenker ihre Meinung still für sich behielten. Nur selten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei zu bekennen. Besonders geschah dies in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von Voltaire, Danton, Mirabeau u. A., ferner von den Hauptvertretern des damaligen Materialismus, Holbach, Lamettrie u. A. Dieselbe Ueberzeugung vertrat auch der geistreiche Freund der Letzteren, der größte aller Hohenzollern-Fürsten, der monistische "Philosoph von Sans-Souci". Was würde Friedrich der Große, dieser "gekrönte Thanatist und Atheist", sagen, wenn er heute seine monistischen Ueberzeugungen mit denjenigen seiner Nachfolger vergleichen könnte!
Unter den denkenden Aerzten ist die Ueberzeugung, daß mit dem Tode des Menschen auch die Existenz seiner Seele aufhöre, wohl seit Jahrhunderten sehr verbreitet gewesen; aber auch sie hüteten sich meistens wohl, dieselbe auszusprechen. Auch blieb immerhin noch im 18. Jahrhundert die empirische Kenntniß des Gehirns so unvollkommen, daß die "Seele" als ein räthselhafter Bewohner desselben ihre freie Existenz fortfristen konnte. Endgültig beseitigt wurde dieselbe erst durch die Riesenfortschritte der Biologie im 19. Jahrhundert, und besonders in dessen zweiter Hälfte. Die Begründung der Descendenz-Theorie und der Zellen-Theorie, die überraschenden Entdeckungen der Ontogenie und der Experimental-Physiologie, vor Allem aber die bewunderswürdigen Fortschritte der mikroskopischen Gehirn-Anatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden Boden, so daß jetzt nur selten ein fachkundiger und ehrlicher Biologe noch für die Unsterblichkeit der Seele eintritt. Die monistischen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts (Strauß, Feuerbach, Büchner, Rau, Spencer u. s. w.) sind sämmtlich überzeugte Thanatisten.
Ganz andes gestaltet sich der Begriff der specifischen Seelen-Substanz bei jenen dualistischen Philosophen, welche eine solche annehmen. Die unsterbliche "Seele" soll dann zwar materiell sein, aber doch unsichtbar und ganz verschieden von dem sichtbaren Körper, in welchem sie wohnt. Die Unsichtbarkeit der Seele wird dabei als ein sehr wesentliches Attribut derselben betrachtet. Einige vergleichen dabei die Seele mit dem Aether und betrachten sie gleich diesem als einen äußerst feinen und leichten, höchst beweglichen Stoff oder ein imponderables Agens, welches überall zwischen den wägbaren Theilchen des lebendigen Organismus schwebt. Andere hingegen vergleichen die Seele mit dem wehenden Winde und schreiben ihr also einen gasförmigen Zustand zu; und dieser Vergleich ist ja auch derjenige, welcher zuerst bei den Naturvölkern zu der später so allgemein gewordenen dualistischen Auffassung führte. Wenn der Mensch starb, blieb der Körper als todte Leiche zurück; die unsterbliche Seele aber "entfloh mit dem letzten Athemzuge".
Diese Ueberzeugung von der individuellen Unsterblichkeit der Thiere ist denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter und neuer Zeit zu finden; aber auch jetzt noch bei vielen denkenden Menschen, welche für sich selbst ein "ewiges Leben" in Anspruch nehmen und gleichzeitig eine gründliche empirische Kenntniß des Seelenlebens der Thiere besitzen. Ich kannte einen alten Oberförster, der frühzeitig verwitwet und kinderlos, mehr als dreißig Jahre einsam in einem herrlichen Walde von Ostpreußen gelebt hatte. Seinen einzigen Umgang bildeten einige Dienstleute, mit denen er nur die nöthigsten Worte wechselte, und eine große Meute der verschiedensten Hunde, mit denen er im innigsten Seelen-Verkehr lebte. Durch vieljährige Erziehung und Dressur derselben hatte sich dieser feinsinnige Beobachter und Naturfreund tief in die individuelle Psyche seiner Hunde eingelebt, und er war von deren persönlicher Unsterblichkeit ebenso fest überzeugt, wie von seiner eigenen. Einzelne seiner intelligentesten Hunde standen nach seinem objektiven Vergleiche auf einer höheren psychischen Stufe als seine alte, stumpfsinnige Magd und der rohe, einfältige Knecht. Jeder unbefangene Beobachter, der Jahre lang das bewußte und intelligente Seelenleben ausgezeichneter Hunde studirt, der aufmerksam die physiologischen Vorgänge ihres Denkens, Urtheilens, Schließens verfolgt hat, wird zugeben müssen, daß sie mit gleichem Rechte die "Unsterblichkeit" für sich in Anspruch nehmen können wie der Mensch.
Wollten wir alle die einzelnen Gründe analysiren, welche für den Unsterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden sind, so würde sich ergeben, daß nicht ein einziger derselben wirklich wissenschaftlich ist; kein einziger verträgt sich mit den klaren Erkenntnissen, welche wir duch die physiologische Psychologie und die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen haben. Der theologische Beweis, daß ein persönlicher Schöpfer dem Menschen eine unsterbliche Seele (meistens als Theil seiner eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, ist reiner Mythus. Der kosmologische Beweis, daß die "sittliche Weltordnung" die ewige Fortdauer der menschlichen Seele erfordere, ist unbegründetes Dogma. Der teleologische Beweis, daß die "höhere Bestimmung" des Menschen eine volle Ausbildung seiner mangelhaften irdischen Seele im Jenseits erfordere, beruht auf einem falschen Anthropismus. Der moralische Beweis, daß die Mängel und die unbefriedigten Wünsche des irdischen Daseins durch eine "ausgleichende Gerechtigkeit" im Jenseits befriedigt werden müssen, ist ein frommer Wunsch, weiter nichts. Der ethnologische Beweis, daß der Glaube an die Unsterblichkeit ebenso wie an Gott eine angeborene, allen Menschen gemeinsame Wahrheit sei, ist ein thatsächlicher Irrthum. Der ontologische Beweis, daß die Seele als ein "einfaches, immaterielles und untheilbares Wesen" unmöglich mit dem Tode verschwinden könne, beruht auf einer ganz falschen Auffassung der psychischen Erscheinungen; sie ist ein spiritualistischer Irrthum. Alle diese und andere ähnliche "Beweise für den Athanismus" sind hinfällig geworden; sie sind durch die wissenschaftliche Kritik der letzten Decennien definitiv widerlegt.
Das menschliche "Gemüths-Bedürfniß" hält den Unsterblichkeits-Glauben besonders aus zwei Gründen fest, erstens in der Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben im Jenseits, und zweitens in der Hoffnung auf ein Wiedersehen der theuren Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entrissen hat. Was zunächst die erste Hoffnung betrifft, so entspricht sie einem natürlichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar subjektiv berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt ist. Wir erheben Ansprüche auf ein Entschädigung für die zahllosen Mängel und traurigen Erfahrungen dieses irdischen Daseins, ohne irgend eine reale Aussicht oder Garantie dafür zu besitzen. Wir verlangen eine unbegrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Lust und Freude, keine Unlust und keinen Schmerz erfahren wollen. Die Vorstellungen der meisten Menschen über dieses "selige Leben im Jenseits" sind höchst seltsam und um so sonderbarer, als darin die "immaterielle Seele" sich an höchst materiellen Genüssen erfreut. Die Phantasie jeder gläubigen Person gestaltet sich diese permanente Herrlichkeit entsprechend ihren persönlichen Wünschen. Der amerikanische Indianer, dessen Athanismus Schiller in seiner nadowessischen Todtenklage so anschaulich schildert, hofft in seinem Paradiese die herrlichsten Jagdgründe zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo erwartet dort sonnenbestrahlte Eisflächen mit einer unerschöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der sanfte Singhalese gestaltet sich sein jenseitiges Paradies entsprechend dem wunderbaren Insel-Paradiese Ceylon mit seinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur setzt er voraus, daß jederzeit unbegrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüssen und anderen Früchten bereit stehen; der mohammedanische Araber ist überzeugt, daß in seinem Paradiese blumenreiche, schattige Gärten sich ausdehnen, durchrauscht von kühlen Quellen und bevölkert mit den schönsten Mädchen; der katholische Fischer in Sicilien erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köstlichsten Fische und der feinsten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evangelische Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothischen Dom, in welchem "ewige Lobgesänge auf den Herrn der Heerscharen" ertönen. Kurz, jeder Gläubige erwartet von seinem ewigen Leben in Wahrheit eine direkte Fortsetzung seines individuellen Erden-Daseins, nur in einer bedeutend "vermehrten und verbesserten Auflage".
Besonders muß hier noch die durchaus materialistische Grundanschauung des christlichen Athanismus betont werden, die mit dem absurden Dogma von der "Auferstehung des Fleisches" eng zusammenhängt. Wie uns Tausende von Oelgemälden berühmter Meister versinnlichen, gehen die "auferstandenen Leiber" mit ihren "wiedergeborenen Seelen" droben im Himmel gerade so spazieren, wie hier im Jammerthal der Erde; sie schauen Gott mit ihren Augen, sie hören seine Stimme mit ihren Ohren, sie singen Lieder zu seien Ehren mit ihrem Kehlkopf u. s. w. Kurz, die modernen Bewohner des christlichen Paradieses sind ebenso Doppelwesen von Leib und Seele, ebenso mit allen Organen des irdischen Leibes ausgestattet, wie unsere Altvorderen in Odins Saal zu Walhalla, wie die "unsterblichen" Türken und Araber in Mohammeds lieblichen Paradies-Gärten, wie die altgriechischen Halbgötter und Helden an Zeus Tafel im Olymp, im Genusse von Nektar und Ambrosia.
Man mag sich dieses "ewige Leben" im Paradiese aber noch so herrlich ausmalen, so muß dasselbe auf die Dauer unendlich langweilig werden. Und nun gar "Ewig!" Ohne Unterbrechung diese ewig individuelle Existenz fortführen! Der tiefsinnige Mythus vom "Ewigen Juden", das vergebliche Ruhesuchen des unseligen Ahasverus sollte uns über den Werth eines solchen "ewigen Lebens" aufklären! Das Beste, was wir uns nach einem tüchtigen, nach unserem besten Gewissen gut angewandten Leben wünschen können, ist der ewige Friede des Grabes: "Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe!"
Jeder vernünftige Gebildete, der die geologische Zeitrechnung kennt und der über die lange Reihe der Jahrmillionen in der organischen Erdgeschichte nachgedacht hat, muß bei unbefangenem Urtheil zugeben, daß der banale Gedanke des "ewigen Lebens" auch für den besten Menschen kein herrlicher Trost, sondern eine furchtbare Drohung ist. Nur Mangel an klarem Urtheil und folgerichtigem Denken kann dies bestreiten.
Den besten und den am meisten berechtigten Grund für den Athanismus giebt die Hoffnung, im "ewigen Leben" die theueren Angehörigen und Freunde wieder zu sehen, von denen uns hier auf Erden ein grausames Schicksal früh getrennt hat. Aber auch dieses vermeintliche Glück erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion; und jedenfalls würde es stark durch die Aussicht getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen Bekannten und den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier unser Dasein getrübt haben. Selbst die nächsten Familien-Verhältnisse dürften dann doch manche Schwierigkeiten bereiten! Viele Männer würden gewiß gern auf alle Herrlichkeiten des Paradieses verzichten, wenn sie die Gewißheit hätten, dort "ewig" mit ihrer "besseren Hälfte" oder gar mit ihrer Schwiegermutter zusammen zu sein. Auch ist es fraglich, ob dort König Heinrich VIII von England mit seinen sechs Frauen sich dauernd wohl fühlte; oder gar König August der Starke von Polen, der seine Liebe über 100 Frauen schenkte und mit ihnen 352 Kinder zeugte! Da derselbe mit dem Papste, als dem "Statthalter Gottes", auf dem besten Fuße stand, müßte auch er das Paradies bewohnen, trotz aller seiner Mängel und trotzdem seine thörichten Kriegs-Abenteuer mehr als hunderttausend Sachsen das Leben kosteten.
Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen Athanisten die Frage, in welchem Stadium ihrer individuellen Entwickelung die abgeschiedene Seele ihr "ewiges Leben" fortführen soll? Sollen die Neugeborenen erst im Himmel ihre Seele entwickeln, unter demselben harten "Kampf ums Dasein", der den Menschen hier auf der Erde erzieht? Soll der talentvolle Jüngling, der dem Massen-Morde des Krieges zu Opfer fällt, erst in Walhalla seine reichen, ungenutzten Geistesgaben entwickeln? Soll der altersschwache, kindisch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit dem Ruhm seiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geist fortleben? Oder soll er sich gar in ein früheres Blüthe-Stadium zurück entwickeln? Wenn aber die unsterblichen Seelen im Olymp als vollkommene Wesen verjüngt fortleben sollen, dann ist auch der Reiz und das Interesse der Persönlichkeit für sie ganz verschwunden.
Ebenso unhaltbar erscheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der anthropistische Mythus vom "jüngsten Gericht", von der Scheidung aller Menschen-Seelen in zwei große Haufen, von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieses, der andere zu den ewigen Qualen der Hölle bestimmt ist - und das von einem persönlichen Gotte, welcher "der Vater der Liebe" ist! Hat doch dieser liebende Allvater selbst die Bedingungen der Vererbung und Anpassung "geschaffen", unter denen sich einerseits die bevorzugten Glücklichen nothwendig zu straflosen Seligen, andererseits die unglücklichen Armen und Elenden ebenso nothwendig zu strafwürdigen Verdammten entwickeln mußten.
Eine kritische Vergleichung der unzähligen bunten Phantasie-Gebilde, welche der Unsterblichkeits-Glaube der verschiedenen Völker und Religionen seit Jahrtausenden erzeugt hat, gewährt das merkwürdigste Bild; eine hochinteressante, auf ausgedehnte Quellen-Studien gegründete Darstellung derselben hat Adalbert Svoboda gegeben in seinen ausgezeichneten Werken: "Seelenwahn" (1886) und "Gestalten des Glaubens" (1897). Wie absurd uns auch die meisten dieser Mythen erscheinen mögen, wie unvereinbar sie sämmtlich mit der vorgeschrittenen Natur-Erkenntniß der Gegenwart sind, so spielen sie dennoch auch heute eine höchst wichtige Rolle und üben trotzdem als "Postulante der praktischen Vernunft" den größten Einfluß auf die Lebensanschauungen der Individuen und die Geschicke der Völker.
Die idealistische und spiritualistische Philosophie der Gegenwart wird nun freilich zugeben, daß diese herrschenden materialistischen Formen des Unsterblichkeits-Glaubens unhaltbar seien, und sie wird behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vorstellung von einem immateriellen Seelen-Wesen, von einer platonischen Idee oder einer transcendenten Seelen-Substanz treten müsse. Allein mit diesen unfaßbaren Vorstellungen kann die realistische Natur-Anschauung der Gegenwart absolut Nichts anfangen; sie befriedigen weder das Kausalitäts-Bedürfniß unsers Verstandes, noch die Wünsche unsers Gemüthes. Fassen wir Alles zusammen, was vorgeschrittene Anthropologie, Psychologie und Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet haben, so müssen wir zu dem bestimmten Schlusse kommen: "Der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist ein Dogma, welches mit den sichersten Erfahrungs-Sätzen der modernen Naturwissenschaften in unlösbarem Widerspruche steht."
Monistische Studien über das kosmologische Grundgesetz. Erhaltung der Materie und der Energie. Kinetischer und pyknotischer Substanz-Begriff.
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Inhalt: das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes (Konstanz der Materie). Das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft (Konstanz der Energie). Verbindung beider Grundgesetze im Substanz-Gesetz. Kinetischer, pyknotischer und dualistischer Substanz-Begriff. Monismus der Materie. Masse oder Körperstoff (Ponderable Materie). Atome und Elemente. Wahlverwandtschaft der Elemente. Atom-Seele (Fühlung und Strebung der Masse). Existenz und Wesen des Aethers. Aether und Masse. Kraft und Energie. Spannkraft und lebendige Kraft. Einheit der Naturkräfte. Allmacht des Substanz-Gesetzes.
Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das Substanz-Gesetz, das wahre und einzige kosmologische Grundgesetz; seine Entdeckung und Feststellung ist die größte Geistesthat des 19. Jahrhunderts, insofern alle anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe "Substanz-Gesetz" fasse ich zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs und Alters zusammen, das ältere chemische Gesetz von der "Erhaltung des Stoffes" und das jüngere physikalische Gesetz von der "Erhaltung der Kraft" (Monismus, 1892, S. 14, 39). Daß diese beiden Grundgesetze der exakten Naturwissenschaft im Wesen unzertrennlich sind, wird vielen Lesern wohl selbstverständlich erscheinen und ist von den meisten Naturforschern der Gegenwart anerkannt. Indessen wird diese fundamentale Ueberzeugung doch von anderer Seite noch heute vielfach bestritten und muß jedenfalls erst bewiesen werden. Wir müssen daher zunächst einen kurzen Blick auf diese beiden Gesetze werfen.
Ich betone daher ganz besonders die fundamentale Bedeutung des einheitlichen Substanz-Gesetzes als Ausdruck des untrennbaren Zusammenhanges jener beiden begrifflich getrennten Gesetze. Daß dieselben ursprünglich nicht zusammengefaßt und nicht in dieser Einheit erkannt wurden, ergiebt sich ja schon aus der Thatsache ihrer verschiedenen Entdeckungs-Zeit. Das ältere und näher liegende chemische Grundgesetz von der "Konstanz der Materie" wurde von Lavoisier schon 1789 erkannt und durch allgemeine Anwendung der Waage zur Basis der exakten Chemie erhoben. Hingegen wurde das jüngere und viel verborgenere Grundgesetz von der "Konstanz der Energie" erst 1842 von Robert Mayer entdeckt und erst von Helmholtz als Grundlage der exakten Physik hingestellt. Die Einheit beider Grundgesetze, welche noch heute vielfach bestritten wird, drücken viele überzeugte Naturforscher in der Benennung aus: "Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes". Um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck für diesen fundamentalen, aus neun Worten zusammengesetzten Begriff zu haben, habe ich schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, dasselbe das "Substanz-Gesetz" oder das "kosmologische Grundgesetz" zu nennen; man könnte es auch das Universal-Gesetz oder Konstanz-Gesetz nennen, oder auch das "Axiom von der Konstanz des Universum"; im Grunde genommen folgt dasselbe nothwendig aus dem Princip der Kausalität (Monismus, S. 14, 39).
Es würde hier viel zu weit führen, wollte ich näher auf die sinnreiche Verdichtungs-Theorie von J. G. Vogt eingehen; der Leser, der sich dafür interessirt, muß die Vorstellungs-Gruppen, deren Schwierigkeit im Gegenstande selbst liegt, in dem klar geschriebenen, populären Auszug aus dem zweiten Bande des citirten Werkes zu erfassen suchen. Ich selbst bin zu wenig mit Physik und Mathematik vertraut, um die Licht- und Schattenseiten derselben kritisch sondern zu können; ich glaube jedoch, daß dieser pyknotische Substanz-Begriff für jeden Biologen, der von der Einheit der Natur überzeugt ist, in mancher Hinsicht annehmbarer erscheint, als der gegenwärtig in der Physik herrschende kinetische Substanz-Begriff. Ein Mißverständniß kann leicht dadurch entstehen, daß Vogt seinen Weltproceß der Verdichtung in principiellen Gegensatz stellt zu dem allgemeinen Vorgang der Bewegung - er meint damit die Schwingung im Sinne der modernen Physik. Auch seine hypothetische "Verdichtung" (Pyknosis) ist ebenso durch Bewegung des Substanz bedingt, wie die hypothetische "Schwingung" (Vibration); nur ist die Art der Bewegung und das Verhalten der bewegten Substanz-Theilchen nach der ersteren Hypothese ganz anders als nach der letzteren. Uebrigens wird durch die Verdichtungslehre keineswegs die gesammte Schwingungslehre beseitigt, sondern nur ein wichtiger Theil derselben.
Die moderne Physik hält gegenwärtig zum größten Theile noch zäh an der älteren Vibrations-Theorie fest, an der Vorstellung der unvermittelten Fernwirkung und der ewigen Schwingung todter Atome im leeren Raume; sie verwirft daher die Pyknose-Theorie. Wenn diese letztere nun auch keineswegs vollendet sein mag; und wenn Vogts originelle Spekulationen auch mehrfach irre gehen, so erblicke ich doch ein großes Verdienst dieses Naturphilosophen darin, daß er jene unhaltbaren Principien der kinetischen Substanz-Theorien eliminirt. Für meine eigene Vorstellung, wie für diejenige vieler anderer denkender Naturforscher, muß ich die folgenden, in Vogts pyknotischer Substanz-Theorie enthaltenen Grundsätze als unentbehrlich für eine wirklich monistische, das ganze organische und anorganische Naturgebiet umfassende Substanz-Ansicht hinstellen: I. Die beiden Hauptbestandtheile der Substanz, Masse und Aether, sind nicht todt und nur durch äußere Kräfte beweglich, sondern sie besitzen Empfindung und Willen (natürlich niedersten Grades!); sie empfinden Lust bei Verdichtung, Unlust bei Spannung; sie streben nach der ersteren und kämpfen gegen letztere. II. Es giebt keinen leeren Raum; der Theil des unendlichen Raumes, welchen nicht die Massen-Atome einnehmen, ist von Aether erfüllt. III. Es giebt keine unvermittelte Fernwirkung durch den leeren Raum; alle Wirkung der Körpermassen auf einander ist entweder durch unmittelbare Berührung, durch Kontakt der Massen bedingt, oder sie wird durch den Aether vermittelt.
I. Der Aether erfüllt als eine kontinuirliche Materie den ganzen Weltraum, soweit dieser nicht von der Masse (oder der ponderablen Materie) eingenommen ist; er füllt auch alle Zwischenräume zwischen den Atomen der letzteren vollständig aus. II. Der Aether besitzt wahrscheinlich noch keinen Chemismus und ist noch nicht aus Atomen zusammengesetzt wie die Masse; wenn man annimmt, derselbe sei aus äußerst kleinen, gleichartigen Atomen zusammengesetzt (z. B. untheilbaren Aetherkugeln von gleicher Größe), so muß man weiterhin auch annehmen, daß zwischen denselben noch etwas Anderes existirt, entweder der "leere Raum" oder ein drittes (ganz unbekanntes) Medium, ein völlig hypothetischer "Interäther"; bei der Frage nach dessen Wesen würde sich dann dieselbe Schwierigkeit, wie beim Aether erheben (in infinitum!). III. Da die Annahme des leeren Raumes und der unvermittelten Fernwirkung beim jetzigen Stande unseres Naturkennens kaum mehr möglich ist (wenigstens zu keiner klaren monistischen Vorstellung führt), so nehme ich eine eigenthümliche Struktur des Aethers an, die nicht atomistisch ist, wie diejenige der ponderablen Masse, und die man vorläufig (ohne weitere Bestimmung) als ätherische oder dynamische Struktur bezeichnen kann. IV. Der Aggregat-Zustand des Aethers ist, dieser Hypothese zufolge, ebenfalls eigentümlich und von demjenigen der Masse verschieden; er ist weder gasförmig wie einige, noch fest, wie andere Physiker annehmen; die beste Vorstellung gewinnt man vielleicht durch den Vergleich mit einer äußerst feinen elastischen und leichten Gallerte. V. Der Aether ist imponderable Materie in dem Sinne, daß wir kein Mittel besitzen, sein Gewicht experimentell zu bestimmen; wenn er wirklich Gewicht besitzt, was sehr wahrscheinlich ist, so ist dasselbe äußerst gering und für unsere feinsten Waagen unwägbar; einige Physiker haben versucht, aus der Energie der Lichtwellen das Gewicht des Aethers zu berechnen; sie haben gefunden, daß es etwa 15 Tiillionen mal geringer sei als das der atmosphärischen Luft; immerhin soll eine Aetherkugel vom Volumen unserer Erde mindestens 250 Pfund wiegen. (?) VI. Der ätherische Aggregat-Zustand kann wahrscheinlich (der Pyknose-Theorie entsprechend) unter bestimmten Bedingungen durch fortschreitende Verdichtung in den gasförmigen Zustand der Masse übergehen, ebenso wie dieser letztere durch Abkühlung in den flüssigen und weiterhin in den festen übergeht. VII. Diese Aggregat-Zustände der Materie ordnen sich demnach (was für die monistische Kosmogenie sehr wichtig ist) in eine genetische, kontinuirliche Reihe; wir unterscheiden fünf Stufen derselben: 1. der ätherische, 2. der gasförmige, 3. der flüssige, 4. der fest-flüssige (im lebenden Plasma), 5. der feste Zustand. VIII. Der Aether ist ebenso unendlich und unermeßlich wie der Raum, den er ausfüllt; er befindet sich ewig in ununterbrochender Bewegung; dieser eigenthümliche Aether-Motus (gleichviel, ob als Schwingung, Spannung, Verdichtung u. s. w. aufgefaßt), in Wechselwirkung mit den Massen-Bewegungen (Gravitation), ist die letzte Ursache aller Erscheinungen. (Thesen von 1899.)
Welt (=Natur=Substanz=Kosmos=Universum=Gott).
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I. Aether (=Imponderabile, gespannte Substanz).
| II. Masse (=Ponderabile, verdichtete Substanz).
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1. Aggregat-Zustand: ätherisch (weder gasförmig, noch flüssig, noch fest).
| 1. Aggregat-Zustand: nicht ätherisch (sondern gasförmig, flüssig oder fest).
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2. Struktur: nicht atomistisch, kontinuirlich, nicht aus diskreten Theilchen (Atomen) zusammengesetzt.
| 2. Struktur: atomistisch, diskontinuirliche, aus kleinsten diskreten Theilchen (Atomen) zusammengesetzt.
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3. Hauptfunktionen: Licht, Strahlwärme, Elektrizität, Magnetismus.
| 3. Hauptfunktionen: Schwere, Trägheit, Massenwärme, Chemismus.
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Die beiden Gruppen von Funktionen der Materie, welche in diesem Schema gegenübergestellt sind, können gewissermaßen als Folgen der ersten Arbeitstheilung des Stoffes betrachtet werden, als primäre Ergonomie der Materie. Diese Unterscheidung bedeutet aber keine absolute Trennung der beiden entgegengesetzten Gruppen; vielmehr bleiben beide trotzdem vereinigt, behalten ihren Zusammenhang und stehen überall in beständiger Wechselwirkung. Wie bekannt, sind optische und elektrische Vorgänge des Aethers eng verknüpft mit mechanischen und chemischen Veränderungen der Masse; die strahlende Wärme des ersteren geht direkt über in die Massenwärme oder mechanische Wärme der letzteren; die Gravitation kann nicht wirken, ohne daß der Aether die Massen-Anziehung der getrennten Atome vermittelt, da wir keine Fernwirkung annehmen können. Die Verwandlung einer Energie-Form in die andere, wie sie das Gesetz von der Erhaltung der Kraft nachweist, bestätigt zugleich die beständige Wechselwirkung zwischen den beiden Haupttheilen der Substanz, Aether und Masse.
Monistische Studien über die ewige Entwickelung des Universums. Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Kreatistische und genetische Kosmogenie.
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Inhalt: Begriff der Schöpfung (Kreation). Wunder. Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge. Schöpfung der Substanz (kosmologischer Kreatismus). Diesmus: Ein Schöpfungstag. Schöpfung der Einzeldnge. Fünf Formen des ontologischen Kreatismus. Begriff der Entwickelung (Genesis, Evolutio). I. Monistische Kosmogenie. Anfang und Ende der Welt. Unendlichkeit und Ewigkeit des Universums. Raum und Zeit. Universum perpetuum mobile. Entropie des Weltalls. II. Monistische Geogenie. Anorganische und organische Erdgeschichte. III. Monistische Biogenie. Transformismus und Descendenz-Theorie. Lamarck und Darwin. IV. Monistische Anthropogenie. Abstammung des Menschen.
Unter allen Welträthseln das größte, umfassendste und schwerste ist dasjenige von der Entstehung und Entwickelung der Welt, kurz gewöhnlich die "Schöpfungsfrage" genannt. Auch zur Lösung dieses schwierigsten Welträthsels hat unser neunzehntes Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja sie ist ihm sogar bis zu einem gewissen Grade gelungen. Wenigstens sind wir zu der klaren Einsicht gelangt, daß alle verschiedenen einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft sind, daß sie alle nur ein einziges, allumfassendes "kosmisches Universal-Problem" bilden, und den Schlüssel zur Lösung dieser "Weltfrage" giebt uns das eine Zauberwort: "Entwickelung!" Die großen Fragen von der Schöpfung des Menschen, von der Schöpfung der Thiere und Pflanzen, von der Schöpfung der Erde und der Sonne u. s. w., sie alle sind nur Theile jener Universal-Frage: Wie ist die ganze Welt entstanden? Ist sie auf übernatürlichem Wege "erschaffen", oder hat sie sich auf natürlichem Wege "entwickelt"? Welcher Art sind die Ursachen und die Wege dieser Entwickelung? Gelingt es uns, eine sichere Antwort auf diese Fragen für eines jener Theil-Probleme zu finden, so haben wir nach unserer einheitlichen Naturauffassung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.
Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in seiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten Welträthsels!) bekannt hat; er sagt; "Der göttlichen Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe, daß nach der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhülfe die heutige Natur von einer Urbacille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu Suleima's holden Gebärden, bis zu Newton's Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein mechanisch entstehen." Hier wie bei der Bewußtseins-Frage in der Ignorabimus-Rede (S. 73) offenbart Du Bois-reymond in auffallender Weise die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit seines monistischen Denkens.
Nach unserer Ansicht wird dieses "zweite Welträthsel" durch die Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist wie die Empfindung (S. 91). Die Berechtigung zu dieser monistischen Annahme finden wir erstens im Substanz-Gesetz und zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und Physik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben. Durch die Spektral-Analyse von Bunsen und Kirchhoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum erfüllen, aus denselben Materien bestehen wie unsere Sonne und Erde, sondern auch, daß sie sich in verschiedenen Zuständen der Entwickelung befinden; wir haben sogar mit ihrer Hülfe Kenntnisse über die Bewegungen und Entfernungen der Fixsterne gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden konnten. Ferner ist das Teleskop selbst sehr bedeutend verbessert worden und hat uns mit Hülfe der Photographie eine Fülle von astronomischen Entdeckungen geschenkt, welche im Beginne des 19. Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten. Insbesondere hat die bessere Kenntniß der Kometen und Sternschnuppen, der Sternhaufen und Nebenflecke, uns die große Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu Milliarden zwischen den größeren Sternen im Weltraum vertheilt sind.
Wir wissen jetzt auch, das die Bahnen der Millionen von Weltkörpern veränderlich und zum Theil unregelmäßig sind, während man früher die Planeten-Systeme als beständig betrachtete und die rotirenden Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre Kreise beschreiben ließ. Wichtige Aufschlüsse verdankt die Astrophysik aber auch den gewaltigen Fortschritten in anderen Gebieten der Physik, vor Allem in der Optik und Elektrik, sowie in der dadurch geförderten Aether-Theorie. Endlich und vor Allem erweist sich auch hier wieder als größter Fortschritt unserer Natur-Erkenntniß das universale Substanz-Gesetz. Wir wissen jetzt, daß dasselbe ebenso überall in den fernsten Welträumen unbedingte Geltung hat wie in unserem Planeten System, ebenso in dem kleinsten Theilchen unserer Erde wie in der kleinsten Zelle unseres Körpers. Wir sind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logisch gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und der Energie zu allen Zeilen ebenso allgemein bestanden hat, wie sie heute ohne Ausnhame besteht. In alle Ewigkeit war, ist und bleibt das unendliche Universum dem Substanz-Gesetz unterworfen.
Aus allen diesen gewaltigen Fortschritten der Astronomie und Physik, die sich gegenseitig erläutern und ergänzen, ergiebt sich eine Reihe von überaus wichtigen Schlüssen über die Zusammensetzung und Entwickelung des Kosmos, über die Beharrung und Umbildung der Substanz. Wir fassen dieselben kurz in folgenden Thesen zusammen: I. Der Weltraum ist unendlich groß und unbegrenzt; er ist nirgends leer, sondern allenthalben mit Substanz erfüllt. II. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich und unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist Ewigkeit. III. Die Substanz befindet sich überall und jeder Zeit in ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrscht vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche Quantität der Materie ebenso unverändert wie diejenige der ewig wechselnden Energie. IV. Die Universal-Bewegung der Substanz im Weltraum ist ein ewiger Kreislauf mit periodisch sich wiederholenden Entwickelungs-Zuständen. V. Diese Phasen bestehen in einem periodischen Wechsel der Aggregat-Zustände, wobei zunächst die primäre Sonderung von Massse und Aether eintritt (die Ergonomie von ponderabler und imponderabler Materie). VI. Diese Sonderung beruht auf einer fortschreitenden Verdichtung der Materie, der Bildung von unzähligen kleisten Verdichtungs-Centren, wobei die immanenten Ureigenschaften der Substanz die bewirkenden Ursachen sind: Fühlung und Strebung. VII. Während in einem Theile des Weltraums durch diesen pyknotischen Proceß zunächst kleine weiterhin größere Weltkörper entstehen und der Aether zwischen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt gleichzeitig in dem anderen Theile der entgegengesetzte Proceß, die Zerstörung von Weltkörpern, welche auf einander stoßen. VIII. Die ungeheuren Wärme-Quantitäten, welche durch diese mechanischen Processe bei den Zusammenstößen der rotirenden Weltkörper erzeugt werden, stellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die Bewegung der dabei gebildeten kosmischen Staubmassen und die Neubildung rotirender Bälle bewirken: das ewige Spiel beginnt wieder von Neuem. Auch unsere Mutter Erde, die vor Millionen von Jahrtausenden aus einem Theile des rotirenden Sonnen-Systems entstanden ist, wird nach Verfluß weiterer Millionen erstarren und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne stürzen.
Besonders wichtig für die klare Einsicht in den universalen kosmischen Entwickelungs-Proceß scheinen mir diese modernen Vorstellungen über periodisch wechselnden Untergang und Neubildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren Fortschritten der Physik und Astronomie verdanken, in Verbindung mit dem Substanz-Gesetz. Unsere Mutter "Erde" schrumpft dabei auf den Werth eines winzigen "Sonnenstäubchens" zusammen, wie deren ungezählte Millionen im unendlichen Weltenraum umherjagen. Unser eigenes "Menschenwesen", welches in seinem anthropistischen Größenwahn sich als "Ebenbild Gottes" verherrlicht, sinkt zur Bedeutung eines placentalen Säugethiers hinab, welches nicht mehr Werth für das ganze Universum besitzt als die Ameise und die Eintagfliege, als das mikroskopische Infusorium und der winzigste Bazillus. Auch wir Menschen sind nur vorübergehende Entwickelungs-Zustände der ewigen Substanz, individuelle Erscheinungsformen der Materie und Energie, deren Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir sie dem unendlichen Raum und der unendlichen Zeit gegenüberstellen.
Anders verhält es sich aber, wenn wir den Kosmos als Ganzes in's Auge Fassen, das unendliche Weltall, welches in ewiger Bewegung begriffen ist. Die unendliche Materie, welche objektiv denselben erfüllt, nennen wir in unserer subjektiven Vorstellung "Raum"; die ewige Bewegung derselben, die objektiv eine periodische, in sich selbst zurückkehrende Entwickelung darstellt, nennen wir subjektiv "Zeit". Diese beiden "Formen der Anschauung" überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls. Damit ist aber zugleich gesagt, daß das ganze Universum selbst ein allumfassendes Perpetuum mobile ist. Diese unendliche und ewige "Maschine des Weltalls" erhält sich selbst in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes Hinderniß durch ein "Aequivalent der Energie" ausgeglichen wird, weil die unendlich große Summe der aktuellen und potentiellen Energie ewig dieselbe bleibt. Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft beweist also, daß die Vorstellung des Perpetuum mobile für den ganzen Kosmos ebenso wahr und fundamental bedeutend ist, wie sie für die isolierte Aktion eines Theiles desselben unmöglich ist. Dadurch wird auch die Lehre von der Entropie widerlegt.
Wenn diese Lehre von der Entropie richtig wäre, so müßte dem angenommenen "Ende der Welt" auch ein ursprünglicher "Anfang" derselben entsprechen, ein Minimum der Entropie, in welchem die Temperatur-Differenzen der gesonderten Welttheile die größten waren. Beide Vorstellungen sind nach unserer monistischen und streng konsequenten Auffassung des ewigen kosmogenetischen Processes gleich unhaltbar; beide widersprechen dem Substanz-Gesetz. Es giebt einen Anfang der Welt ebenso wenig als ein Ende derselben. Wie das Universum unendlich ist, so bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft statt und umgekehrt; und die Summe dieser aktuellen und potentiellen Energie bleibt immer dieselbe. Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärme-Theorie widerspricht dem ersten und muß aufgegeben werden.
Die Vertheidiger der Entropie behaupten dieselbe dagegen mit Recht, sobald sie nur einzelne Processe in's Auge fassen, bei welchen unter gewissen Bedingungen die gebundene Wärme nicht in Arbeit zurückberwandelt werden kann. So kann z. B. bei der Dampfmaschine die Wärme nur dann in mechanische Arbeit umgewandelt werden, wenn sie aus einem wärmeren Körper (Dampf) in einen kälteren (Kühlwasser) übergeht, aber nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrschen aber ganz andere Verhältnisse; hier sind Bedingungen gegeben, in denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme in mechanische Arbeit stattfinden kann. So werden z. B. beim Zusammenstoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer Geschwindigkeit auf einander treffen, kolossale Wärme-Mengen frei, während die zerstäubten Massen in den Weltraum hinausgeschleudert und zerstreut werden. Das ewige Spiel der rotirenden Massen mit Verdichtung der Theile, Ballung neuer kleiner Meteoriten, Vereinigung derselben zu größeren u. s. w. beginnt dann von Neuem. Vergl. Zehnder, Die Mechanik des Weltalls, 1897.
II.
Erst im Jahre 1822 erschien ein bedeutendes Werk, welches zur wissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte diejenige Methode einschlug, die sich bald als die weitaus fruchtbarste erwies, die ontologische Methode oder das Princip des Aktualismus. sie besteht darin, daß wir die Erscheinungen der Gegenwart genau studiren und benutzen, um dadurch die ähnlichen geschichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu erklären. die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen hatte daraufhin 1818 eine Preisaufgabe gestellt für: "Die gründlichste und umfassendste Untersuchung über die Veränderungen der Erdoberfläche, welche in der Geschichte sich nachweisen lassen und die Anwendung, welche man von ihrer Kunde bei Erforschung der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete der Geschichte liegen, machen kann". Die Lösung dieser wichtigen Preisaufgabe gelang Karl Hoff aus Gotha in seinem ausgezeichneten Werke: "Geschichte der durch Ueberlieferungen nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche" (in vier Bänden, 1822-1834). In umfassendster Weise und mit größtem Erfolge wurde dann die von ihm begründete ontologische oder aktualistische Methode auf das gesammte Gebiet der Geologie von dem großen englischen Geologen Charles Lyell angewendet; seine Principien der Geologie (1830) legten den festen Grund, auf dem die folgende Geschichte der Erde mit so glänzenden Erfolge weiterbaute. Die bedeutungsvollen geogenetischen Forschungen von Alexander Humboldt und Leopold Buch, von Gustav Bischof und Eduard Süß, wie von vielen anderen modernen Geologen stützen sich sämmtlich auf die festen empirischen Grundlagen und spekulativen Principien, welche wir den bahnbrechenden Untersuchungen von Karl Hoff und Charles Lyell verdanken; sie machten der reinen, vernünftigen Wissenschaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeschichte; sie entfernten die gewaltigen Hindernisse, welche auch hier die mythologische Dichtung und die religiöse Tradition aufgehäuft hatten, vor Allem die Bibel und die darauf gegründete christliche Mythologie. Ich habe die großen Verdienste von Charles Lyell und dessen Beziehungen zu seinem Freunde Charles Darwin bereits im sechsten und fünfzehnten Vortrage meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" besprochen für die weitere Kenntniß der Erdgeschichte und der gewaltigen Fortschritte, welche die dynamische und historische Geologie im neunzehnten Jahrhundert gemacht haben, verweise ist auf die bekannten Werke von Süß, Neumayr, Credner und Johannes Walther.
Als zwei Hauptabschnitte der Ergeschichte müssen wir vor Allem die anorganische und organische Geogenie unterscheiden; die letztere beginnt mit dem ersten Auftreten lebender Wesen auf unserem Erdball. die anorganische Geschichte der Erde, der ältere Abschnitt, verlief in derselben Weise wie diejenige der übrigen Planeten unseres Sonnensystems; sie alle lösten sich vom Aequator des rotirenden Sonnen-Körpers als Nebelringe ab, welche sich allmählich zu selbstständigen Weltkörpern verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch Abkühlung der gluthflüssige Erdball, und weiterhin entstand an dessen Oberfläche durch fortschreitende Wärme-Ausstrahlung die dünne feste Rinde, welche wir bewohnen. Erst nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem gewissen Grade gesunken war, konnte sich aus der umgebenden Dampfhülle das erste tropfbar-flüssige Wasser niederschlagen, und damit war die wichtigste Vorbedingung für die Entstehung des organischen Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre - jedenfalls mehr als hundert! - sind verflossen, seitdem dieser bedeutungsvolle Vorgang, der der Wasserbildung, eintrat und damit die Einleitung zum dritten Hauptabschnitt der Kosmogenie, zur Biogenie.
III.
Im fünften Vortrage meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" habe ich die Verdienste von Lamarck nach Gebühr gewürdigt, im sechsten und siebenten Vortrage diejenigen seines größten Nachfolgers, Charles Darwin (1859). Durch ihn wurden fünfzig Jahre später nicht nur alle wichtigen Hauptsätze der Descendenz-Theorie unwiderleglich begründet, sondern auch durch Einführung der Selektions-Theorie oder Züchtungslehre die Lücke ausgefüllt, welche der Erstere gelassen hatte. Der Erfolg, welchen Lamarck trotz aller Verdienste nicht hatte erlangen können, wurde Darwin in reichstem Maße zu Theil; sein epochemachendes Werk "Ueber den Ursprung der Arten durch natürliche Züchtung" hat im Laufe der letzten vierzig Jahre die ganze moderne Biologie von Grund aus umgestaltet und sie auf eine Stufe der Entwickelung gehoben, welche derjenigen aller übrigen Naturwissenschaften nichts nachgiebt. Darwin ist der Kopernikus der organischen Welt geworden, wie ich schon 1868 aussprach und wie E. Du Bois-Reymond fünfzehn Jahre später wiederholte. (Vergl. "Monismus", S. 39)
IV.
Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit des Kosmos. - Mechanismus und Vitalismus. - Ziel, Zweck und Zufall.
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Inhalt: Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der organischen und anorganischen Natur. Kohlenstoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Hypothese der Urzeugung (Archigonie). Mechanische und zweckthätige Ursachen. Mechanik und Teleologie bei Kant. Der Zweck in der organischen und anorganischen Natur. Vitalismus, Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie (Lehre von den rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und Unvollkommenheit der Natur. Zielstrebigkeit in den organischen Körpern. Ihre Abwesenheit in der Ontogenese und in der Phylogenese. Platonische Ideen. Sittliche Weltordnung, nicht nachzuweisen in der organischen Erdgeschichte, in der Wirbelthier-Geschichte, in der Völker-Geschichte. Vorsehung. Ziel, Zweck und Zufall.
Durch das Substanz-Gesetz ist zunächst die fundamentale Thatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar in jede andere imgewandelt werden kann. Mechanische und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität können in einander übergeführt werden und erweisen sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Urkraft, der Energie. Daraus ergiebt sich der bedeutungsvolle Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder wie wir auch sagen können, dem "Monismus der Energie". Im gesammten Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamental-Satz jetzt allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper betrifft.
Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand, daß ein großer Theil der Lebenserscheinungen unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische und Licht-Wirkungen zurückzuführen ist. Für einen anderen Theil derselben aber wird das auch heute noch bestritten, so vor Allem für das Welträthsel des Seelenlebens, insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwischen den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir sind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen Substanz-Gesetz unterworfen sind wie die anorganischen Phänomene im unendlichen Kosmos.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) giebt uns eine wirkliche Erklärung der Natur-Erscheinungen, indem er dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf blinde und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind. Kant selbst betont, daß es "ohne diesen Mechanismus der Natur keine Naturwissenschaft geben kann", und daß die Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als er aber später in seiner Kritik der teleologischen Urtheilkraft die Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hülfe nehmen. Zwar sei auch hier die Befugniß unserer Vernunft zur mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr theilweise dieses Vermögen zu, aber für den größten Theil der Lebenserscheinungen (und besonders für die Seelenthätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige 79 der Kritik der Urtheilskraft trägt die charakteristische Ueberschrift: "Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Meschanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck". Die zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme übernatürlicher Endursachen (d. h. also einer planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so unerklärlich, daß er sagte: "Es ist ganz gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder rzuhoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen. Siebenzig Jahre später ist dieser unmögliche "Newton der organischen Natur" in Darwin wirklich erschienen und hat die große Aufgabe gelöst, die Kant für unlösbar erklärt hatte. (Vergl. Anm. 3, S. 158.)
Alle höheren Thiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Theil sogar gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In den Blüthen der meisten Pflanzen finden sich neben den wirksamen Geschlechts-Blättern, welche die Fortpflanzung vermitteln, einzelne nutzlose Blatt-Organe ohne Bedeutung (verkümmerte oder "fehlgeschlagene" Staubfäden, Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter u. s. w.). In den beiden großen und formenreichen Klassen der fliegenden Thiere, Vögel und Insekten, giebt es neben den gewöhnlichen, ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch meistens Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des Mannes und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen durch seine Entzündung zu Grunde.
Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen Einrichtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr einfach durch die Descendenz-Theorie. Sie zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch Unthätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber obgleich so durch Uebung und Anpassung die höhere Entwicklung der Organe gefördert wird, so verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde "Kampf um's Dasein zwischen den Organen" bedingt ebenso ihren historischen Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung verurschte. Ein immanenter "Zweck" spielt dabei überhaupt keine Rolle.
Zu einer tieferen Erkenntniß dieses genetischen Grundgedankens und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden Ursachen der organischen Entwickelung vermochte Baer damals nicht zu gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen Hälfte der Entwickelungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die Entwickelungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere Stammesgeschichte oder Phylogenie, existirte damals noch nicht, obwohl der weitschauende Lamarck schon 1809 den Weg zu derselben gezeigt hatte. Ihre spätere Begründung durch Darwin (1859) vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu verstehen; der nutzlose Kampf, den er gegen dessen Selektions-Theorie führte, zeigt klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch ihre philosophische Bedeutung erkannte. Teleologische und später damit verknüpfte theosophische Spekulationen hatten den alten Baer unfähig gemacht, diese größte Reform der Biologie gerecht zu würdigen; die teleologischen Betrachtungen, welche er gegen sie in seinen "Reden und Studien" (1876) als 84jähriger Greis in's Feld führte, sind nur Wiederholugen von ähnlichen Irrthümern, wie sie die Zweckmäßigkeits-Lehre der dualistischen Philosophie seit mehr als zweitausend Jahren gegen die mechanistische oder monistische Weltanschauung aufgeführt hatte. Der "zielstrebige Gedanke", welcher nach Baer's Vorstellung die ganze Entwickelung des Thierkörpers aus der Eizelle bedingt, ist nur ein anderer Ausdruck für die ewige "Idee" von Plato und für die "Entelechie" seines Schülers Aristoteles.
Unsere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologischen Thatsachen rein physiologisch, indem sie als bewirkende mechanische Ursachen derselben die Funktionen der Vererbung und Anpassung erkennt. Das biogenetische Grundgesetz, für welches Baer kein Verständniß gewinnen konnte, eröffnet uns den innigen kausalen Zusammenhang zwischen der Ontogenese der Individuen und der Phylogenese ihrer Vorfahren; die erstere erscheint uns jetzt als eine erbliche Rekapitulation der letzteren. Nun können wir aber in der Stammesgeschichte der Thiere und Pflanzen nirgends eine Zielstrebigkeit erkennen, sondern lediglich das nothwendige Resultat des gewaltigen Kampfes um's Dasein, der als blinder Regulator, nicht als vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt. Ebenso wenig können wir aber auch bewußte "Zielstrebigkeit" in der Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menschen. Denn diese Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch die physiologischen Gesetze der Vererbung.
Das Vorwort zu seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte der Thiere" schloß Baer 1828 mit den Worten: "Die Palme wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum aus welchem seine Wiege gezimmert werden soll, hat noch nicht gekeimt." - Auch darin irrte der große Embryologe. In demselben Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Universität Cambridge, um Theologie (!) zu studiren, der gewaltige "Glückliche", der die Palme dreißig Jahre später durch seine Selektions-Theorie wirklich errang.
Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch in seinem anthropocentrischen Größenwahn die "Weltgeschichte" zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und jeder Zeit ein höchstes moralisches Princip oder ein weiser Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustande unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte nur lauten: Nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben "ewigen, ehernen, großen Gesetzen" wie die Geschichte der ganzen organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert. Die Geologen unterscheiden in der "organischen Erdgeschichte", soweit sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der ersteren soll nach einer neueren Berechnung mindestens 34 Millionen, die der zweiten 11, die der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben (- nach anderen Berechnungen mehr als das Dreifache dieser Zeit! -). Die Geschichte des Wirbelthier-Stammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei verschiedene Entwickelungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei großen Periode successiv entwickelt; in der primären (paläozoischen) Periode die Fische, in dem sekundären (mesozoischen) Zeitalter die Reptilien, in dem tertiären (cänozoischen) die Säugethiere. Von diesen drei Hauptgruppen der Wirbelthiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen mittleren, die Säugethiere den höchsten Rang der Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann man nun diesen fortschreitenden Entwickelungsgang als Ausfluß einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die Selektions-Theorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt, ebenso wie die organische Differenzierung, eine nothwendige Folge des Kampfes um's Dasein ist. Tausende von guten, schönen, bewunderungswürdigen Arten des Thier- und Pflanzenreiches sind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zu Grunde gegangen, weil sie anderen, stärkeren Platz machen mußten, und diese Sieger im Kampfe um's Dasein waren nicht immer die edleren oder im moralischen Sinne vollkommneren Formen.
Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die bewunderungswürdige Kultur des klassischen Alterthums ist zu Grunde gegangen, weil das Christenthum dem ringenden Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen Karikatur des reinen Christenthums und zertrat schonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die hellenische Philosophie schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die Reformation zerriß die Ketten dieser Geistes-Knechtschaft und verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte. Aber auch in dieser neuen wie in jenen früheren Perioden der Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf um's Dasein hin und her, ohne jede moralische Ordnung.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen - geradeso wie beim ungebildeten Wilden - der Glaube an die Vorsehung und die Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krankheit, Gewinn des großen Looses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes u. s. w. Wenn dagegen irgend ein Unglück passirt oder ein heißer Wunsch nicht erfüllt wird, so ist die "Vorsehung" vergessen; der weise Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheueren Aufschwung des Verkehrs im 19. Jahrhundert hat nothwenig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tausende von Menschen zu Grunde durch Schiffbrüche, Tausende durch Eisenbahn-Unglücke, Tausende durch Bergwerks-Katastrophen u. s. w. Viele Tausende tödten sich alle Jahre gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des National-Vermögens in Anspruch. Und unter jenen Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte Glaube an eine "sittliche Weltordnung" - ebenso wie an eine "liebevolle Vorsehung" - einen hohen Ideal-Werth besitzt. Er tröstet die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er befriedigt unser zweifelndes Gemüth und versetzt uns in eine Ideal-Welt des "Jenseits", in welcher die Mängel des irdischen Daseins im "Diesseits" überwunden sind. So lange der Mensch kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kultur-Leben der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Ideal-Welt heraus und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur die vernünftige Erkenntniß der Wirklichkeit befähigt. Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an diese Real-Welt, zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und auf die moderne Entwickelungslehre gestützt, den höher gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und vorurtheilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.
Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es giebt keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die Entwickelung der ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch in derjenigen unserer organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist Alles Zufall! Beide Parteien haben Recht, je nach der Definition des "Zufalls". Das allgemeine Kausal-Gesetz, in Verbindung mit dem Substanz-Gesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne giebt es keinen Zufall. Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache hat unabhängig von der anderen. Wie Jedermann weiß, spielt der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem einzelnen "Zufall" wie in der Entwickelung des Weltganzen die universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des Substanz-Gesetzes.
Monistische Studien über Theismus und Pantheismus. Der anthropistische Monotheismus der drei großen Mediterran-Religionen. Extramundaner und intramundaner Gott.
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Inhalt: Gottes_Vorstellung im Allgemeinen. Gegensatz von Gott und Welt, von Uebernatürlichem und Natur. Theismus und Pantheismus. Hauptformen des Theismus. Polytheismus. Tripletheismus (Dreigötterei). Amphitheismus (Zweigötterei). Monotheismus (Eingötterei). Statistik der Religionen. Naturalistischer Monotheismus. Solarismus (Sonnenkultus). Anthropistischer Monotheismus. Die drei großen Mittelmeer-Religionen. Mosaismus (Jehovah). Christenthum (Trinität). Madonnen-Kultus und Heilige. Papistischer Polytheismus. Islam. Mixotheismus (Mischgötterei). Wesen des Theismus. Extramundaner und anthropomorpher Gott. Gasförmiges Wirbelthier. Pantheismus. Intramundaner Gott (Natur). Hylozoismus der ionischen Monisten (Anaximander). Konflikt des Pantheismus und des Christenthums. Spinoza. Moderner Monismus. Atheismus.
Als letzten und höchsten Urgrund aller Erscheinungen betrachtet die Menschheit seit Jahrtausenden eine bewirkende Ursache unter dem Begriffe Gott (Deus, Theos). Wie alle anderen allgemeinen Begriffe, so ist auch dieser höchste Grundbegriff im Laufe der Vernunft-Entwicklung den bedeutendsten Umbildungen und den mannigfaltigsten Abartungen unterworfen gewesen. Ja man kann sagen, daß kein anderer Begriff so sehr umgestaltet und abgeändert worden ist; denn kein anderer berührt in gleich hohem Maße sowohl die höchsten Aufgaben des erkennenden Verstandes und der vernünftigen Wissenschaft als auch zugleich die tiefsten Interessen des gläubigen Gemüthes und der dichtenden Phantasie.
Eine vergleichende Kritik der zahlreichen verschiedenen Hauptformen der Gottes-Vorstellung ist zwar höchst interessant und lehrreich, würde uns hier aber viel zu weit führen; wir müssen uns damit begnügen, nur auf die wichtigsten Gestaltungen der Gottes-Idee und auf ihre Beziehung zu unserer heutigen, durch die reine Natur-Erkenntniß bedingsten Weltanschauung einen flüchtigen Blick zu werfen. Für alle weiteren Untersuchungen über dieses unteressante Gebiet verweisen wir auf das ausgezeichnete, mehrfach citirte Werk von Adalbert Svoboda: "Gestalten des Glaubens" (2 Bände. Leipzig 1897).
Wenn wir von allen feineren Abtönungen und bunten Gewandungen des Gottes-Bildes absehen, können wir füglich - mit Beschränkung auf den tiefsten Inhalt desselben - alle verschiedenen Vorstellungen darüber in zwei entgegengesetzte Haupt-Gruppen ordnen, in die theistische und die pantheistische Gruppe. Die letztere ist eng verknüpft mit der monistischen oder rationellen, die erstere mit der dualistischen oder mystischen Weltanschauung.
I.
Triplotheismus (Dreigötterei, Trinitäts-Lehre). Die Lehre von der "Dreieinigkeit Gottes", welche heute noch im Glaubensbekenntniß der christlichen Kulturvölker die grundlegenden "drei Glaubens-Artikel" bilden, gipfelt bekanntlich in der Vorstellung, daß der Eine Gott des Christenthums eigentlich in Wahrheit aus drei Personen von verschiedenem Wesen sich zusammensetzt: I. Gott der Vater ist der "allmächtige Schöpfer Himmels und der Erde" (dieser unhaltbare Mythus ist durch die wissenschaftliche Kosmogenie, Astronomie und Geologie längst widerlegt). II. Jesus Christus ist der "eingeborene Sohn Gottes des Vaters" (und zugleich der dritten Person, des "Heiligen Geistes!!), erzeugt durch unbefleckte Empfängniß der Jungfrau Maria (über diesen Mythus vergl. Kapitel 17). III. Der Heilige Geist, ein mystisches Wesen, über dessen unbegreifliches Verhältniß zum "Sohne" und zum Vater sich Millionen von christlichen Theologen seit 1900 Jahren den Kopf ganz umsonst zerbrochen haben. Die Evangelien, die doch die einzigen lauteren Quellen dieses christlichen Triplotheismus sind, lassen uns über die eigentlichen Beziehungen dieser drei Personen zu einander völlig im Dunkeln und geben auf die Frage nach ihrer räthselhaften Einheit keine irgend befriedigende Antwort. Dagegen müssen wir besonders darauf hinweisen, welche Verwirrung diese unklare und mystische Trinitäts-Lehre in den Köpfen unserer Kinder schon beim ersten Schulunterricht nothwendig anrichten muß. Montag Morgens in der ersten Unterrichtsstunde (Religion) lernen sie: Dreimal Eins ist Eins! - und gleich darauf in der zweiten Stunde (Rechnen): Dreimal Eins ist Drei! Ich erinnere mich selbst sehr wohl noch der Bedenken, welche dieser auffällgie Widerspruch in mir selbst beim ersten Unterricht erregte. - Uebrigens ist die "Dreieinigkeit" im Christenthum keineswegs originell, sondern gleich den meisten anderen Lehren desselben aus älteren Religionen übernommen. Aus dem Sonnendienste der chaldäischen Magier entwickelt sich die Trinität der Ilu, der geheimnisvollen Urquelle der Welt; ihre drei Offenbarungen waren Anu, das ursprüngliche Chaos, Bel, der Ordner der Welt, und Ao, das himmliche Licht, die Alles erleuchtende Weisheit. - In der Brahmanen-Religion wird die Trimurti als "Gottes-Einheit" ebenfalls aus drei Personen zusammengesetzt, aus Brahma (dem Schöpfer), Wischnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem Zerstörer). Es scheint, daß in diesen wie in anderen Trinitäts-Vorstellungen die "heilige Dreizahl" als solche - als "symbolische Zahl" - eine Rolle gespielt hat. Auch die drei ersten Christenpflichten "Glaube, Liebe, Hoffnung" bilden eine solche Triade.
Dieser Amphitheismus ist unter allen verschiedenen Formen des Götterglaubens insofern der vernünftigste, als sich seine Theorie am ersten mit einer wissenschaftlichen Welterklärung verträgt. Wir finden ihn daher schon mehrere Jahrtausende vor Christus bei verschiedenen Kulturvölkern des Altherthums ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wischnu, der Erhalter, mit Schiwa, dem Zerstörer. Im alten Egypten steht dem guten Osiris der böse Typhon gegenüber. Bei den ältesten Hebräern besteht ein ähnlicher Dualismus zwischen Aschera, der fruchtbar zeugenden Erdmutter (= Keturah), und Eljou (= Moloch oder Sethos), dem strengen Himmelsvater. In der Zend-Religion der alten Perser, von Zoroaster 2000 Jahre vor Christus gegründet, herrscht beständiger Kampf zwischen Ormudz, dem guten Gott des Lichtes, und Ahriman, dem bösen Gott der Finsterniß.
Keine geringere Rolle spielt der Teufel als Gegner des guten Gottes in der Mythologie des Christenthums als der Versucher und Verführer, der Fürst der Hölle und Herr der Finsterniß. Als persönlicher Satanas war er auch noch im Anfange des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Element im Glauben der meisten Christen; erst gegen die Mitte desselben wurde er mit zunehmender Aufklärung allmählich abgesetzt, oder er mußte sich mit jener untergeordneten Rolle begnügen, welche ihm Goethe in der größten aller dramatischen Dichtungen, im "Faust", als Mephistopheles zutheilt. Gegenwärtig gilt in den besseren gebildeten Kreisen der "Glaube an den persönlichen Teufel" als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters, während gleichzeitig der "Glaube an Gott" (d. h. den persönlichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher Bestandtheil der Religion festgehalten wird. Und doch ist der erstere Glaube ebenso voll berechtigt (und ebenso haltlos!) wie der letztere! Jedenfalls erklärt sich die vielbeklagte "Unvollkommenheit des Erdenlebens", der "Kampf um's Dasein", und was dazu gehört, viel einfacher und natürlicher durch diesen Kampf des guten und bösen Gottes als durch irgend welche Form des Gottesglaubens.
Der Monotheismus, wie ihn Moses im Jehovah-Dienste zu begründen suchte, und wie ihn später mit großem Erfolge die Propheten - die Philosophen der Hebräer - ausbildeten, hatte ursprünglich harte und lange Kämpfe mit dem herrschenden älteren Polytheismus zu bestehen. Ursprünglich war Jehovah oder Japheh aus jenem Himmelgotte abgeleitet, der als Moloch oder Baal eine der meistverehrten orientalischen Gottheiten war (Sethos oder Typhon der Egypther, Saturnus oder Kronos der Griechen). Die vielbesprochenen Forschungen der modernen Assyriologen über "Bibel und Babel" (Delitsch u. A.) haben gelehrt, daß der monotheistische Japhed-Glaube schon lange vor Moses in Babylon heimisch war. Daneben aber blieben andere Götter vielfach mit hohem Ansehen, und der Kampf mit der "Abgötterei" bestand im jüdischen Volke immer fort. Trotzdem blieb im Principe Jehovah der alleinige Gott, der im ersten der zehn Gebote Mosis ausdrücklich sagt: "Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir."
Nun hat sich aber außerdem schon frühzeitig in der Phantasie der gläubigen Christen eine zahlreiche Gesellschaft von "Heiligen" aller Art zu dieser obersten Himmels-Regierung gesellt, und musikalische Engel sorgen dafür, daß es im "ewigen Leben" an Konzert-Genüssen nicht fehlt. Die römischen Päpste - die größten Charlatans, die jemals eine Religion hervorgebracht hat! - sind beständig beflissen, durch neue Heiligsprechungen die Zahl dieser anthropomorphen Himmels-Trabanten zu vermehren. Den reichsten und interessantesten Zuwachs hat aber diese seltsame Paradies-Gesellschaft am 13. Juli 1870 dadurch bekommen, daß das vatikanische Konzil die Päpste als Stellvertreter Christi für unfehlbar erklärt und sie damit selbst zum Range von Göttern erhoben hat. Nimmt man dazu noch den von ihnen anerkannten "persönlichen Teufel" und die "bösen Engel", welche seinen Hofstaat bilden, so gewährt uns der Papismus, die heute noch meistverbreitete Form des modernen Christenthums, ein so buntes Bild des reichsten Polytheismus, daß der hellenische Olymp dagege klein und dürftig erscheint.
Allerdings konnte auch Mohammed sich von dem Anthropomorphismus der Gottes-Vorstellung nicht frei machen. Auch sein alleiniger Gott blieb ein idealisirter, allmächtiger Mensch, ebenso wie der strenge, strafende Gott des Moses, ebenso wie der milde, liebende Gott des Christus. Aber trotzdem müssen wir der mohammedanischen Religion den Vorzug lassen, daß sie auch im Verlaufe ihrer historischen Entwicklung und der unvermeidlichen Abartung den Charakter des reinen Monotheismus viel strenger bewahrte als die mosaische und die christliche Religion. Das zeigt sich auch heute noch äußerlich in den Gebets-Formen und Predikt-Weisen ihres Kultus, wie in der Architektur und Ausschmückung ihrer Gotteshäuser. Als ich 1873 zum ersten Male den Orient besuchte und die herrlichen Moscheen in Kairo und Smyrna, in Brussa und Konstantinopel bewunderte, erfüllten mich mit wahrer Andacht die einfache und geschmackvolle Dekoration des Innern, der erhabene und zugleich prächtige architektonische Schmuck des Aeußern. Wie edel und erhaben erscheinen diese Moscheen im Vergleiche zu der Mehrzahl der katholischen Kirchen, welche innen mit bunten Bildern und goldenem Flitterkram überlagen, außen durch übermäßige Fülle von Menschen- und Thier-Figuren verunstaltet sind! Nicht minder erhaben erscheinen die stillen Gebete und die einfachen Andachts-Uebungen des Koran im Vergleiche mit dem lauten, unverstandenen Wortgeplapper der katholischen Messen und der lärmenden Musik ihrer theatralischen Processionen.
In den höheren und abstrakteren Reiligions-Formen wird diese körperliche Erscheinung aufgegeben und Gott nur als "reiner Geist" ohne Körper verehrt. "Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten." Trotzdem bleibt aber die Seelenthätigkeit dieses reinen Geistes ganz dasselbe wie diejenige der anthropomorphen Gottes-Person. In Wirklichkeit wird auch dieser immaterielle Geist nicht unkörperlich, sondern unsichtbar gedacht, gasförmig. Wir gelangen so zu der paradoxen Vorstellung Gottes als eines sogenannten "gasförmigen Wirbelthieres" (1866).
II.
Da der Pantheismus erst aus der geläuterten Naturbetrachtung des denkenden Kulturmenschen hervorgehen konnte, ist er begreiflicher Weise viel jünger als der Theismus, dessen roheste Formen sicher schon vor mehr als zehntausend Jahren bei den primitiven Naturvölkern in mannigfaltigen Variationen ausgebildet wurden. Wenn auch in den ersten Anfängen der Philosophie bei den ältesten Kultur-Völkern (in Indien und Egypten, in China und Japan) schon mehrere Jahrtausende vor Christus Keime des Pantheismus in verschiedenen Religions-Formen eingestreut sich finden, so tritt doch eine bestimmte philosophische Fassung desselben erst in dem Hylozoismus der ionischen Naturphilosophen auf, in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts vor Chr. Alle großen Denker dieser Blüthe-Periode des hellenischen Geistes überragt der gewaltige Anaximander von Milet, der die principielle Einheit des unendlichen Weltganzen (Apeiron) tiefer und klarer erfaßte als sein Lehrer Thales und sein Schüler Anaximenes. Nicht nur den großen Gedanken der ursprünglichen Einheit des Kosmos, der Entwickelung aller Erscheinungen aus der Alles durchdringenden Urmaterie, hatte Anaximander bereits ausgesprochen, sondern auch die kühne Vorstellung von zahllosen, in periodischem Wechsel entstehenden und vergehenden Weltbildungen.
Auch viele von den folgenden großen Philosophen des klassischen Alterthums, vor Allen Demokritos, Heraklitos und Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne tief eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott, von Körper und Geist erfaßt, welche im Substanz-Gesetze unseres heutigen Monismus den bestimmtesten Ausdruck gewonnen hat. Der große römische Dichter und Naturphilosoph Lucretius Carus hat ihn in seinem berühmten Lehrgedichte "De rerum natura" in hochpoetischer Form dargestellt. Allein dieser naturwahre pantheistische Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt durch den mystischen Dualismus von Plato und besonders durch den gewaltigen Einfluß, den seine idealistische Philosophie durch die Verschmelzung mit den christlichen Glaubenslehren gewann. Als sodann deren mächtigster Anwalt, der römische Papst, die geistige Weltherrschaft gewann, wurde der Pantheismus gewaltsam unterdrückt; Giordano Bruno, sein geistvollster Vertreter, wurde am 17. Februar 1600 auf dem Campo Fiori in Rom von dem "Stellvertreter Gottes" lebendig verbrannt.
Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form ausgebildet; er stellte für die Gesammtheit der Dinge den reinen Substanz-Begriff auf, in welchem "Gott und Welt" untrennbar vereinigt sind. Wir müssen die Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit des monistischen Systems von Spinoza heute um so mehr bewundern, als diesem gewaltigen Denker vor 250 Jahren noch alle die sicheren empirischen Fundamente fehlten, die wir erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnen haben. Das Verhältniß von Spinoza zum späteren Materialismus im 18. und zu unserem heutigen Monismus im 19. Jahrhundert haben wir bereits im ersten Kapitel besprochen. Zur weiteren Verbreitung desselben, besonders im deutschen Geistesleben, haben vor Allem die unsterblichen Werke unseres größten Dichters und Denkers beigetragen, Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen "Gott und Welt", "Prometheus", "Faust" u. s. w. hüllen die Grundgedanken des Pantheismus in die vollkommenste und schönste dichterische Form.
Die Beziehungen unseres heutigen Monismus zu den früheren philosophischen Systemen, sowie die wichtigsten Grundzüge von deren historischer Entwickelung, sind in dem vortrefflichen "Grundriß der Geschichte der Philosophie" von Friedrich Überweg eingehend dargestellt (Neunte Auflage, bearbeitet von Max Heinze, Berlin 1902). Eine vortreffliche klare Uebersicht derselben - gewißermaßen eine "Stammesgeschichte der Welträthsel und der Versuche zu ihrer Lösung" - hat Fritz Schultze (Dresden) in seinem "Stammbaum der Philosophie" gegeben; ein "Tabellarisch-Schematischer Grundriß der Geschichte der Philosophie von den Griechen bis zur Gegenwart" (Leipzig, II. Aufl. 1899).
Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Tyrannei des Papismus, wurde der Atheismus als die entsetzlichste Form der Weltanschauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da der "Gottlose" im Evangelium mit dem "Bösen" schlechtweg identificirt und ihm im ewigen Leben - bloß wegen "Glaubensmangels"! - die Höllenstrafe der ewigen Verdammniß angedroht wird, ist es begreiflich, daß jeder gute Christ selbst den entferntesten Verdacht des Atheismus ängstlich mied. Leider besteht auch heute noch diese Auffassung in weiten Kreisen fort. Dem atheistischen Naturforscher, der seine Kraft und sein Leben der Erforschung der Wahrheit widmet, traut man von vornherein alles Böse zu; der theistische Kirchgänger dagegen, der die leeren Ceremonien des papistischen Kultus gedankenlos mitmacht, gilt deswegen als guter Staatsbürger, auch wenn er sich bei seinem Glauben gar nichts denkt und nebenher der verwerflichsten Moral huldigt. Dieser Irrthum wird sich erklären, wenn im 20. Jahrhundert der herrschende Aberglaube mehr der vernünftigen Naturerkenntniß weicht und der monistischen Ueberzeugung der Einheit von Gott und Welt.
Monistische Studien über Erkenntniß und Wahrheit. Sinnesthätigkeit und Vernunftthätigkeit. Glauben und Aberglauben. Erfahrung und Offenbarung.
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Inhalt: Erkenntniß der Wahrheit und ihre Quellen: Sinnesthätigkeit und Associon der Verstellungen. Sinnesorgane (Aestheten) und Denkorgane (Phroneten). Sinnesorgane und ihre specifische Energie. Entwickelung derselben. Philosophie der Sinnlichkeit. Unschätzbarer Werth der Sinne. Grenzen der sinnlichen Erkentniß. Hypothese und Glaube. Theorie und Glaube. Principieller Gegensatz zwischen wissenschaftlichem (natürlichem) und religiösem (übernatürlichem) Glauben. Aberglaube der Naturvölker und Kulturvölker. Glaubens-Bekenntnisse. Konfessionslose Schule. Der Glaube unserer Väter. Spiritismus. Offenbarung.
Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntniß der Wahrheit. Unser echtes und werthvolles Wissen ist realer Natur und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existirenden Dingen entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen dieser realen Welt - "das Ding an sich" - zu erkennen; aber unbefangene und kritische Beobachtung und Vergleichung überzeugt uns, daß bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche Vorstellungen gebildet werden; diese nennen wir wahr und sind dabei überzeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge entspricht. Wir wissen, daß diese Thatsachen nicht eingebildet, sondern wirklich sind.
Diesen Irrthümern gegenüber müssen wir daran erinnern, daß die "specifische Energie" ursprünglich nicht eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern durch Anpassung an die besondere Thätigkeit der Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den großen Gesetzen der Arbeitstheilung nahmen die ursprünglich indifferenten "Hautsinneszellen" verschiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemische Einwirkung riechender Substanzen u. s. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigenschaften dieser Oberhautstellen, und damit zugleich veränderten sich die sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als nützlich erwiesen, und schuf so zuletzt im Laufe vieler Jahrmillionen jene bewunderungswürdigen Instumente, welche als Auge und Ohr unsere theuersten Güter darstellen; ihre Einrichtung ist so wunderbar zweckmäßig, daß sie uns zu der irrthümlichen Annahme einer "Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan" führen könnten. Die besondere Eigenthümlichkeit jedes Sinnesorganes und seines specifischen Nerven hat sich aber erst durch Gewohnheit und Uebung - d. h. durch Anpassung - allmählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von Generation zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat diese Auffassung ausführlich begründet in seinem vortrefflichen Werke über "Empfinden und Denken; eine physiologische Untersuchung über die Natur des menschlichen Verstandes" (1896). Dort ist sowohl die richtige Deutung des Müller'schen Gesetzes von den specifischen Sinnes-Energien gegeben, als auch scharfsinnige Erörterungen über ihre Beziehungen zum Gehirn und besonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern von Ludwig Feuerbach stehende "Philosophie der Sinnlichkeit"; ich schließe mich diesen überzeugenden Ausführungen durchaus an.
Der Mensch erscheint nun in Bezug auf die Ausbildung seiner Sinne keineswegs als das vollkommenste und höchstentwickelte Wirbelthier. Das Auge der Vögel ist viel schärfer und unterscheidet kleine Gegenstände auf weite Entfernung viel deutlicher als das menschliche Auge. Das Gehör vieler Säugethiere, besonders der in Wüsten lebenden Raubthiere, Hufthiere, Nagethiere u. s. w., ist viel empfindlicher als das menschliche und nimmt leise Geräusche auf viel weitere Entfernungen wahr; darauf weist schon ihre große und sehr bewegliche Ohrmuschel hin. Die Singvögel offenbaren selbst in Bezug auf musikalische Begabung eine höhere Entwickelungsstufe als viele Menschen. Der Geruchssinn ist bei den meisten Säugethieren, namentlich Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim Menschen; wenn der Hund seine eigene feine Spürnase mit derjenigen des Menschen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf letztere herabsehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den Geschmackssinn, den Geschlechtssinn, den Tastsinn und den Temperatursinn, behauptet der Mensch keineswegs in jeder Beziehung die höchste Entwickelungsstufe.
Wir selbst können natürlich nur über diejenigen Sinnesempfindungen urtheilen, die wir selbst besitzen. Nun weist uns aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als unsere bekannten Sinnesorgane nach. So besitzen die Fische und andere niedere, im Wasser lebende Wirbelthiere eigenthümliche Sensillen in der Haut, welche mit besonderen Sinnesnerven in Verbindung stehen. In den Seiten des Fischkörpers verläuft rechts und links ein langer Kanal, der vorn am Kopfe in mehrere verzweigte Kanäle übergeht. In diesen "Schleimkanälen" liegen Nerven mit zahlreichen Aesten, deren Enden mit eigenthümlichen Nervenbündeln verbunden sind. Wahrscheinlich dient dieses ausgedehnte "Hautsinnesorgan" zur Wahrnehmung von Unterschieden im Wasserdruck oder in anderen Eigenschaften des Wassers. Einige Gruppen sind noch durch den Besitz anderer eigenthümlicher Sensillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt ist.
Schon aus diesen Thatsachen ergiebt sich, daß unsere menschliche Sinnesthätigkeit beschränkt ist, und zwar sowohl in quantitativer als in qualitativer Hinsicht. Wir können also mit unseren Sinnen, vor Allem dem Auge und dem Tastsinn, immer nur einen Theil der Eigenschaften erkennen, welche die Objekte der Außenwelt besitzen. Aber auch diese partielle Wahrnehmung ist unvollständig, insofern unsere Sinneswerkzeuge unvollkommen sind und die Sinnesnerven als Dolmetscher dem Gehirn nur die Uebersetzung der empfangenen Eindrücke mittheilen.
Diese anerkannte Unvollkommenheit unserer Sinnesthätigkeit darf uns aber nicht hindern, in deren Werkzeugen, und vor Allem im Auge, die edelsten Organe zu erblicken; im Vereine mit den Denkorganen des Gehirns sind sie das werthvollste Geschenk der Natur für den Menschen. In voller Wahrheit sagt Albrecht Rau (a. a. O.): "Alle Wissenschaft ist in letzter Linie Sinneserkenntniß"; die Data der Sinne werden darin nicht negirt, sondern interpretirt. Die Sinne sind unsere ersten und besten Freunde; lange bevor sich der Verstand entwickelt, sagen die Sinne dem Menschen, was er thun und lassen soll. Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren Gefahren zu entgehen, der handelt ebenso unbesonnen und thöricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie einmal auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der, welcher seine Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte einmal auch nach fremdem Gute langen." Mit vollem Rechte nennt deshalb Feuerbach alle Philosophien, alle Religionen, alle Institute, die dem Principe der Sinnlichkeit wiedersprechen, nicht nur irrthümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne Sinne keine Erkenntniß! "Nihil est in entellectu, quod non fuerit in sensu!" (Locke.) Welches hohe Verdienst sich neuerdings der Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich schon vor 25 Jahren in meinem Vortrage "Ueber Ursprung und Entwickelung der Sinnesorgane" zu zeigen versucht (Bonn 1878).
Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als "Glauben" bezeichnen. So geschieht es fortwährend im alltäglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatsache nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuthen oder nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältniß zwischen zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen. Handelt es sich dabei um die Erkenntniß von Ursachen, so bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb des menschlichen Erkenntniß-Vermögens liegen, und die nicht bekannten Thatsachen widersprechen. Soche Hypothesen sind z. B. in der Physik die Lehre von Vibrationen des Aethers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Molekular-Struktur des lebendigen Plasmas u. s. w.
Die Gravitations-Theorie in der Astronomie (Newton), die kosmologische Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das Energie-Princip in der Physik (Mayer und Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die Vibrations-Theorie in der Optik, (Huyghens), die Zellen-Theorie in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Descendenz-Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen Natur-Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Thatsachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine "provisorische Hypothese" sein. Die "Schwerkraft" in der Gravitations-Theorie und in der Kosmogenie, die "Energie" selbst in ihrem Verhältniß zur Materie, der "Aether" in der Optik und Elektrik, das "Atom" in der Chemie, das lebendige "Plasma" in der Zellenlehre, die "Vererbung" in der Abstammungslehre - diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als "bloße Hypothesen", als Erzeugnisse des wissenschaftlichen Glaubens betrachtet werden, aber sie bleiben uns als solche unentbehrliche, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.
Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen kritischen Blick auf die gegenwärtig noch herrschenden Glaubens-Vorstellungen der heutigen Kulturvölker, so finden wir sie allenthalben von traditionellen Aberglauben durchdrungen. Der christliche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die Erlösung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi u. s. w. ist ebenso reine Dichtung und kann ebenso wenig mit der vernünftigen Natur-Erkenntniß in Einklang gebracht werden, als die verschiedenen Dogmen der mohammedanischen und mosaischen, der buddhistischen und brahmanischen Religion. Jede von diesen Religionen ist für den wahrhaft "Gläubigen" eine zweifellose Wahrheit, und jede von ihnen betrachtet jede andere Glaubenslehre als Ketzerei und verderblichen Irrthum. Je mehr eine bestimmte Konfession sich für die "allein selig machende" hält - für die "katholische" - und je inniger diese Ueberzeugung als heiligste Herzenssache vertheidigt wird, desto eifriger muß sie naturgemäß alle anderen Konfessionen bekämpfen, und desto fanatischer gestalten sich die fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigsten Blätter im Buche der Kulturgeschichte bilden. Und doch überzeugt uns die unparteiische "Kritik der reinen Vernunft", daß alle diese verschiedenen Glaubensformen in gleichem Maße unwahr und unvernünftig sind, Produkte der dichtenden Phantasie und der unkritischen Tradition. Die vernünftige Wissenschaft muß sie sammt und sonders als Erzeugnisse des Aberglaubens verwerfen.
Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle vernünftiger Erkenntniß, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz wahren Wissens, der den werthvollsten Theil der menschlichen Kultur darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der forschende Verstand durch Natur-Erkenntniß gewonnen hat, und den Vernunft-Schlüssen, welche er durch richtige Associon dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat. Jeder vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben.
Monistische Studien über den Kampf zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung. Die vier Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion. Vernunft und Dogma.
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Inhalt: Wachsender Gegensatz zwischen moderner Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung. Der alte und der neue Glaube. Vertheidigung der vernünftigen Wissenschaft gegen die Angriffe des christlichen Aberglaubens, vor Allem gegen den Papismus. Vier Perioden in der Entwickelungsgeschichte des Christenthums. I. Das Urchristenthum (drei Jahrhunderte). Die vier kanonischen Evangelien. Die Episteln Pauli. II. Der Papismus (das ultramontane Christenthum). Rückschritt der Kultur im Mittelalter. Ultramontane Geschichtsfälschung. Papismus und Wissenschaft. Papismus und Christenthum. III. Die Reformation. Luther und Calvin. Das Jahrhundert der Aufklärung. IV. Das Scheinchristenthum des 19. Jahrhunderts. Die Kriegserklärung des Papstes gegen die Vernunft und Wissenschaft: I. Unfehlbarkeit. II. Encyklika. III. Unbefleckte Empfängniß.
Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden 19. Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Christenthum. Das ist ganz natürlich und nothwendig; denn in demselben Maße, in welchem die siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntniß alle wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten "Offenbarung" beugen wollen; und dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im Gesammtbereiche der organischen Natur nachgewiesen ist, desto heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereiche des sogenannten "Geisteslebens" anzuerkennen, d. h. in einem Theilgebiete der Gehirn-Physiologie.
Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen Weltanschauung hat Niemand klarer, muthiger und unwiderleglicher bewiesen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts, David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: "Der alte und der neue Glaube" (1872, vierzehnte Auflage 1900) ist der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des Christenthums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller derjenigen, welche den Muth finden, das Recht der Vernunft gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu wahren, und welche das philosophische Bedürfniß nach einer einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als ehrlicher und muthiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die wichtigsten Gegensätze zwischen "altem und neuem Glauben" klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit des Entscheidungskampfes zwischen beiden - "auf Tod und Leben" - hat von philosophischer Seite namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christenthums (1874).
Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Kritik des Christenthums, seines Wesens und seiner Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk. 1864 (XI. Auflage, Bonn 1890). Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christenthums. 1841 (IV. Aufl. 1883). Paul de Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte dargestellt. Leipzig, 1894. S. E. Verus, Vergleichende Uebersicht der vier Evangelien. Leipzig, 1897.
Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach, sowie die "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande hier ein besonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und nothwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Besonderen in neuester Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, so wie die steigende Fluth der Reaktion auf politischem, socialem und kirchlichem Gebiete nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu verschärfen. Wollte Jemand daran zweifeln, so braucht er nur die Verhandlungen der christlichen Synoden und des Deutschen Reichstags in den letzten Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem geistlichen Regimente, ihrem natürlichen Todfeinde, auf möglichst gutem Fuß zu setzen, d. h. sich dessen Joche zu unterwerfen; als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem Zwecke, sich auf diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.
Wir müssen ausdrücklich betonen, daß es sich hier um nothgedrungene Vertheidigung der Wissenschaft und der Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer gewaltigen Heerschaaren handelt, und nicht etwa um unberechtigte Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie muß dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese "allein selig machende" und "für Alle bestimmte" katholische Kirche ist nicht allein weit größer und weit mächtiger als die anderen christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor Allem den Vorzug einer großartigen, centralisirten Organisation und einer unübertroffenen politischen Schlauheit. Man hört allerdings oft von Naturforschern und von anderen Männern der Wissenschaft die Ansicht äußern, daß der katholische Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des übernatürlichen Glaubens, und daß diese trügerischen "Gestalten des Glaubens" alle in gleichem Maße die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im allgemeinen theoretischen Princip ist diese Behauptung richtig, aber in Bezug auf die praktischen Folgen irrthümlich; den die zielbewußten und rücksichtslosen Angriffe der ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.
I. Das Urchristenthum umfaßt die ersten drei Jahrhunderte. Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustande der Welterkenntniß, zu dem die griechische Philosophie und Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von seiner ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den wichtigsten Schriften des Neuen Testamentes: erstens aus den vier Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen. Von den vier kanonischen Evangelien wissen wir jetzt, daß sie im Jahre 325 auf dem Koncil zu Nicäa durch 3318 versammelte Bischöfe aus einem Haufen von wiedersprechenden und gefälschten Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht wurden. Auf die weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da sich die streitenden, boshaft sich schmähenden Bischöfe über die Auswahl nicht einigen konnten, beschloß man, die Auswahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen, man legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, daß die unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben möchten, die echten von Gott selbst eingegebenen dagegen auf den Tisch des Herrn hinaufhüpfen möchten. Und das geschah wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas - alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen niedergeschrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts -) und das ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten (tausendfach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen Glaubenslehre. Sollte ein moderner "Ungläubiger" dieses "Bücherhüpfen" unglaubwürdig finden, so erinnern wir ihn daran, daß das ebenso glaubhafte "Tischrücken" und "Geisterklopfen" noch heute von Millionen "gebildeter" Spiritisten fest geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer eigenen Unsterblichkeit, ihrer "Auferstehung nach dem Tode" und von der "Dreieinigkeit Gottes" überzeugt - Dogmen, welcher der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes wunderbare Springen der Evangelien-Handschriften. Näheres darüber berichtet der englische Theologe Saladin (Stewart Rofs) in seiner scharfsinnigen, neuerdings vielbesprochenen Schrift: "Jehovahs Gesammelte Werke", eine kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der Bibelforschung, Leipzig 1896. (Vergl. Anm. 4, S. 159.).
Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten Quellen die 13 verschiedenen (größtentheils gefälschten!) Episteln des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der neueren Kritik zufolge nur vier: an die Römer, die Galater und die beiden Korinther-Briefe) sind sämmtlich früher niedergeschrieben als die vier kanonischen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie mehr als diese sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruirt daher theilweise ihr ideales Christenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe als der Evangelien, so daß man dasselbe geradezu als Paulinismus bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit des Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und praktischen Sinn befaß als Christus, ist für die anthropologische Beurtheilung auch insofern interessant, als der Rassen-Ursprung der beiden großen Religions-Stifter ähnlich sein soll. Auch den beiden Eltern des Paulus soll (neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer, die Mütter jüdischer Rasse sein. Die Mischlinge dieser beiden Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide Zweige derselben Species: Homo mediterraneus!), zeichnen sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und Charakter-Eigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische Phantasie der Semiten und die kritische occidentale Vernunft der Arier ergänzen sich oft in vortheilhafter Weise. Das zeigt sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren Einfluß gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie, deren Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung zeigte der Neuplatonismus.
Ueber die ursprünglichen Lehren und Ziele von Christus - ebenso wie über viele wichtigen Seiten seines Lebens - sind die Ansichten der streitenden Theologen um so mehr auseinander gegangen, je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach, Baur, Renan u. s. w.) die zugänglichen Thatsachen in ihr wahres Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus gezogen hat. Sicher bleibt davon stehen das edelste Princip der allgemeinen Menschenliebe und der daraus folgende höchste Grundsatz der Sittenlehre: die "goldene Regel" - beide übrigens schon Jahrhunderte vor Christus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)! Im Uebrigen waren die Urchristen der ersten Jahrhunderte zum größten Theil reine Kommunisten, zum Theil Social-Demokraten, die nach den heute in Deutschland herrschenden Grundsätzen mit Feuer und Schwert hätten vertilgt werden müssen.
II.
III.
IV.
Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen, alles Frühere weit überbietenden Fortschritten der Naturerkenntniß das moderne Christenthum? Zunächst wurde natugemäß die tiefe Kluft zwischen den beiden Hauptrichtungen desselben immer größer, zwischen dem konservativen
Papismus und dem progressiven Protestantismus. Der ultramontane Klerus (- und im Verein mit ihm die orthodoxe "Evangelische Allianz" -) mußten naturgemäß jenen mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen Buchstaben-Glauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden entgegengesetzten Principien; er suchte die unvermeidliche Anerkennung der emprisich bewiesenen Naturgesetze und der daraus gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromiß-Versuche; darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die Ueberzeugung, daß das dogmatische Christenthum überhaupt jeden Boden verloren habe, und daß man nur seinen werthvollen ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des 20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebene äußeren Formen der herrschenden christlichen Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen politischen Entwickelung mit den praktischen Bedürfnissen des Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise, die wir nur als Scheinchristenthum bezeichnen können - im Grunde eine "religiöse Lüge" bedenklichster Art. Die großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren Ueberzeugung und dem falschen Bekenntniß der modernen Scheinchristen mit sich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau geschildert in seinem interessanten Werke: "Die Konventionellen Lüger der Kulturmenschheit" (1883; XII. Auflage 1886).
Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden Scheinchristenthums ist es für den Fortschritt der vernunftgemäßen Naturerkenntniß sehr werthvoll, daß dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher höherer Geistesbildung fortgeworfen und der selbstständigen Wissenschaft als solcher den entscheidenden "Kampf auf Tod oder Leben" angekündigt hat. Es geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen "Statthalter Christi" nur dankbar sein kann: I. Im Dezember 1854 verkündete der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängniß Mariä. II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach der "heilige Vater" in der berüchtigten Encyklika das absolute Verdammungs-Urtheil über die ganze moderne Civilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden Syllabus gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Principien, welche von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit anerkannt sind. III. Endlich setzte sechs Jahre später, am 13. Juli 1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Dieser Triumpf der römischen Kurie wurde der erstaunten Welt fünf Tage später verkündet, am 18. Juli 1870, an demselben denkwürdigen Tage, an welchem Frankreich den Krieg an Preußen erklärte! Zwei Monate später wurde die weltliche Herrschaft des Papstes infolge dieses Krieges aufgehoben.
Die ganze Geschichte des Papstthums, wie sie durch Tausende von zuverlässigen Quellen und von handgreiflichen historischen Dokumenten unwiderleglich festgenagelt ist, erscheint für den unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug, als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter Macht, als eine frivole Verleugnung aller der hohen sittlichen Gebote, welche das wahre Christenthum predigt: Menschenliebe und Duldung, Wahrheit und Keuschheit, Armuth und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen sie gewählt wurden, nach dem Maßstabe der reinen christlichen Moral mustert, ergiebt sich klar, daß die große Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten historischen Thatsachen hindern aber nicht, daß noch heute Millionen von "gebildeten" Katholiken an die "Unfehlbarkeit" dieses "heiligen Vaters" glauben, die er sich selbst zugesprochen hat; sie hindern nicht, daß heute noch protestantische Fürsten nach Rom fahren und den "heiligen Vater" (ihrem gefährlichsten Feinde!) ihre Verehrung bezeugen; sie hindern nicht, daß noch heute im Deutschen Reichstage die Knechte und Helfershelfer dieses "heiligen Gauklers" die Geschicke des Deutschen Volkes bestimmen - dank seiner unglaublichen politischen Unfähigkeit und seiner kritiklosen Gläubigkeit!
Die besonderen Gaben des Geistes und Körpers, durch welche solche "Kinder der Liebe" oft vor gewöhnlichen Menschenkindern sich auszeichneten, wurden damit zugleich theilweise durch Vererbung erklärt. Solche hervorragende "Göttersöhne" standen sowohl im Alterthum als im Mittelalter in hohem Ansehen, während der Moral-Kodex der modernen Civilisation ihnen den Mangel der "legitimen" Eltern als Makel anrechnet. In noch höherem Maße gilt dies von den "Göttertöchtern", obwohl diese armen Mädchen an dem fehlenden Titel ihres Vaters ebenso unschuldig sind. Uebrigens weiß Jeder, der sich an der schönheitsvollen Mythologie des klassischen Alterthums erfreut hat, wie gerade die angeblichen Söhne und Töchter der griechischen und römischen "Götter" sich oft den höchsten Idealen des reinen Menschen-Typus am meisten genähert haben; man denke nur an die große legitime und die noch viel größere illegitime Familie des Göttervaters Zeus u. s. w. (Vgl. auch Shakespeare.)
Was nun speciell die Befruchtung der Jungfrau Maria durch den heiligen Geist betrifft, so werden wir duch das Zeugniß der Evangelien selbst darüber aufgeklärt. Die beiden Evangelisten, welche allein daüber Bericht erstatten, Matthäus und Lukas, erzählen übereinstimmend, daß die jüdische Jungfrau Maria mit dem Zimmermann Joseph verlobt war, aber ohne dessen Mitwirkung schwanger wurde, und zwar durch den "Heiligen Geist". Matthäus sagt ausdrücklich (Kap. 1, Vers 19): "Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber sie heimlich zu verlassen"; er wurde erst beschwichtigt, als ihm der "Engel des Herrn" mittheilte: "Was in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist." Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die "Verkündigung Mariä" durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: "Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten" - worauf Maria antwortet; "Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast." Bekanntlich ist dieser Besuch des Engels Gabriel und seine Verkündigung von vielen berühmten Malers zum Vorwurf interessanter Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt darüber: "Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich auch in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibelstoffes durch die bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler, welche für die embryologischen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren Darstellungen volles Verständniß bekundeten."
Wie schon früher angeführt wurde, sind die vier kanonischen Evangelien, welche der von christlichen Kirche allein als die echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hochgehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren Zahl von Evangelien, deren thatsächliche Angaben sich oft unter sich nicht weniger widersprechen als die Sagen der ersteren. Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger als 40-50 solcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon sind sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache vorhanden, so z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A. Die Angaben, welche diese apokryphen Evangelien über das Leben Jesu machen, bsonders über seine Geburt und Kindheit, können ebenso gut (oder größtentheils ebenso wenig!) Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben als die vier kanonischen, die sogenannten "echten" Evangelien. Nun findet sich aber in einer jener apokryphen Schriften eine historische Angabe, die wahrscheinlich das "Welträthsel" von der übernatürlichen Empfängniß und Geburt Christi ganz einfach und natürlich löst. Jener Geschichtsschreiber erzählt mit trockenen Worten in einem Satze die merkwürdige Novelle, welche diese Lösung enthält: "Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen und wurde der Vater von Jesus." (Vergl. Celsus, 178 n. Chr.)
Natürlich werden diese historischen Angaben von den officiellen Theologen sorgfältig verschwiegen, da sie schlecht zu dem traditionellen Mythus passen und den Schleier von dessen Geheimniß in sehr einfacher und natürlicher Weise lüften. Um so mehr ist es gutes Recht der objektiven Wahrheitsforschung und heilige Pflicht der reinen Vernunft, diese wichtigen Angaben kritisch zu prüfen. Da ergiebt sich denn, daß dieselben sicher weit mehr Anrecht auf Glaubwürdigkeit haben, als alle anderen Behauptungen über den Ursprung Christi. Da wir seine Parthenogenesis, die übernatürliche Erzeugung durch "Ueberschattung des Höchsten", aus den bekannten wissenschaftlichen Principien überhaupt als reinen Mythus ablehnen müssen, bleibt nur noch die weitverbreitete Behauptung der modernen "rationellen Theologie" übrig, daß der jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus gewesen sei. Diese Annahme wird aber durch verschiedene Sätze des Evangeliums ausdrücklich wiederlegt; Christus selbst war überzeugt, "Gottes Sohn" zu sein, und hat niemals seinen Stiefvater Joseph als seinen Erzeuger anerkannt. Joseph aber wollte seine Braut Maria verlassen, als er entdeckte, daß sie ohne sein Zuthun schwanger geworden war. Er gab diese Absicht erst auf, nachdem ihm im Traum ein "Engel des Herrn" erschienen war und ihn beschwichtigt hatte. Wie im ersten Kapitel des Evangeliums Matthäi (Vers 24, 25) ausdrücklich hervorgehoben wird, fand die sexuelle Verbindung von Joseph und Maria zum ersten Male statt, nachdem Jesus geboren war.
Die Angabe der alten apokryphen Schriften, daß der römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakter-Züge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders auszeichnen und welche seiner "Religion der Liebe" den Stempel aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen Rasse und vor allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen. Nun deutet aber der Name von Christus' wahrem Vater: "Pandera", unzweifelhaft auf hellenischen Ursprung; in einer Handschrift wird er sogar "Pandora" geschrieben. Pandora war aber bekanntlich nach der griechischen Sage die erste, von Vulkan aus Erde gebildete und von den Göttern mit allen Liebreizen ausgestattete Frau, welche Epimetheus heirathete, und welche der Götter-Vater mit der schrecklichen, alle Uebel enthaltenden "Pandora-Büchse" zu den Menschen schickte, zur Strafe dafür, daß der Lichtbringer Prometheus das göttliche Feuer (der "Vernunft"!) vom Himmel entwendet hatte.
Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und Beurtheilung, welche der Liebesroman der Mirjam von Seiten der vier großen christlichen Kultur-Nationen Europa's erfahren hat. Nach den strengeren Moral-Begriffen der germanischen Rassen wird derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der Erzeugung durch den "heiligen Geist". Wie bekannt, entspricht diese strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen "High life". Die Enthüllungen z. B., welche darüber vor einem Dutzend Jahren die "Pall Mall Gazette" brachte, erinnerten sehr an die Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit.
Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurtheilen, finden jenen "Roman der Maria" recht anziehend, und der besondere Kultus, dessen gerade in Frankreich und Italien "Unsere liebe Frau" sich erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivetät mit jener Liebesgeschichte verknüft. So finden z. B. Paul de Regla (Dr. Desjardin), welcher (1894) "Jesus von Nazareth vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte aus dargestellt" hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein besonderes "Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche Gestalt umstrahlt"!
Es erschien mir nothwendig, diese wichtigen Fragen der Christus-Forschung hier offen im Sinne der objektiven Geschichts-Wissenschaft zu beleuchten, weil die streitende Kirche selbst darauf das größte Gewicht legt, und weil sie den darauf gegründeten Wunderglauben als stärkste Waffe gegen die moderne Weltanschauung verwendet. Der hohe ethische Werth des ursprünglichen reinen Christenthums, der veredelnde Einfluß diese "Religion der Liebe" auf die Kulturgeschichte, ist ganz unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen "Offenbarungen", auf welche sich diese Mythen stützen, sind dagegen unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen Naturerkenntniß.
Monistische Studien über die Religion der Vernunft und ihre Harmonie mit der Wissenschaft. Die drei Kultus-Ideale des Wahren, Guten und Schönen.
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Inhalt: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Der Kulturkampf. Verhältnisse von Staat und Kirche. Principien der monistischen Religion. Ihre drei Kultus-Ideale: das Wahre, Gute und Schöne. Gegensatz der natürlichen und christlichen Wahrheit. Harmonie der monistischen und christlichen Tugend-Begriffe. Gegensatz der monistischen und christlichen Kunst. Moderne Erweiterung und Bereicherung des Weltbildes. Landschafts-Malerei und moderner Naturgenuß. Schönheiten der Natur. Diesseits und Jenseits. Monistische Kirchen.
Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der Gegenwart, welche unsere monistischen Ueberzeugungen theilen, halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwickelung, die wir den gewaltigen Erkenntnißfortschritten des 19. Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausalitäts-Bedürfniß unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühls-Bedürfnisse unseres Gemüthes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus thatsächlich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu Einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit (ganz abgesehen von den ungebildeten Volksmassen) bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein selbstständiges, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere.
Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir eine Versöhnung zwischen jenen beiden großen, anscheinend getrennten Gebieten in der Auffassung finden, welche ich 1892 in meinem Altenburger Vortrage niedergelegt habe: "Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft". In dem Vorwort zu diesem "Glaubensbekenntniß eines Naturforschers" habe ich mich über dessen doppelten Zweck mit folgenden Worten geäußert: "Erstens möchte ich damit derjenigen vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniß mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird; sie wohnt im Innersten von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern, wenn auch nur wenige den Muth oder das Bedürfniß haben, sie offen zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwischen Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur Ausgleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen beiden Gebieten der höchsten menschlichen Geistesthätigkeit unnöthiger Weise aufrecht erhalten wird; das ethische Bedürfniß unseres Gemüthes wird durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das logische Kausalitäts-Bedürfniß unseres Verstandes."
Die starke Wirkung, welche dieser Altenburger Vortrag hatte, beweist, daß ich mit diesem monistischen Glaubensbekenntniß nicht nur dasjenige vieler Naturforscher, sondern auch zahlreicher gebildeter Männer und Frauen aus verschiedenen Berufskreisen ausgesprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von zustimmenden Briefen belohnt, sondern auch durch die weite Verbreitung des Vortrags, von welchem innerhalb sechs Monaten sechs Auflagen erschienen. Ich darf diesen unerwarteten Erfolg um so höher anschlagen, als jenes Glaubensbekenntniß ursprünglich eine freie Gelegensheitsrede war, die unvorbereitet am 9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes entstand. Natürlich erfolgte auch bald die nothwendige Gegenwirkung nach der anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen Presse des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den geschworenen Vertheidigern des Aberglaubens, sondern auch von "liberalen" Kriegsmännern des evangelischen Christenthums, welche sowohl die wissenschafliche Wahrheit als auch den aufgeklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber in den sieben seitdem verflossenen Jahren der große Kampf zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen Christenthum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung da letztere durch die wachsende geistige und politische Reaktion gefunden hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so weit vorgeschritten, daß die gesetzlich garantirte Denk- und Gewissensfreiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z. b. jetzt in Bayern). In der That hat der große weltgeschichtliche Geisteskampf, welchen John Draper in seiner "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" so vortrefflich schildert, heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn deshalb seit 30 Jahren mit Recht als "Kulturkampf".
Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer Versuch die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistes-Tyrannei zu befreien; die gesammte liberale Presse feierte Fürst Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale Presse" das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasselbe thut sie noch heute. Diese Thatsache beweist nur, wie kurz das Gedächtniß unserer Zeitungsschreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geschichte und wie unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte "Friedensschluß zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den absolutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen behaupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissenschaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Entweder siegt die "alleinseligmachende Kirche", und dann hört "freie Wissenschaft und freie Lehre" überhaupt auf; dann werden sich unsere Universitäten in Konvikte, unsere Gymnasien in Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt der moderne Vernunft-Staat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die menschliche Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit höherem Maaße fortschreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weise der Fall gewesen ist. (Vergl. hierüber Eduard Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christenthums, 1874).
Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei gewordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebilde für das menschliche Gemüth herrichtet; eine Palast der Vernunft, in welchem wir mittelst unserer neu gewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre "Dreieinigkeit" des 19. Jahrhunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieser göttlichen Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor Allem nothwendig, uns mit den herrschenden Religionsformen des Christenthums aus einander zu setzen und die Veränderungen in's Auge zu fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere zu erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und Mängel eine so hohen sittlichen Werth, sie ist vor Allem seit anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß wir uns bei Begründung unserer monistischen Institutionen anlehnen müssen. Wi wollen keine gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Reformation unseres religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise nun, wie vor 2000 Jahren die klassische Poesie der alten Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Gestalten verkörperte, können wir auch unseren drei Vernunft-Idealen die Gestalt hehrer Göttinnen verleihen; wir wollen untersuchen, wie die drei Göttinnen der Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach unserem Monismus sich gestalten, und wir wollen ferner ihr Verhältniß zu den entsprechenden Göttern des Christenthums untersuchen, die sie ersetzen sollen.
Nun lehrt uns freilich die Kulturgeschichte, daß diese asketische Christen-Moral, die aller Natur Hohn sprach, als natürliche Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte massenhaft Novellen, wie sie die Literatur der Renaissance sehr naturwahr geschildert hat. Der Kultus der "Schönheit", der hier getrieben wurde, stand mit der gepredigten "Weltentsagung" in schneidendem Widerspruch, und dasselbe gilt von dem Luxus und der Pracht, welche sich bald in dem sittenlosen Privatleben des höheren katholischen Klerus und in der künstlerischen Auschmückung der christlichen Kirchen und Klöster entwickelten.
Indessen bedarf es nicht weiter Reisen und kostspieliger Werke, um jedem Menschen die Herrlichkeiten dieser Welt zu erschließen. Vielmehr müssen dafür nur seine Augen geöffnet und sein Sinn geübt werden. Ueberall bietet die umgebende Natur eine überreiche Fülle von schönen und interessanten Objekten aller Art. In jedem Moose und Grashalme, in jedem Käfer und Schmetterling finden wir bei genauer Untersuchung Schönheiten, an denen der Mensch gewöhnlich achtlos vorübergeht. Vollends wenn wir dieselben mit einer Lupe bei schwacher Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn wir die stärkere Vergrößerung eines guten Mikroskopes anwenden, entdecken wir überall in der organischen Natur eine neue Welt voll unerschöpflicher Reize.
Aber nicht nur für diese ästhetische Betrachtung des Kleinen und Kleinsten, sondern auch für diejenige des Großen und Größten in der Natur hat uns erst das 19. Jahrhundert die Augen geöffnet. Noch im Beginne desselben war die Ansicht herrschend, daß die Hochgebirgsnatur zwar großartig, aber furchtbar sei. Jetzt, am Ende desselben, sind die meisten Gebildeten - und besonders die Bewohner der Großstädte - glücklich, wenn sie jährlich auf ein paar Wochen die Herrlichkeit der Alpen und die Krystallpracht der Gletscher genießen können; oder wenn sie sich an der Majestät des blauen Meeres, an den reizenden Landschaftbildern seiner Küsten erfreuen können. Alle diese Quellen edelsten Naturgenusses sind uns erst neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbar und verständlich geworden, und die erstaunlich gesteigerte Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verkehrs hat selbst den Unbemittelteren die Gelegenheit zu ihrer Kenntniß verschafft. Alle diese Fortschritte im ästhetischen Naturgenusse - und damit zugleich im wissenschaftlichen Naturverständniß - bedeuten ebenso viele Fortschritte in der höheren menschlichen Geistesbildung und damit zugleich in unserer monistischen Religion.
Monistische Studien über das ethische Grundgesetz. Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichbereichtigung des Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule und Kirche.
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Inhalt: Monistische und dualistische Ethik. Widerspruch der reinen und praktischen Vernunft bei Kant. Sein kategorischer Imperativ. Die Neokantianer. Herbert Spencer. Egoismus und Altruismus (Selbstliebe und Nächstenliebe). Aequivalenz beider Naturtriebe. Das ethische Grundgesetz; die Goldene Regel. Alter derselben. Christliche Sittenlehre. Verachtung des Individuums, des Leibes, der Natur, der Kultur, der Familie, der Frau. Papistische Moral. Unsittliche Folgen des Cölibats. Nothwendigkeit der Abschaffung des Cölibat, Ohrenbeichte und Ablaßkram. Staat und Kirche. Religion ist Privatsache. Kirche und Schule. Staat und Schule. Nothwendigkeit der Schulreform.
Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen. Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zu Folge muß unsere gesammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen, welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntniß der Natur-Gesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen Theil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein. Es giebt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, immaterielle Welt.
Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen, als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Welterkenntniß sein und sich vielmehr auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntniß der sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische Vernunft geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft. Dieser unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's Philosphie war ihre größter und schwerster Fehler; er hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig fort. Zuerst hat der kritische Kant den großartigen und bewunderungswürdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille und die unsterbliche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß vernünftige Beweise für deren Realität gar nicht zu finden sind. Später aber baute der dogmatische Kant an diesen realen Krystall-Palast der reinen Vernunft das schimmernde ideale Luftschloß der praktischen Vernunft an, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vorderthür mittelst des vernünftigen Wissens hinausgeschafft wurden, kehrten sie nun durch die Hinterthür mittelst des unvernünftigen Glaubens wieder zurück.
Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit einem seltsamen Idol, dem brühmten kategorischen Imperativ; danach ist die Forderung des allgemeinen Sittengesetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht und Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet; "Handle jederzeit so, daß die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens) zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen schönene Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, daß unter den Natur-Völkern die Pflichten noch weit verschiedener sind als unter den Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen (Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch u. s. w.), gelten bei anderen Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als Pflichtgebote.
Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen und der praktischen Vernunft, schon im Anfange des 19. Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so eindringlich gerade wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil ihr eigener mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirksame Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-Gesetzes, daß es keinen "persönlichen Gott" giebt; die vergleichende und genetische Psychologie zeigte, daß eine "unsterbliche Seele" nicht existiren kann, und die monistische Physiologie wies nach, daß die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht. Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die "ewigen, ehernen Naturgesetze" der anorganischen Welt auch in der organischen und moralischen Welt Geltung haben.
Unsere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv, indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen Monismus setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen Imperativ" beruht, sondern auf dem realen Boden der socialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik durch die Entwickelungslehre verdanken.
I. Die Selbst-Verachtung des Christenthums. Als obersten und wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Uebertreibung der Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das Christenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im Princip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut unentbehrlich; ja man kann sagen, daß auch der Altruismus, sein scheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist. Nichts Großes, nichts Erhabeneres ist jemals ohne Egoismus geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz (Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber praktisch von sehr bedenklichem Werthe. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung: "Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den Mantel"; d. h. in das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich ein gewissenloser Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt, dann schenke ihm auch noch die anderen Hälfte" - oder in die politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt ihnen auch noch die übrigen Kolonien - oder am besten: gebt ihnen Deutschland auch noch dazu!" Da wir hier gerade die vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren, in welchem schneidenden Widerspruch dieselbe zu allen Grundlehren der christlichen Liebe steht, welche von dieser großen Nation mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens ist ja der offenkundige Widerspruch zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der christlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Thatsache. Es wäre interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menschen das altruistische Sitten-Ideal der einzelnen Person sich in sein Gegentheil verwandelt, in die rein egoistische "Real-Politik" der Staaten und Nationen.
II. Die Leibes-Verachtung des Christenthums. Da der christliche Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurtheilt und der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, daß der ersteren ein viel höherer Werth beigemessen wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben des christlichen Mittelalters sehr unvortheilhaft vor demjenigen des heidnischen klassischen Alterthums auszeichnet. In der christlichen Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der mohammedanischen, der indischen und anderen Religionen nicht nur theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen. Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch, der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Betübungen, sinnlosem Fasten u. s. w. zubringt. Als Auswüchse dieser Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.
III. Die Natur-Verachtung des Christenthums. Eine Quelle von unzähligen theoretischen Irrthümern und praktischen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen liegt in dem falschen Anthropismus des Christenthums, in der exklusiven Stellung, welche dasselbe dem Menschen als "Ebenbild Gottes" anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat dasselbe nicht allein zu einer höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter "Natur" beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen Organismen. Das Christenthum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid mit den nächststehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden, Pferden, Rindern u s. w.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholischen Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener abscheulichen Thierquälereien gewesen, die uns Thierfreunden sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und wenn er dann jenen rohen "Christen" Vorwürfe über ihre Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: "Ja, die Thiere sind doch keine Christen!" Leider wurde dieser Irrthum auch durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Thieren. Wie erhaben steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugethiere abstammen, und daß diese "unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, daß diese Thiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir, daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wir wir. Kein mitfühlender, monistische Naturforscher wird sich jemals jener rohen Mißhandlung der Thiere schuldig machen, die der gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn - als "Kind des Gottes der Liebe!" - gedankenlos begeht. - Außerdem aber entzieht die principielle Natur-Verachtung des Christenthums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen Freuden, vor Allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden Naturgenuß.
IV. Die Kultur-Verachtung des Christenthums. Da nach Christi Lehre unsere Erde ein Jammerthal ist, unser irdisches Leben werthlos und nur eine Vorbereitung auf das "ewige Leben" im besseren Jenseits, so verlangt sie folgerichtig, daß demgemäß der Mensch auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu diesen "irdischen Gütern" gehören aber für den modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche unser heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich gestalten; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle die höhen Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche schon während des christlichen Mittelalters (und trotz seiner Principien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als "ideale Güter" hochschätzen; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle jene unschätzbaren Fortschritte der Wissenschaft und vor Allem die Naturerkenntniß, auf deren ungeahnte Entwickelung unser 19. Jahrhundert in der That stolz sein kann. Alle diese "irdischen Güter" der verfeinerten Kultur, welche nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Werth besitzen, sind nach der christlichen Lehre werthlos, ja großentheils verwerflich, und die strenge christliche Moral muß das Streben nach diesen Gütern ebenso mißbilligen, wie unsere humanistische Ethik dasselbe billigt und empfiehlt. Das Christenthum zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu führen gezwungen sind, ist auch in diesem sinne "Kulturkampf".
V. Die Familien-Verachtung des Christenthums. Zu den bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familien-Leben besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie für alle höheren socialen Thiere. Die "Familie" gilt uns ja mit Recht als die "Grundlage der Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle anderen Güter des "Diesseits". von den seltenen Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältniß zu seiner Mutter Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es uns Tausende von schönen Bildern in poetischer Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet. Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste Grundlage der Familien-Bildung ist, erschien Jesus eher wie ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser erklärte, nicht zu heirathen, als zu heirathen. "Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre" (1. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rath befolgte, würde sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie würde durch diese Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts aussterben.
VI. Die Frauen-Verachtung des Christenthums. Da Christus selbst die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entsprint. Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die geistige gegenseitige Ergänzung, die sich Beide in gleicher Weise in den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber gleichwertige Organismen, jeder mit seinen eigenthümlichen Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Werth der sexuellen Liebe erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die herrlichsten Blüthen der Poesie und der Kunst entsprossen sind. Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen Altherthum; er theilte die allgemein herrschende Anschauung des Orients, daß das Weib dem Manne untergeordnet und der Verkehr mit ihm "unrein" sei. Die beleidigte Natur hat sich für diese Mißachtung furchtbar gerächt, und die traurigsten Folgen derselben sind namentlich in der Kulturgeschichte des papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet. (Vergl. Albrecht Rau, Die Ethik Jesu. Gießen 1900.)
Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll, hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdige und gemeinschädliche Zustände aufzuheben. Das "obligatorische Cölibat" der katholischen Geistlichen ist ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der Ablaßkram; alle drei Einrichtungen haben mit dem ursprünglichen Christenthum Nichts zu thun; alle drei schlagen der reinen Christen-Moral in's Gesicht; alle drei sind nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf berechnet, die absolute Herrschaft aufrecht zu erhalten und sie nach Kräften materiell auszubeuten.
Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen ihr im zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen - wenigstens in den wahren "Kulturstaaten". Man hat neuerdings berechnet, daß die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzer-Verfolgungen, die Inquisition, die christlichen Glaubenskriege u. s. w. um's Leben kamen über zehn Millionen beträgt. Aber was bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? - gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie getödtet, deren naives Gewissen gequält, deren Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus Goethe's herrlichem Gedichte "Die Braut von Korinth":
"Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört!"
Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigsten Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des selbstständigen Denkens verfolgen, das klare Verständniß der erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen. Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugesteht, muß er ihm auch die Mittelgewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige Anwendung zu machen.
Rückblick auf die Fortschritte der wissenschaftlichen Welterkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Beantwortung der Welträthsel durch die monistische Naturphilosophie.
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Inhalt: Rückblick auf die Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Lösung der Welträthsel. I. Fortschritte der Astronomie und Kosmologie. Physikalische und chemische Einheit des Universum. Metamorphose des Kosmos. Entwickelung der Planeten-Systeme. Analogie der phylogenetischen Processe auf der Erde und anderen Planeten. Organische Bewohner anderer Weltkörper. Periodischer Wechsel der Weltenbildung. II. Fortschritte der Geologie und Paläontologie. Neptunismus und Vulkanismus. Kontinuitäts-Lehre. III. Fortschritte der Physik und Chemie. IV. Fortschritte der Biologie. Zellen-Lehre und Descendenz-Theorie. V. Anthropologie. Ursprung des Menschen. Allgemeine Schlußbetrachtung.
Am Ende unserer philosophischen Studien über die Welträthsel angelangt, dürfen wir getrost zur Beantwortung der schwerwiegenden Frage schreiten: Wie weit ist uns deren Lösung gelungen? Welchen Werth besitzen die ungeheuren Fortschritte, welche das verflossene 19. Jahrhundert in der wahren Natur-Erkenntniß gemacht hat? Und welche Aussicht eröffnen sie uns für die Zukunft, für die weitere Entwickelung unserer Weltanschauung im 20. Jahrhundert, an dessen Schwelle wir stehen? Jeder unbefangene Denker, der die thatsächlichen Fortschritte unserer empirischen Kenntnisse und die einheitliche Klärung unseres philosophischen Verständnisses derselben einigermaßen übersehen kann, wird unsere Ansicht theilen: das 19. Jahrhundert hat größere Fortschritte in der Kenntniß der Natur und im Verständniß ihres Wesens herbeigeführt als alle früheren Jahrhunderte; es hat viele große "Welträthsel" gelöst, die an seinem Beginne für unlösbar galten; es hat uns neue Gebiete des Wissens und Erkennens entdeckt, von deren Existenz der Mensch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor Allem aber hat es uns das erhabene Ziel der monistischen Kosmologie klar vor Augen gestellt und den Weg gezeigt, auf welchem allein wir uns demselben nähern können, den Weg der exakten empirischen Erforschung der Thatsachen und der kritischen genetischen Erkenntniß iherer Ursachen. Das abstrakte große Gesetz der mechanischen Kausalität, für welches unser kosmologisches Grundgesetz, das Substanz-Gesetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck ist, beherrscht jetzt das Universum ebenso wie den Menschengeist; es ist der sichere unverrückbare Leitstern geworden, dessen klares Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erscheinungen den Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir einen flüchtigen Rückblick auf die erstaunlichen Fortschritte werfen, welche die Hauptzweige der Naturwissenschaft in diesem denkwürdigen Zeitraum gemacht haben.
I.
Ein weiterer gewaltiger und das ganze Universum umfassender Fortschritt war die Einführung der Entwickelungs-Idee in die Himmelskunde; er geschah 1755 durch den jugendlichen Kant, der in seiner kühnen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels nicht die "Verfassung", sondern auch den "mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton's Grundsätzen" abzuhandeln unternahm. Durch das großartige "Système du monde" von Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselben Vorstellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde dann 1766 diese neue "Mécanique céleste" so fest begründet, daß es scheinen konnte, unserem 19. Jahrhundert sei auf diesem größten Erkenntniß-Gebiete nichts wesenlich Neues von gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch bleibt ihm der Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und unseren Blick in's Universum unendlich erweitert zu haben. Durch die Erfindung der Photographie und Photometrie, vor Allen aber der Spektral-Analyse (durch Bunsen und Kirchhoff, 1860) wurden die Physik und Chemie in die Astronomie eingeführt und dadurch kosmologische Aufschlüsse von größter Tragweite gewonnen. Es ergab sich nun mit Sicherheit, daß die Materie im ganzen Weltall dieselbe ist, und daß deren physikalische und chemische Eigenschaften auf den fernsten Fixsternen nicht verschieden sind von denjenigen unserer Erde.
Die monistische Ueberzeugung von der physikalischen und chemischen Einheit des unendlichen Kosmos, die wir dadurch gewonnen haben, gehört sicherlich zu den werthvollsten allgemeinen Erkenntnissen, welche wir der Astrophysik verdanken, einem neuen, höchst interessanten Zweiger der Astronomie. Nicht minder wichtig ist die klare, mit Hülfe jener gewonnene Erkenntniß, daß auch dieselben Gesetze der mechanischen Entwickelung im unendlichen Universum ebenso überall herrschen wie auf unserer Erde; eine gewaltige, allumfassende Metamorphose des Kosmos vollzieht sich ebenso ununterbrochen in allen Theilen des unendlichen Universums wie in der geologischen Geschichte unserer Erde; ebenso in der Stammesgeschichte ihrer Bewohner wie in der Völkergeschichte und im Leben jedes einzelnen Menschen. In einem Theile des Kosmos erblicken wir mit unserem vervollkommneten Fernröhren gewaltige Nebelflecke, die aus glühenden, äußerst dünnen Gasmassen bestehen; wir deuten dieselben als Keime von Weltkörpern, die Milliarden von Meilen entfernt und im ersten Stadium der Entwickelung begriffen sind. Bei einem Theile dieser "Sternkeime" sind wahrscheinlich die chemischen Elemente noch nicht getrennt, sondern bei ungeheuer hoher Temperatur (nach vielen Millionen Graden berechnet!) im Urelement (Prothyl) vereinigt; ja vielleicht ist hier zum Theil die ursprüngliche "Substanz" noch nicht in "Masse und Aether" gesondert. In anderen Theilen des Universums begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung gluthflüssig geworden sind; wir können ihre Entwickelungsstufe annähernd aus ihrer verschiedenen Farbe bestimmen. Dann wieder sehen wir Sterne, die von Ringen und Monden umgeben sind wie unser Saturn; wir erkennen in dem leuchtenden Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der sich vom Mutter-Planeten ebenso abgelöst hat wie dieser letztere von der Sonne. (Vergl. Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der Natur, 1894.)
Von vielen "Fixsteren", deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annahmen, daß sie Sonnen sind, ähnlich denjenigen unseres eigenen Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuthen, daß sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen Entwickelungsstufe wie unsere Erde befinden, d. h. in einem Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche zwischen dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenstoff auch hier, wie auf der Erde mit anderen Elementen sehr verwickelte Verbindungen eingeht, und daß aus seinen stickstoffhaltigen Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare "lebendige Substanz", die wir als alleinigen Eigenthümer des organischen Lebens kennen. Die Moneren (z. B. Chromaceen und Bakterien), die nur aus solchem primitiven Protoplasma bestehen, und die durch Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen Nitrokarbonaten entstanden, können denselben Entwickelungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen Planeten eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber - ebensowohl der plasmodomen Pflanzenzellen wie der plasmophagen Thierzellen - berechtigt uns zu dem Schlusse, daß auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen ähnlich wie auf unserer Erde abspielt - immer natürlich die gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das Wasser tropfbar-flüssig bleibt; für glühend-flüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht, ist organisches Leben in gleicher Weise ganz unmöglich.
Während nun viele Sterne sich wahrscheinlich in einem ähnlichen biogenetischen Entwickelungs-Stadium befinden wie unsere Erde (seit mindestens hundert Millionen Jahren!), sind andere schon weiter vorgeschritten und gehen im "planetarischen Greisenalter" ihrem Ende entgegen, demselben Ende, das auch unseser Erde sicher bevorsteht. Durch Ausstrahlung der Wärme in den kalten Weltraum wird die Temperatur allmählich so herabgesetzt, daß alles tropfbar flüssige Wasser zu Eis erstarrt; damit hört die Möglichkeit organischen Lebens auf. Zugleich zieht sich die Masse der rotirenden Weltkörper immer stärker zusammen; ihre Umlaufsgeschwindigkeit ändert sich langsam. Die Bahnen der kreisenden Planeten werden immer enger, ebenso diejenigen der sie umgebenden Monde. Zuletzt stürzen die Monde in die Planeten und diese in die Sonnen, aus denen sie geboren sind. Durch diesen Zusammenstoß werden wieder ungeheure Wärme-Mengen erzeugt. Die zerstäubte Masse der zerstoßenen kollidirten Weltkörper vertheilt sich frei im unendlichen Weltraum, und das ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt von Neuem.
Das großartige Bild, welches so vor unseren geistigen Augen die moderne Astrophysik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Entstehen und Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodischen Wechsel der verschiedenen kosmogenetischen Zustände, welche wir im Universum neben einander beobachten. Während an einem Orte des unendlichen Weltraums aus einem diffusen Nebelfleck ein neuer Weltkeim sich entwickelt, hat ein anderer an einem weit entfernten Orte sich bereits zu einem rotirenden Balle von gluthflüssiger Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an seinem Äquator Ringe abgeschleudert, die sich zu Planeten ballen; ein vierter ist schon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten sich mit sekundären Trabanten umgeben haben, den Monden u. s. w. u. s. w. Und dazwischen treiben sich im Weltraum Milliarden von kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und Sternschnuppen, die als scheinbar gesetzlose Vagabunden die Bahn der größeren kreuzen, und von denen täglich ein großer Theil in die letzteren hineinstürzt. Dabei ändern sich beständig langsam die Umlaufs-Zeiten und die Bahnen der jagenden Weltkörper. Die erkalteten Monde stürzen in ihre Planeten, wie diese in ihre Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht schon erstarrt, stoßen mit ungeheurer Kraft auf einander und zerstäuben in nebelartige Massen. Dabei entwickeln sie so kolossale Wärmemengen, daß der Nebelfleck wieder glühend wird, und nun wiederholt sich das alte Spiel von Neuem. In diesem Perpetuum mobile bleibt aber die unendliche Substanz des Universum, die Summe ihrer Materie und Energie ewig unverändert, und ewig wiederholt sich in der unendlichen Zeit der periodische Wechsel der Weltbildung, die in sich selbst zurücklaufende Metamorphose des Kosmos. Allgewaltig herrscht das Substanz-Gesetz.
II.
Der heftige Kampf, welcher zwichen jener neptunistischen und dieser plutonistischen Schule entstand, dauerte noch während der ersten drei Decennien des 19. Jahrhunderts fort; er wurde erst geschlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das Princip des Aktualismus begründet und Charles Lyell dasselbe mit größtem Erfolge für die ganze natürliche Entwickelung der Erde durchgeführt hatte. Durch seine "Principien der Geologie" (1830) wurde die überaus wichtige Lehre von der Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur Anerkennung gebracht, gegenüber der Katastrophentheorie von Cuvier. Die Paläontologie, welche der Letztere durch sein Werk über die fossilen Knochen (1812) begründet hatte, wurde nun bald zur wichtigsten Hülfswissenschaft der Geologie, und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich dieselbe so weit entwickelt, daß die Haupt-Perioden in der Geschichte der Erde und ihrer Bewohner festgelegt waren. Die dünne Rindenschicht der Erde war nun mit Sicherheit als die Erstarrungs-Kruste des feurigflüssigen Planeten erkannt, dessen langsame Abkühlung und Zusammenziehung sich ununterbrochen fortsetzt. Die Faltung der erstarrenden Rinde, die "Reaktion des feurig-flüssigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche", und vor Allem die ununterbrochene geologische Thätigkeit des Wassers sind die natürlich wirkenden Ursachen, welche tagtäglich an der langsamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge arbeiten.
Drei überaus wichtige Ereignisse von allgemeiner Bedeutung verdanken wir den glänzenden Fortschritten der Erdgeschichte. Erstens wurden damit aus der Erdgeschichte alle Wunder ausgeschlosen, alle übernatürlichen Ursachen beim Aufbau der Gebirge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde unser Begriff von der Länge der unheuren Zeiträume, die seit deren Bildung verflossen sind, erstaunlich erweitert. Wir wissen jetzt, daß die ungeheuren Gebirgsmassen der paläozoischen, mesozoischen und cänozoischen Formationen nicht viele Jahrtausende, sondern viele Jahrmillionen (weit über hundert!) zu ihrem Aufbau brauchten. Drittens wissen wir jetzt, daß alle die zahlreichen, in diesen Formationen eingeschlossenen Versteinerungen nicht wunderbare "Naturspiele" sind, wie man noch vor 150 Jahren glaubte, sondern die versteinerten Ueberreste von Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte wirklich lebten, und welche durch langsame Umwandlung aus vorhergegangenen Ahnenreihen entstanden sind.
III.
IV.
V.
______
Die Zahl der Welträthsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universal-Räthsel zurückgeführt, auf das Substanz-Problem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses "Substanz-Räthsel" gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntniß der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnißlos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton for 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müssen sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und räthselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen. Was als "Ding an sich" hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische "Ding an sich" überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existirt oder nicht? Ueberlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses ideale Gespenst den "reinen Metaphysikern" und erfreuen wir uns statt dessen als "echte Physiker" an den gewaltigen realen Fortschritten, welche unsere monistische Natur-Philosophie thatsächlich errungen hat.
Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen "großen Jahrhunderts" das gewaltige, allumfassende Substanz-Gesetz, das "Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes". Die Thatsache daß die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwickelungs-Gesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Ueberzeugung von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanz-Problem entwickelte sich das klare Substanz-Gesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der "ewigen, ehernen, großen Gesetze" im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Central-Dogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.
Viele von uns sehen gewiß mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unsern theuern Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter galten. Wir trösten uns aber mit dem Worte des Dichters:
"Das Alte stürzte, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen!"
Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns den wundervollen Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen Kultus des "Wahren, Guten und Schönen", welcher der Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit".
In der vorliegenden Behandlung der Welträthsel habe ich meinen konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den Gegensatz zu der dualistischen, heute noch herrschenden Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche überhaupt Neigung und Muth zum Bekenntniß einer abgerundeten philosophischen Ueberzeugung besitzen. Ich möchte aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich darauf hinzuweisen, daß dieser schroffe Gegensatz bei konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Principien auf das Gesamtgebiet des Kosmos - der organischen und anorganischen Natur -, nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Natur-Erscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des großen Immanuel Kant.
Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker klein gewesen, welche diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen Monismus zuwendeten. Das gilt ebensowohl für die konsequenten Idealisten und Theisten, wie für die folgerichtig denkenden Realisten und Pantheisten. Die Verschmelzung der anscheinenden Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des fundamentalen Welträthsels, wird uns aber durch das stetig zunehmende Wachsthum der Natur-Erkenntniß mit jedem Jahre näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, daß das anbrechende zwanzigste Jahrhundert immer mehr jene Gegensätze ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und Denker, dessen 150. Geburtstag wir 1899 begingen, Wolfgang Goethe, hat dieser Einheits-Philosophie schon im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts den vollendeten poetischen Ausdruck gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott und Welt!
"Nach ewigen, ehernen
Großen Gesetzen
Müssen wir Alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden."
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Biologie
Organismen-Kunde (Anthropologie, Zoologie und Botanik)
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Morphologie Formenlehre
| Biogenie Entwickelungsgeschichte
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Anatomie Organlehre
| Histologie Gewebelehre
| Ontogenie Keimesgeschichte
| Phylogenie Stammesgeschichte
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Physiologie Funktionslehre
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Allerdings lassen die geologischen und paläontologischen Thatsachen, auf welche sich diese Berechnungen gründen, nur sehr unsichere und schwankende Zahlen-Angaben zu. Während wohl die meisten sachkundigen Autoritäten gegenwärtig für die Länge der organischen Erdgeschichtee 100-200 Millionen Jahre annehmen, beläuft sich dieselbe nach anderen Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit auf mindestens vierzehnhundert Jahrmillionen. Vergl. meinen Cambridge-Vortrag über den Ursprung des Menschen, 1898, S. 51: "Wenn wir aber auch ganz außer Stande sind, die absolute Länge der phylogenetischen Zeiträume annähernd sicher zu bestimmen, so besitzen wir dagegen andererseits sehr wohl die Mittel, die relative Länge derselben ungefähr abzuschätzen. Nehmen wir hundert Millionen Jahre als Minimal-Zahlen, so würden sich dieselben auf die fünf Hauptperioden der organischen Geschichte etwa folgendermaßen vertheilen:
Um die ungeheuere Länge dieser phylogenetischen Zeiträume dem menschlichen Auffassungs-Vermögen näher zu bringen und namentlich die relative Kürze der sogenannten "Weltgeschichte" (d. h. der Geschichte der Kulturvölker!) zum Bewußtsein zu bringen, hat kürzlich einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), die angenommene Minimal-Zahl von hundert Jahr-Millionen durch chronometrische Reduktion auf einen Tag projicirt. Durch diese "verjüngende Projektion" vertheilen sich die 24 Stunden des "Schöpfungs-Tages" folgendermaßen auf die fünf phylogenetishen Perioden;
Wenn man also nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organischen Entwickelung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden projicirt, so beträgt davon die sogenannte "Weltgeschichte" nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, {Nr. 492, S. 381}).
Der Neovitalismus wird in seiner ganzen Dürftigkeit und Haltlosigkeit klar, wenn man ihn den Thatsachen der Geschichte in der ganzen organischen Welt gegenüberstellt. Diese historischen Thatsachen der "Entwickelungsgeschichte" im weitesten Sinne, die Fundamente der Geologie, der Paläontologie, der Ontogenie u. s. w. sind in ihrem natürlichen Zusammenhang nur durch unseres monistische Entwickelungslehre erklärbar, und diese verträgt sich weder mit dem alten noch mit dem neuen Vitalismus. Daß gerade jetzt der letztere an Ausdehnung gewinnt, erklärt sich zum Theil auch aus der bedauerlichen Thatsache der allgemeinen Reaktion im geistigen und politischen Leben, welche das letzte Decennium des neunzehnten Jahrhunderts vor demjenigen des achtzehnten in höchst unvorteilhafter Weise auszeichnet. In Deutschland insbesondere hat der sogenannte "neue Kurs" höchst depravirende byzantinische Zustände nicht nur im politischen und kirchlichen Leben, sondern auch in Kunst und Wissenschaft hervorgerufen. Indessen bedeutet diese moderne Reaktion im Großen und Ganzen doch nur eine vorübergehende Episode.
Diese historischen Verhältnisse, die ich schon vor 30 Jahren (im fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeschichte) hervorgehoben hatte, sind so interessant und wichtig, daß ich sie hier nochmals betonen wollte. Es erscheint dies nicht nur deshalb angemessen, weil die moderne Philosophie mit besonderem Nachdruck den "Rückgang auf Kant" verlangt, sondern auch weil daraus hervorgeht, daß selbst die größten Metaphysiker blind in schwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigsten Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der "kritischen Philosophie", erklärt mit größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für "ungereimt", welche schon 70 Jahre später von Darwin thatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem Menschengeiste für alle Zeit eine bedeutungsvolle Einsicht ab, welche derselbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren thatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das kategorische "Ignorabimus" ist!
Angesichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren Deutschen Philosophie gezollt wird, und welche bei vielen "Neu-Kantianern" in eine unbedingte, abgöttische Anbetung übergeht, wird es uns gestattet sein, hier die menschlichen Unvollkommenheiten des großen Königsbergers Philosophen zu beleuchten und verhängnißvollen Schwächen seiner "kritischen" Weltweisheit. Seine dualistische, mit den Jahren immer zunehmende Richtung zur transcendentalen Metaphysik war bei Kant schon durch die mangelhafte und einseitige Vorbildung auf der Schule und der Universität bedingt. Seine dort erlangte akademische Bildung war überwiegend philologisch, theologisch und mathematisch; von den Naturwissenschaften lernte er nur Astronomie und Physik gründlich kennen, zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, selbst in dem bescheidenen Umfange der damaligen Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organischen Naturwissenschaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physiologie studiert; daher blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange Zeit beschäftigte, höchst unvollkommen. Hätte Kant statt Philologie und Theologie mehrere Jahre Medizin studiert, hätte er sich in den Vorlesungen Anatomie und Physiologie eine gründliche Kenntniß des menschlichen Organismus, in dem Besuche der Kliniken eine lebendige Abbildung von dessen pathologischen Veränderungen angeeignet, so würde nicht nur die Anthropologie, sondern die gesammte Weltanschauung des "kritischen" Philosophen eine ganz andere Form gewonnen haben. Kant würde sich dann nicht so leichten Herzens über die wichtigsten, schon damals bekannten biologischen Thatsachen hinweggesetzt haben, wie es in seinen späteren Schriften (seit 1769) geschah.
Nach Vollendung seiner Universtäts-Studien mußte Kant sich neun Jahre hindurch sein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebensjahre, also gerade in jener wichtigsten Periode des Jünglings-Lebens, in welcher nach aufgenommener akademischer Bildung die selbstständige Entwickelung des persönlichen und wissenschaftlichen Charakters für das ganze folgende Leben sich entscheidet. Hätte Kant, der den größten Theil seines Lebens in Königsberg fest saß und niemals die Grenzen der Provinz Preußen überschritt, damals größere Reisen ausgeführt, hätte er seinem lebhaften geographischen und anthropologischen Interesse durch reale Anschauungen lebendige Nahrung zugeführt, so würde diese Erweiterung seines Gesichtskreises auf die Gestaltung seiner idealen Weltanschauung sicher in höchst wohlthätiger Weise eingewirkt haben. Auch der Umstand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei anderen philosophierenden Junggesellen als Entschuldigung für mangelhafte und einseitige Bildung angesehen werden. Denn der weibliche und der männliche Mensch sind zwei wesentlich verschiedene Organismen, die erst in ihrer gegenseitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-Begriffs "Mensch" ausgestalten.
"Die ursprüngliche Form dieser Dichtungen hat in den ersten Jahrhunderten mannigfache Veränderungen erlitten und ist gegenwärtig nicht mehr festzustellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Testaments hat sich nur sehr langsam gebildet, und über ihre Anerkennung ist zum Theil erst nach Jahrhunderten ein Einverständniß erzielt worde. Alles, was an Glaubenssatzungen aus den Schriften jener kritiklosen Zeit hergeleitet wird wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälschung.
"Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter (Messias) gehofft. So begrüßt Jesaias 45 1, nach Ablauf der babylonischen Gefangenschaft (597-538), den Perserkönig Cyrus (einen Nichtjuden), der dem Volke die Freiheit schenkte, als Messias. Ein Hoherpriester Josua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage schuf einen älteren Josua, der als "Moses" Nachfolger sein Volk nach Kanaan gebracht hätte. Nach der Zerstörung Jerusalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte Jude Josephus, der Menschheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der nicht von Menschenhänden gebaut sei, und sah in Kaiser Vespasian einen Messias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem "Weltheiland", und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von "Messiassen" auf. Zu jenen beiden Josuas schuf das poetisch thätige Volksgemüth einen dritten Josua (griechisch Jesus).
"Das Leben eines solchen, besonders eines schwärmerisch angelegten Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu schwer zu beschreiben: Erlebnisse, Thaten, Reden lieferten (von den damals im Morgenlange seit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Krischna- und Buddha-Sagen ganz abgesehen) Vorbilder des Alten Testaments; ein Moses, ein Elias, ein Elisa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte, Worte der Psalmen und Propheten. Vielfach nahmen dabei die Verfasser bildlich Gemeintes buchstäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt so ziemlich Alles, auch das Wunderlichste, buchstäblich genommen haben will.
"Das Bild des Messias gestaltete sich ganz allmählich aus. In den nachweislich vor den "Evangelien"-Dichtungen entstandenen "Paulus"-Briefen findet sich von ihm nichts als Tod und Auferstehung. Aus wörtlich aufgefaßten Prophetenstellen dichtete man dann Lehre und Heilthätigkeit hinzu. Zuletzt erst fragte man sich: wo, wie, von wem ist er geboren? wie lange hat er gelebt? u. A. Sobald einmal das Beispiel einer solchen Dichtung (wie die später "Nach Markus", dann "Evangelium nach Markus" genannte) gegeben war, ergoß sich eine Flut ähnlicher Dichtungen, zum Theil geschmackloser Zerrbilder, zum Theil in den Grenzen einer Art Möglichkeit gehaltener Lebensbilder. Jede Gegend, ja jede bedeutendere Gemeinde hatte ihr Evangelium, und oft nannte sich dieses nach einem bekannt gewordenen Namen; unter solchen fremden Namen zu schreiben, galt für durchaus erlaubt.
"Diese "Evangelien"-Dichtungen versetzen ihren Helden in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Aber weder jüdische Schriftsteller (wie Philo und Josephus) noch römische und griechische (wie Tacitus, Sueton, Plinius, Dio Cassius) dieser und der nächstfolgenden Zeit kennen einen solchen "Jesus von Nazaret" oder die aus seinem Leben erzählten Vorfälle; ja nicht einmal eine Stadt Nazareth ist bekannt."
"Buddha ist ein fleischgewordener Gott, als Mensch königlicher Abkunft. Er wird auf übernatürliche Weise gezeugt und geboren, seine Geburt auf wunderbare Weise vorher verkündet. Götter und Könige huldigen dem Neugeborenen und bringen Geschenke dar. Ein alter Brahmane erkennt in ihm sofort den Erlöser von allen Uebeln. Friede und Freude zieht auf Erden ein. Der junge Buddha wird verfolgt und wunderbar gerettet, feierlich im Tempel dargestellt, als zwölfjähriger Knabe von den Eltern mit Sorgen gesucht und mitten unter Priestern wiedergefunden. Er ist frühreif, übertrifft seine Lehrer und nimmt zu an Alter und Weisheit. Er fastet und wird versucht. Er nimmt ein Weihebad im heiligen Flusse. Einzelne Schüler eines weisen Brahmanen gehen zu ihm über. Berufungswort ist "Folge mir". Einen Schüler weiht er nach indischem Brauch unter einem Feigenbaum. Unter den Zwölfen sind drei Musterschüler und einer ein ungerathener. Die früheren Namen der Schüler werden geändert. Daneben findet sich ein weiterer Kreis von achtzig Schülern. Buddha sendet seine Schüler, mit Unterweisungen versehen, zwei und zwei aus. Ein Mädchen aus dem Volke preist seine Mutter selig. Ein reicher Brahmane möchte ihm folgen, kann sich aber nicht von seinen Gütern trennen; ein anderer besucht ihn Nachts. Seiner Familie gilt er nichts; er findet aber bei Vornehmen und bei Frauen Anhang.
"Buddha tritt als Lehrer mit Seligpreisungen auf; besonders spricht er in Gleichnissen. Seine Lehren zeigen (oft sogar in der Wahl der Worte) überraschende Aehnlichkeit; er lehnt Wunder ab, verachtet irdische Güter, empfiehlt Demut, Friedfertigkeit, Feindesliebe, Selbsterniedrigung und Selbstüberwindung, ja Enthaltung von geschlechtlichem Verkehr. Er lehrt auch sein Vordasein. In seinen Todesahnungen betont er, daß er heim, in den Himmel gehe, und in den Abschiedsreden ermahnt er die Schüler, verheißt ihnen einen Fürsprech ("Tröster") und weist auf eine allgemeine Weltzerstörung hin. Heimatlos und arm zieht er umher, als Arzt, Heiland, Erlöser. Die Gegner werfen ihm vor, daß er die Gesellschaft der "Sünder" bevorzuge. Noch kurze Zeit vor seinem Tode ist er bei einer "Sünderin" zu Gast geladen. Ein Schüler bekehrt ein Mädchen aus verachteter Klasse an einem Brunnen. Zahlreiche Wunder bestätigen seine Gottheit (er wandelt auf dem Wasser u. a.). Feierlich zieht er in die Residenz ein und stirbt unter Wunderzeichen: die Erde bebt, die Enden der Welt stehen in Flammen, die Sonne erlischt, ein Meteor fällt vom Himmel. Auch Buddha fährt zur Hölle und zum Himmel".
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Die ersten Auflagen meiner Schrift über die "Welträthsel", die im Herbste des Jahres 1899 erschienen, fanden einen sehr raschen Absatz; innerhalb weniger Monate wurden zehntausend Exemplare verkauft. Es war mir daher zu meinem Bedauern nicht möglich, sofort die Verbesserungen einiger Fehler vorzunehmen, auf welche ich erst durch mehrere inzwischen erschienene Gegenschriften aufmerksam gemacht wurde. Erst bei dieser Gelegenheit einer späteren Auflage fand ich hinreichend Muße, jene Irrthümer zu berichtigen.
Schon während des ersten Jahres nach dem Erscheinen meines Buches wurden mehr als hundert verschiedene Besprechungen desselben in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, sowie ein Dutzend größere Broschüren. Eine übersichtliche Zusammenstellung und kritische Vergleichung gab im Herbst 1900 einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), in seiner Broschüre "Der Kampf um die Welträthsel" (Bonn, Emit Strauß. II. Aufl. 1900). Später ist die Zahl der Gegenschriften noch bedeutend gestiegen, nachdem Uebersetzungen des Buches in die englische, französiche, italienische und spanische Sprache erschienen waren und auch in diesen Nachbarländern starken Absatz gefunden hatten. Gegenwärtig mag die Anzahl der verschiedenen Besprechungen wohl mehrere Hundert betragen.
Dieser unerwartete Erfolg eines philosophischen Buches legte dem Verfasser gewissermaßen die Pflicht auf, wenigstens die wichtigsten von jenen Gegenschriften zu beantworten und die zum Theil sehr schweren Vorwürfe zu widerlegen. In der That fühlte ich mich auch zu einer solchen umfassenden Entgegnung, zu der ich direkt und indirekt vielfach aufgefordert wurde, meiner Neigung zuwider fast gezwungen. Die Ausführung derselben wurde aber durch meine zweite Reise nach Indien vereitelt, die ich im August 1900 nach Java und Sumatra antrat und über welche ich in meinen "Malayischen Reisebriefen" Bericht erstattet habe ("Insulinde", Bonn, Emil Strauß, 1901).
Wollte ich eine eingehende Antwort auf alle verschiedenen, gegen die "Welträthsel" gerichteten Angriffe geben, so würde ein neues Buch entstehen, weit umfangreicher als das erste. Eine derartige ausführliche Gegenschrift aber erscheint mir bei der gegenwärtigen Lage des großen Kampfes um die Weltanschauung weder nothwendig noch zweckmäßig; es genügt vielmehr, wenn ich in diesem kurzen "Nachwort" die wichtigsten Einwände beleuchte, starke Mißverständnisse aufkläre und meinen principiellen Standpunkt nochmals klar darlege. Die äußere Veranlassung dazu giebt mir gerade jetzt, nachdem mit der letzten (achten) Auflage 16 000 Exemplare des Buches in deutscher Sprache verbreitet sind, die Veröffentlichung der billigen Volksausgabe. Zu einer solchen war ich schon im Laufe des letzten Jahres von mehreren Seiten dringend aufgefordert worden; ich konnte mich aber zur Erfüllung dieses Wunsches - trotz mancher Bedenken - erst jetzt entschließen, bewogen durch den starken Erfolg der englischen Uebersetzung. Von dieser hatte die "Rationalist Press Association" in London zu Ende vorigen Jahres eine billige Volksausgabe veranstaltet und innerhalb dreier Monate 30 0000 Exemplare abgesetzt. Durch die deutsche Volksausgabe wird es nunmehr auch unbemittelten Gebildeten (namentlich Lehrern und Studirenden) möglich sein, sich mit dem Inhalt des Buches bekannt zu machen; ich habe darin thatsächliche Irrthümer verbessert, viele Sätze gekürzt und überflüssiges Beiwerk (Motti, Litteratur-Angaben), sowie sämmtliche Anmerkungen fortgelassen.
Der überraschende Erfolg der "Welträthsel" erklärt sich wohl großentheils durch das stetig wachsende Bedürfniß weiter Bildungskreise nach einer klaren, einheitlichen Weltanschauung. Die Gewinnung einer solchen wird von Tag zu Tag schwieriger durch das erstaunliche Wachstum der empirischen Specialforschung und die damit verknüpfte vielfache Arbeitstheilung in allen einzelnen Wissensgebieten. Je mehr sich hier der denkende Beobachter in der unübersehbaren Masse von besonderen Einzelheiten zu verlieren droht, desto lebhafter wird auf der anderen Seite sein Bedürfniß nach der Gewinnung einheitlicher Gesichtspunkte und einer allgemeinen Uebersicht über das ganze Erkenntnißgebiet. Eine solche Philosophie kann aber nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruhen, auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der Erfahrungswissenchaften. Zu einer solchen echten "Naturphilosophie" ist jeder denkende und wissenschaftliche gebildete Mensch berechtigt; sie ist nicht das privilegirte Eigenthum einer bevorzugten Gelehrten-Kaste.
Die allgemeinen Betrachtungen, welche in diesem "Nachwort zu den Welträthseln" voranschicken möchte sind ganz dieselben, welche David Strauß vor dreißig Jahren in seiner meisterhaften Broschüre gegeben hat: "Ein Nachwort als Vorwort zu den neuen Auflagen meiner Schrift: Der alte und der neue Glaube" (Bonn, Emil Strauß, 1873). Alles, was hier in vollkommenster Form der größte Theologe des 19. Jahrhunderts über die Entstehung und Absicht seines berühmten Buches sagt, über die Motive und Methoden seiner zahlreichen Gegner, zur Begründung und Vertheidigung seines "Bekenntnisses" - alles das gilt wörtlich auch für mich und meine "Welträthsel". Denn auch dieses Buch ist nur das offene und ehrliche Bekenntniß eines Mannes, der ein halbes Jahrhundert hindurch nach Erkenntniß der Wahrheit geforscht hat, und der nun die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen Forschungen nach bestem Wissen und Gewissen seinen Mitmenschen nutzbar machen möchte. Indem ich also bezüglich aller allgemeinen Beziehungen auf jenes klassische "Bekenntniß" von David Strauß und auf die Erklärungen seines bedeutungsvollen "Nachworts" hinweise, begnüge ich mich hier mit einer kurzen Entgegnung auf diejenigen Broschüren über die Welträthsel, welche am dringendsten dazu auffordern; es sind die beiden philosophischen Schriften von Paulsen und Adickes, die beiden theologischen von Loofs und Nippold.
Unter allen Gegenschriften, die seit drei Jahren gegen mein Buch veröffentlicht wurden, hat mich keine in so hohem Maße überrascht und befremdet, als diejenige von Friedrich Paulsen, Professor an der Universität Berlin. Sie erschien im Juli 1900 im ersten Hefte der 101. Bandes der Preußischen Jahrbücher, unter dem Titel: Ernst Haeckel als Philosoph; sie wurde dann später abgedruckt in einer Sammlung von Aufsätzen, betitelt "Philosophia militans"; gegen Naturalismus und Klerikalismus". Diese Schmähschrift verurtheilt nicht allein mein ganzes Buch in den schärfsten Ausdrücken, sie übergießt nicht nur alle angreifbaren Stellen desselben mit Spott und Hohn - sondern, was schlimmer ist: Paulsen verschweigt viele wichtige Sätze meiner Weltanschauung, in denen er mit mir übereinstimmt, und rupft dagegen aus dem Reste alle die Sätze heraus, die ihm zum Angriff geeignet erscheinen. Eine verblüffende Dreistigkeit ist es, wenn Paulsen fortwährend behauptet, daß ich die Philosophie überhaupt verwerfe, während ich mehr Gewicht auf sie lege, als die meisten andern Naturforscher; was ich bekämpfe ist die herrschende falsche Metaphysik! Es genügt zur Charakteristik von Paulsen's Pamphlet, wenn ich hier seine Schlußsätze wörtlich anführe: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Das ein solches Buch möglich war, das es geschrieben, gedruckt, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist schmerzlich! Indessen "Nosce te ipsum!"
Dieses maaßlose Verdammungsurtheil von Paulsen gehört zu den härtesten und heftigsten, die mir in den langen vierzig Jahren meiner litterarischen Kämpfe entgegen geschleudert worden sind. Der unbefangene Leser könnte vermuthen, daß ein scharfer persönlicher Gegensatz hinter demselben sich verberge; indessen ist das nicht der Fall. Weder kenne ich Professor Paulsen persönlich, noch habe ich jemals in einer litterarischen Beziehung zu ihm gestanden - ausgenommen daß ich auf Seite 2 der "Welträthsel" seine "Einleitung in die Philosophie" vor vielen ähnlichen Büchern dem Leser zum Studium empfohlen habe. Sein Buch ist vortrefflich geschrieben und giebt eine klare Uebersicht über die wichtigsten Probleme der Weltanschauung. Der persönliche Standpunkt des Verfassers ist der herrschende, durch die Autorität von Kant gedeckte Dualismus, obgleich gerade Paulsen am wenigsten berechtigt ist, sich zum Vertheidiger von Kant aufzuwerfen; daß gerade ihm der Verständniß für die Kantische Philosophie in hohem Maaße abgeht, wird von den tüchtigsten Kantforschern einstimmig behauptet (z. B. von Cohen, Vorländer, Goldschmidt u. A.). Andererseits bemüht Paulsen sich doch, in den meisten kosmologischen Fragen den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu werden, und stimmt darin mit den wichtigsten Hauptsätzen meines Monismus überein. Daher haben mehrere unparteiische Zuschauer dieses Kampfes darauf hingewiesen, daß der von Paulsen geschaffene schroffe Gegensatz zu meinen Principien ein ganz künstlicher ist, und daß seine scharfen Angriffe unbegreiflich sind. (Man vergleiche hierzu die angeführte Schrift von Heinrich Schmidt, S. 45-48.) Die einzig mögliche Erklärung derselben liegt in dem maaßlosen (auch von anderen Gegnern getheilten) Aerger über den litterarischen Erfolg meiner "Welträthsel" und darüber, daß überhaupt ein Naturforscher sich untersteht, Studien über "Philosophie" zu veröffentlichen. Denn dieses Recht steht nach ihrer Ansicht nur den privilegirten "Fachmännern" zu; sie halten eben für wahre "Philosophie" nur die transcendentale, auf "Erkenntnisse I>a priori" gegründete Metaphysik; hingegen bin ich mit den meisten anderen Naturphilosophen der Ueberzeugung, daß die ersten Grundlagen aller wahren Philosophie auf der Naturerkenntniß beruhen und durch denkende Erfahrung a posteriori entstanden sind. Auf eine Widerlegung der gehässigen und sophistischen Angriffe von Paulsen im Einzelnen einzugehen, würde zu Nichts führen; es ist ihm nicht um Erkenntniß der Wahrheit zu thun, sondern um Vernichtung eines verhaßten Gegners. Da Paulsen jedoch als unterhaltender Feuilleton-Schreiber mit Recht sehr beliebt ist und als redegewandter Lehrer der Metaphysik in Berlin großen Einfluß übt, möchte ich noch besonders darauf hinweisen, daß er als selbstständiger Philosoph keine Geltung hat und nicht einen einzigen neuen Gedanken oder Begriff in die "Weltweisheit" eingeführt hat; daher auch sein Ingrimm über die zahlreichen neuen Lehrsätze und Begriffe, zu deren Aufstellung ich im Laufe fünfzigjähriger Gedankenarbeit durch das beständige Bestreben geführt wurde, die moderne Entwickelungslehre zur festen Grundlage unserer gesammten Weltanschauung zu machen.
Ein weit ehrlicherer und anständigerer Gegner als der Berliner Sophist ist Erich Adickes, Professor der Philosophie in Kiel - obgleich auch er mich als Philosoph für eine Null erklärt. Seine Gegenschft (130 S. stark) ist betitelt "Kant contra Haeckel"; Erkenntnißtheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus" (Berlin 1901). Schon in diesem Titel ist richtig der unversöhnliche Gegensatz ausgesprochen, in welchem sich unser moderner Monismus zu dem durch Kant vertretenen Dualismus befindet. Seit dreißig Jahren predigt die herrschende Schul-Philosophie ihr "Zurück zu Kant" als einziges Rettungsmittel, während gleichzeitig die moderne Biologie auf den Schultern von Darwin ihre Antwort ruft: "Zurück zur Natur!" Dieser principielle Gegensatz zwischen der Kantischen Metaphysik und der Darwinschen Entwickelungslehre hat sich neuerdings immer schärfer entwickelt, je mehr die letztere ihr erklärendes Licht über das ganze weite Gebiet des organischen Lebens und des darin inbegriffenen menschlichen Seelenlebens ergoß.
Kant und Darwin! Unter diesem Titel veröffentlichte der treffliche Philosoph Fritz Schulze in Dresden einen interessanten "Beitrag zur Geschichte der Entwickelungslehre" (Jena 1875); er hatte darin aus den verschiedenen Schriften von Kant die interessantesten Aussprüche zusammengestellt, auf deren Grund man den großen Philosophen von Königsberg geradezu als einen der ersten und bedeutendsten Vorläufer von Darwin bezeichnen könnte. Allein ich habe schon in der ersten Auflage meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868, Vortrag V) darauf hingewiesen, daß diese großartigen Entwickelungsgedanken des monistischen Naturphilosophen Kant in schroffem Gegensatze zu den mystischen Lehren stehen, welche später der dualistische Metaphysiker Kant zur Grundlage seiner ganzen Erkenntniß-Theorie machte, und welche heute wieder in höchstem Ansehen stehen. Man muß eben bei jeder Betrachtung seiner Lehren zuerst fragen: "Welcher Kant ist gemeint? Kant Nr. I., den Begründer der monistischen Kosmogenie, der kritische Ergründer der "reinen Vernunft"? - oder Kant Nr. II., der Verfasser der dualistischen "Kritik der Urtheilskraft", der dogmatische Erfinder der "praktischen Vernunft"?" Kant I. behauptete "die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen Grundsätzen", und stellte den Satz auf, daß "der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung aller Erscheinungen einschließe". Kant II. dagegen vertrat "die nothwendige Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologische, in Erklärung eines Dinges als Naturzweck": es sei "ungereimt, zu hoffen, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur erklären können". Kant I., der kritische Naturphilosoph, wies überzeugend nach, daß die drei Central-Dogmen der Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für die "reine Vernunft" unzugänglich und unbeweisbar seien. Kant II. dagegen, der dogmatische Glaubensheld, behauptete, daß diese drei mystischen Phantasiegebilde unentbehrliche "Postulate der praktischen Vernunft" seien. Dieser durchgreifende Gegensatz zwischen zwei unversöhnlichen Principien, zwischen der theoretischen reinen Erkenntniß und den praktischen Glaubenssätzen, zieht sich durch die ganze lange Gedankenarbeit Kant's von Anfang bis zum Ende durch und ist nie zum Ausgleich gelangt. Alle neueren unbefangenen Geschichtsschreiber der Philosophie, insbesondere Ueberweg-Heinze, A. Lange, A. Rau, Vaihinger - ja selbst Paulsen! - haben diesen unheilvollen Zwiespalt übereinstimmend anerkannt; er muß von vornherein unser Mißtrauen gegen eine "Erkenntniß-Theorie" erregen, die sich auf einer so dualistischen Grundlage aufbaut. (Vergl. H. Schmidt, a. a. O. S. 46-48.)
Gerade diese vielberufene Erkenntniß-Theorie nun ist es, die von den eifrigen dualistischen Gegnern der "Welträthsel" meinem Monismus als sicherste Waffe entgegengehalten wird. Ihr gegenüber kann ich mich nur darauf berufen, daß die ganze neuere Naturwissenschaft seit dreihundert Jahren, seit Bacon und Newton, die unbefangene Erfahrung, die "voraussetzungslose" Erforschung der durch Sinnesthätigkeit erkannten Thatsachen, als Ausgangspunkt aller sicheren Erkenntniß festhält, also a posteriori verfährt. Kant hingegen schließt umgekehrt a priori, aus der inneren Selbstbetrachtung seiner Vernunft, auf die Existenz und Beschaffenheit der Außenwelt. Die "Anfangsgründe der Naturwissenschaft" sind für Kant "metaphysisch" und transcendental, für unsere monistiche Weltanschauung hingegen physikalisch und empirisch. Ebenso verhält es sich mit der Mathematik; ihre festen und unanfechtbaren Grundsätze bestehen nach Kant vor aller Erfahrung und unabhängig von ihr; nach unserer Ueberzeugung sind dieselben (- wie schon Stuart Mill u. A. gezeigt haben -) die letzten, abstrakten Ergebnisse von Vernunftschlüssen, die durch eine lange Kette von Erfahrungen im Laufe der Kultur-Entwickelung allmählich errungen wurden.
Ja, Entwickelung ist auch hier das Zauberwort, welches alle "Welträthsel" (- bis auf das eine letzte, das Substanz-Problem! -) zur Lösung führt. Wie sich der graue Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelen-Organs, im Laufe der Tertiär-Zeit aus der einfacheren Großhirn-Rinde unserer Primaten-Ahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen Seelenthätigkeit der Letzteren bis zu den Anfängen des Zählens und Messens bei der niederen Naturvölkern fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der Mathematik der Kulturvölkter.
Kant oder Darwin! So muß es auf diesem Gebiete der Erkenntniß-Theorie jetzt heißen. Entweder giebt es, wie Kant II. behauptet, zwei verschiedene Welten, eine empirische (durch Erfahrung und Verstand erkennbare) und eine intelligible (nur dem Glauben und dem Gemüth zugängliche) Welt; - oder diese beiden Welten sind eine und dieselbe, wie uns die von Darwin neu begründete Entwickelungs-Theorie lehrt. Gemäß dieser letzteren gilt der Mechanismus der Natur, der Alles nach festen Gesetzen bewirkt, auch für das gesammte, auf Gehirnthätigkeit beruhende Seelenleben des Menschen; es giebt keine "absolute Freiheit".
"Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen
Müssen wir Alle unseres Daseins Kreise vollenden."
Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man sich überzeugen wird, daß die sogenannte "kritische Philosophie" in Wahrheit rein dogmatisch ist. Ein Dogma, d. h. ein subjektiver, von aller Erfahrung unabhängiger Glaubenssatz, ist die "intelligible Welt" von Kant, jenes unbekannte "Jenseits", in dem die "ewigen Ideen" von Plato wohnen, die "unsterblichen Seelen" und der "persönliche Gott". Ein Dogma ist das räthselhafte "Ding an sich", das hinter allen Erscheinungen stecken soll, und von dessen Existenz auch Kant selbst nichts weiß. Ein Dogma ist der kategorische Imperativ, der ein unbedingtes und allgemein gültiges Sittengesetz für alle verschiedenen Menschen-Rassen aufstellen will. Ein Dogma ist die Behauptung, daß die Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisich sind und a priori entstanden seien. Und so ist dogmatisch jenes ganze große Lehrgebäude der praktischen Vernunft, welches den durch die reine Vernunft gefundenen Wahrheiten widerspricht, aber trotzdem als "kritische" Weltweisheit verstanden wird.
Die Autorität von Kant hat sich seit hundert Jahren in der deutschen Philosophie eine ähnliche Vorherrschaft errungen, wie sie im Mittelalter Aristoteles besaß. In unzähligen Schriften wird der Schild dieser dualistischen Autorität den Ansprüchen der monistischen Naturwissenschaft entgegengehalten. Aber die wichtigste und zugleich dankbarste Aufgabe dieser "Kant-Studien" hat noch Niemand gelöst, nämlich auf einem Druckbogen in knapper und klarer Form die fundamentalen Widersprüche der beiden Weltanschauungen von Kant gegenüber zustellen: links auf 8 Seiten die monistischen Erkenntnisse der empirischen Welt durch die reine Vernunft von Kant I.; rechts auf 8 Seiten die dualistischen Principien der intelligiblen Welt durch die praktische Vernunft von Kant II.
Auf diesen letzteren stützt sich ganz und gar Erick Adickes, nach dessen Ansicht "die Weltanschauung das Gebiet nicht des Wissens, sondern des Glaubens" ist, mithin die Wahrheit sich der Dichtung unterordnen muß. Er meint, daß ich nicht nur als Philosoph gleich Null, sondern auch ein Mensch ohne Gemüth sei, weil ich dem Gemüth das Recht bestreite, gegenüber der Vernunft die Wahrheit erkennen zu wollen. Weniger schroff und einseitig ist Julius Baumann in seiner Broschüre: "Haeckel's Welträthsel nach ihren starken und schwachen Seiten, mit einem Anhang über Haeckel's theologische Kritiker" (II. Aufl.). Ich würde mich mit diesem Professor der Philosophie in Göttingen bezüglich der meisten Punkte verständigen können, wenn es mir möglich wäre, ihn von der Berechtigung derjenigen monistischen Grundanschauungen zu überzeugen, zu welchen ich durch das Studium der allgemeinen und vergleichenden Biologie im Laufe eines Jahrhunderts mit Nothwendigkeit naturgemäß geführt worden bin.
Dasselbe gilt auch von demjenigen Theologen, der unter allen Gegnern der Welträthsel nicht nur den höflichsten und versöhnlichsten Ton anschlägt, sondern auch am eingehendsten und ehrlichsten seine abweichenden Ansichten zu begründen sucht. Es ist dies mein hochverehrter Kollege, der liberale Professor der Kirchengeschichte Friedrich Nippold. Derselbe wurde vor zwanzig Jahren Nachfolger des berühmten Theologen Carl Hase, eines geistreichen und vielseitig gebildeten Gelehrten, mit welchem ich länger als zwanzig Jahre hindurch zahlreiche freundschaftliche und eingehende Gespräche über die höchsten Fragen von "Gott und Welt", wie über die wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft zu führen das Glück hatte; ebenso wie mit einem anderen hochangesehenen Kollegen unserer Universität Jena, dem verstorbenen Richard Lipsius. Wenn ich hier dankbar der vielfachen Belehrung und Anregung gedenke, welche ich im Laufe von 42 Jahren von diesen drei hervorragenden Theologen empfangen habe, und wenn ich dabei mich auf die persönliche und wissenschaftliche Werthschätzung dieser ehrenhaften Männer der Wissenschaft berufe, so erblicke ich darin zugleich die kürzeste und beste Abwehr der schmählichen und verächtlichen Angriffe, welche zahlreiche Gegner der "Welträthsel" gegen meine Person und meine Lebensarbeit gerichtet haben, allen voran der Theologe Friedrichs Loofs in Halle und der Philosoph Friedrich Paulsen in Berlin.
Friedrich Nippold hielt schon am 10. Mai 1884, als er den Lehrstuhl von Carl Hase übernahm, eine Antrittsrede, die großes Aufsehen unser seinen theologischen Kollegen und lebhaften Beifall unter seinen Kollegen anderer Fakultäten erregte, unter dem Titel: "Die naturwissenschaftliche Methode in ihrer Anwendung auf die Religionsgeschichte." In dieser geistvollen Rede stellt der Vertreter der Kirchengeschichte an seine Fach-Kollegen die ungewohnte Anforderung, daß sie bei ihren historischen und litterarischen Forschungen dieselben Methoden anwenden sollen, wie die moderne Naturwissenschaft; dabei gedenkt der Redner der gewaltigen Erfolge von Alexander Humboldt und Hermann Helmholtz, von Faraday und Bunsen, von Tyndall und Charles Darwin. "Mit offenem Sinn und warmem Herzen tritt die wissenschaftliche Theologie, tritt vor Allem die Religionsgeschichte an die staunenswerthen Entdeckungen heran, welche die Gegenwart der führenden Wissenschaft dankt und welche der ganzen Zeit ihre Signatur geben." Und ebenso wie Carl Ernst Baer unter seine klassische Entwickelungsgeschichte der Thiere (1828) das bezeichnende Leitwort setzte: "Beobachtung und Reflexion", so verlangt auch Nippold 1884 für die Religionsgeschichte in erster Linie scharfe klare Beobachtung der Thatsachen, und erst nachher den unbefangenen und "voraussetzungslosen" Aufbau der Schlüsse, die sich aus jenen Thatsachen ergeben. Mit vollem Rechte stellt er dieser "exakten naturwissenschaftlichen Methode" die "herrschende konfessionalistisch-dogmatische" gegenüber, und bezeichnet die erstere als empirisch, die letztere als infallibilistisch; zugleich spricht er der letzteren "in allen ihren Formen gleich sehr den Charakter strenger Wissenschaftlichkeit ab" (S. 12).
Diese bedeutungsvolle Antrittsrede von Nippold ist freilich nicht nach dem Geschmacke der orthodoxen Theologen, welche leider auch heute noch in den größten deutschen Staaten die einflußreichste Macht bilden; sie gereicht aber um so mehr zur hohen Ehre unserer freien Thüringer Univesität Jena und unserem kleinen Großherzogthum Weimar, der unantastbaren Freistätte ehrlicher Wahrheitsforschung und furchtloser Lehre. Veröffentlicht wurde diese Rede erst später, in dem offenen "kollegialen Sendschreiben", welches Friedrich Nippold in Folge des Welträthsel-Streites an mich gerichtet hat (Berlin 1901). Der beschränkte Raum dieses Nachwortes gestattet es mir leider nicht, eine eingehende Antwort auf alle Einwürfe meines hochverehrten Kollegen zu geben; ich muß mich mit der Versicherung begnügen, daß ich ihm für die gewordene reiche Belehrung auf dem mir ferner liegenden theologischen Gebiete aufrichtig dankbar bin. Auch ist es mir in längeren, eingehenden Gesprächen gelungen, eine erfreuliche Verständigung über viele der wichtigsten Anschauungen herbeizuführen, soweit eine solche zwischen einem unbefangenen, philosophisch gebildeten Theologen und einem aufrichtigen, nach philosophischer Erkenntniß strebenden Naturforscher überhaupt möglich ist.
Ganz anders verhält es sich mit einem orthodoxen Theologen, mit Friedrich Loofs, Professor der Kirchengeschichte in Halle. Sein "Anti-Haeckel", 1900 in Halle erschienen, ist in der Hauptsache eine auserlesene Sammlung der verschiedensten Schimpfwörter und Beleidigungen; Heinrich Schmidt hat in seiner Broschüre auf zwei Seiten (19, 20) eine Musterkarte derselben gegeben. Die ehrenvollen Bezeichnungen: "Dummheit, Unwissenheit, Ignoranz, Unkenntniß, Unsinn" u. s. w. , verstärkt durch die angenehmen Beiwörter: "unglaublich, ungeheuerlich, unehrlich, unredlich, anstößig, widerwärtig, verächtlich, zu dumm" u. s. w. - werden in diesem schmutzigen Pamphlet so oft wiederholt, daß es selbst dem frömmsten Gläubigen zu viel werden muß. Indessen hat das Machwerk von Loofs (in mehreren Auflagen weit verbreitet) auch seine komischen Seiten, und ich möchte nicht den Ausdruck des Dankes für die heiteren Stunden unterlassen, welche der fromme Hallenser Fananiker dadurch mir und meinen Jenenser Freunden bereitet hat. Nachdem nämlich der Herr Kirchenrath "gezeigt hat, daß der Verfasser der Welträthsel ein normales wissenschaftliches Gewissen nicht hat, und daß man ihm auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit Sorgfalt und ernsten Wahrheitsinn zutrauen kann", schließt er seine Philippica mit folgenden Sätzen: "Das sind harte Worte. Meine ganzen Ausführungen sind ehrverletzend für Professor Haeckel und sollen es sein. Ich habe so geschrieben, daß jedes Gericht mich der Beleidigung des Jenenser Kollegen wird schuldig sprechen müssen, wenn ich nicht zugleich den Wahrheitsbeweis für meine Behauptungen erbracht habe. Nur durch ein richterliches Urtheil nach vorausgegangenem Sachverständigen-Gutachten würde ich mich für widerlegt halten."
Dieser Gedanke ist wirklich kostbar! Die Entscheidung über die Wahrheit in dem großen Kampfe der Weltanschauungen dem juristischen Ermessen eines deutschen Richter-Kollegiums - in letzter Instanz des Reichsgerichts! - zu überlassen! Unsere braven Juristen sind gewiß zum größten Theile rechtliche Leute; aber die Befähigung zur Entscheidung über philosophische Grundfragen, zu welcher vor Allem gründliche biologische Bildung gehört, werden die Meisten von ihnen wohl selbst ablehnen. Vielleicht erwartet aber Herr Kollege Loofs, daß ich ihm als Antwort auf seine ehrverletzenden Beschimpfungen einen Kartellträger schicke und ihn zu einem Duell auf "krumme Säbel oder Pistolen" fordere? Dann wird er umsonst warten! Nach meiner Ueberzeugung ist jedes Duell entweder als "Gottes-Urtheil" vernunftwidrig oder gehört als barbarische Unsitte zum "groben Unfug" - ganz abgesehen davon, daß diese rohe Form der Rache den milden Grundlehren der christlichen Religion direkt ins Gesicht schlägt!
Was überhaupt das Verhalten eines vernünftigen und ehrenhaften Mannes gegenüber öffentlichen Beleidigungen und Beschimpfungen betrifft, so halte ich im Allgemeinen die Praxis Friedrich's des Großen für richtig; er ließ die gegen ihn gerichteten Pamphlete niedriger hängen, damit die Leute sie besser lesen könnten. So habe ich seit 36 Jahren verfahren, seit zuerst meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte", später (1874) meine "Anthropogenie" eine Fluth von geharnischten Gegenschriften hervorriefen. Anfangs habe ich noch gelegentlich (- in den Vorreden späterer Auflagen -) wenigstens gegen die schlimmsten Angriffe protestirt und auf die Grundlosigkeit vieler Verleumdungen und Verdrehungen hingewiesen (- besonders von Seiten rechtgläubiger christlicher Fanatiker -). Später habe ich auch das unterlassen, weil es mir bei meinen litterarischen Kämpfen nicht um die Rechtfertigung meiner Person, sondern um die Vertheidigung meiner guten Sache, der "voraussetzungslosen" Erkenntniß der Wahrheit, zu thun ist. Das möchte ich besonders noch geltend machen gegenüber einem eifrigen (- mir persönlich unbekannten -) Gegner, der mich seit Jahren mit unermüdlicher Hartnäckigkeit verfolgt, Dr. phil. E. Dennert, Schuldirektor in Godesberg a. Rh. Nachdem dieser fromme Mann in zahlreichen Aufsätzen seiner Entrüstung über die Entwickelungslehre Ausdruck gegeben und eine komiche Abhandlung "Am Sterbelager des Darwinismus" geschrieben, hat er neuerdings mir die Ehre einer besonderen Schmähschrift erwiesen: "Die Wahrheit über Ernst Haeckel und seine Welträthsel, nach dem Urtheil seiner Fachgenossen" (Halle 1901). Die Wahrheit über den Inhalt und Charakter dieses Pamphlets ist folgende: Dennert hat mit anerkennenswerthem Fleiße die meisten von den zahlreichen Angriffen zusammengetragen, welche im Laufe von 36 Jahren, während langer und heftiger litterarischer Kämpfe, gegen mich und meine Schriften gerichtet worden sind. Diese Angriffe sind von der allerverschiedensten Art: etwa ein Drittel bezieht sich auf entgegengesetzte Ansichten über specielle naturwissenschaftliche Streitfragen, die noch heute unentschieden sind; ein zweites Drittel betrifft unmittelbar den großen Kampf der Weltanschauungen, der vor vierzig Jahren durch Charles Darwin entfesselt wurde und der noch lange fortdauern wird - es ist natürlich, daß hier die unversöhnlichen Gegensätze um so heftiger auf einander stoßen, je klarer und konsequenter sie entwickelt werden: Hier Kant I., Spinoza und Goethe: Monismus, Vernunft und Pantheismus: dort Kant II., Paulsen und Dennert: Dualismus, Aberglaube und Theismus. Das letzte Mittel von Dennert's Schmähschrift, im Geiste von Loofs und Paulsen geschrieben, ist eine bunte Sammlung von Verdächtigungen und Schmähungen aller Art, die theils auf sophistischen Entstellungen und Verdrehungen meiner Lehren beruhen, theils auf reinen Erfindungen und Verleumdungen. Der moralische Charakter dieser verächtlichen Angriffe wird dadurch nicht gebessert, daß der fromme Dr. Dennert sich mit besonderem Behagen auf undankbare frühere Schüler von mir beruft. Ich bekleide mein Lehramt an der Universität Jena jetzt seit 84 Semestern und habe in diesem langen Zeitraum vor mehr als sechstausend Schülern vorgetragen; darunter befinden sich nicht wenige, welche als Lehrer und Forscher auch den größeren deutschen Universitäten zur Zierde gereichen. Natürlich fehlt es aber auch dazwischen auch nicht an solchen Charakteren, die nicht aus Ueberzeugung, sondern aus egoistischen Gründen in heimtückische Gegner sich verwandelt haben. Viele Feinde habe ich mir dadurch zugezogen, daß ich die "faulen Kompromisse" im Kampfe um die Wahrheit verschmähe und rücksichtslos die Folgeschlüsse aus den Erkenntnissen ziehe, die ich durch eifriges Studium der Natur und der Menschenwelt während eines halben Jahrhunderts gewonnen habe. Gewiß habe ich in der Taktik jenes Kampfes oft große Fehler begangen; aber unbeirrt habe ich stets das eine große Ziel meiner Lebensarbeit im Auge behalten: Reine Erkenntniß der Wahrheit auf Grund unbefangener Naturforschung.
Mit diesen persönlichen Bemerkungen möchte ich ein für allemal auf die unzähligen Angriffe anworten, welche von theologischen, metaphysischen und anderen Gegnern gegen meine Person und meinen Charakter - besonders als Verfasser der "Welträthsel" - gerichtet worden sind. Falls ein unbekannter Leser mehr darüber zu erfahren wünscht, so findet er dies in dem "Lebensbild" von Wilhelm Bölsche (Leipzig 1900).
Meine Gegner thun mir übrigens viel zu viel Ehre an, wenn sie immer den Monismus, wie ich ihn 1892 in meiner Altenburger Rede entworfen und in den "Welträthseln" ausgeführt habe, als Privat-Ansicht meiner Person behandeln. Derselbe ist vielmehr der Ausdruck der klaren einheitlichen Weltanschauung der modernen Naturwissenschaft am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Was ich hier als mein persönliches Bekenntniß formulirt habe, das ist in derselben (- oder in einer sehr ähnlichen -) Form die innerste Ueberzeugung der großen Mehrzahl der denkenden modernen Naturforscher - wohlverstanden der denkenden! Denn es giebt auch in der riesigen Maschinen-Werkstätte der modernen Naturforschung eine Masse gedankenloser Tagelöhner, die zwar ihre kleine Special-Arbeit vortrefflich ausführen, aber nach dem großen Ganzen des Betriebes gar nicht fragen; es giebt selbst unter den angesehenen und verdienten Naturforschern nicht wenige, denen die Gewinnung einer bestimmten Weltanschauung ganz gleichgültig ist, die nur neue Thatsachen, keine Begriffe finden wollen. Wer in solcher Resignation auf eine wissenschaftliche Begründung seiner Weltanschauung überhaupt verzichtet, sich aber gleichzeitig einem beliebigen "Glauben" in die Arme wirft, mit dem ist natürlich nicht weiter zu verhandeln.
Durch Tausende von Gesprächen, die ich im Laufe eines halben Jahrhunderts mit gebildeten Männern und Frauen der verschiedensten Berufskreise gehabt habe, bin ich zu der festen Ueberzeugung gelangt, daß der Monismus schon jetzt viel mehr Anhänger besitzt, als man gewöhnlich annimmt - und Tausende von zustimmenden Briefen, die in den drei Jahren seit Erscheinen der "Welträthsel" an mich gerichtet wurden, haben diese Ueberzeugung bestätigt. Ganz besonders gilt das von den Kreisen der denkenden Naturforscher und Naturfreunde; sicher die größere Hälfte, wahrscheinlich mehr als dreiviertel derselben steht auf dem Boden meiner "Welträthsel". Meine Gegner bestreiten dies und weisen auf die geringe Zahl von namhaften Naturkundigen hin, die sich meinem "Bekenntniß" öffentlich angeschlossen haben. Die Erklärung dieser Erscheinung ist aber sehr einfach: Erstens fühlen überhaupt viele denkende Naturforscher gar kein Bedürftniß, ihre innerste Ueberzeugung Anderen mitzutheilen - dagegen ist Nichts zu sagen. - Zweitens sind zahlreiche treffliche Gelehrte (darunter mehrere meiner nächsten Freunde) der Ansicht, daß man diese höchsten und werthvollsten Ergebnisse der Wissenschaft für sich behalten müsse und nicht dem "Volke" preisgeben dürfe, weil dieses Mißbrauch damit treiben könne - eine esoterische Auffassung, der ich nicht zustimmen kann und die schon von Lessing schlagend widerlegt worden ist; vollends heute, wo das Licht der Naturforschung in alle dunklen Winkel leuchtet und vermöge ihrer praktischen Verwerthung alle Volkskreise erhellt, halte ich es für ganz vergeblich, der Verbreitung naturphilosophischer Erkenntniß Schranken ziehen zu wollen. - Drittens endlich (und das ist das Wichtigste!) ist die große Mehrzahl der überzeugten Monisten durch äußere Gründe gezwungen, ihre wahre Weltanschauung zu verleugnen und demgemäß zu handeln. In den beiden größten und einflußreichsten deutschen Staaten, in Preußen und Bayern, ist die Reaktion auf dem Gebiete des höheren Geisteslebens beständig im Steigen begriffen; die Unterrichts-Ministerien werden von dem orthodoxen Klerus beherrscht; Pfarrer, welche nur wenig von den befohlenen Glaubens-Formen abweichen, werden abgesetzt; Lehrer, welche die Entwickelungslehre in die Schule einführen wollen, werden ihrer Stellung beraubt. - Wer will von diesen armen ehrlichen Männern verlangen, daß sie ihre Lebensstellung dem Bekenntniß ihrer Weltanschauung opfern? Und was würde durch dieses Martyrium erreicht? Man kann diesen Gewissenszwang, der vielen tausend Trägern der Bildung und Gesittung auferlegt wird, und der in vieler Beziehung demoralisirend wirkt, auf das Tiefste bedauern; allein das läßt sich vorläufig nicht ändern!
Sehr zu beklagen ist es auch in dieser Beziehung, daß kürzlich der deutsche Kaiser in seinem vielbesprochenen Handschreiben an Admiral Hollmann (vom 15. Februar 1903) ein Glaubensbekenntniß abgelegt hat, welches weder mit seinen früheren wiederholten Aeußerungen, noch mit dem hohen Standpunkte der Wissenschaft im Beginne des 20. Jahrhunderts in Einklang zu bringen ist. Bekanntlich hatte Wilhelm II. schon seit längerer Zeit die wichtigsten Forschungen über "Bibel und Babel" mit besonderem Interesse verfolgt und mit Rücksicht auf dieselben die Freiheit der Forschung und Lehre auch auf dem Gebiete der Religionsgeschichte gebührend betont. Noch vor Kurzem hatte er in der bekannten Rede in Görlitz liberale Ansichten darüber geäußert, welche ein volles Verständniß für die hohe Bedeutung der freien Entwickelung in jedem Zweige der Wissenschaft bekundeten. In vollem Gegensatze zu dieser oft ausgesprochenen zeitgemäßen Auffassung legt der Kaiser jetzt ein Glaubensbekenntniß ab, welches die vor tausend Jahren herrschenden, jetzt aber längst überwundenen Anschauungen, besonders in Betreff der "Offenbarung" widerspiegelt.
Meine monistische Weltanschauung ist aus einem Gusse und verbindet einheitlich und widerspruchslos die verschiedenen Hauptobjekte, die ich in den vier Theilen meiner "Welträthsel" als "Mensch, Seele, Welt und Gott" gegenüber gestellt habe. Indessen gebe ich gern zu, was viele Gegner hervorheben, und was ich selbst schon auf S. 5 meines Vorworts betont habe, daß in diesen vier Theilen "Studien von sehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zusammengefügt sind". Mit Bezug hierauf möchte ich noch folgende Erläuterungen über die verschiedene Begründung und Ausführung der vier Theile ganz besonders hervorheben.
Der erste, anthropologische Theil bildet die feste Grundlage und den gemeinsamen Ausgangpunkt für sämmtliche Gebiete meiner monistischen Philosophie; hier bin ich im eigentlichen Sinne Fachmann und berufe mich darauf, daß ich schon 1866 (im siebenten Buch der "Generellen Morphologie") "Die Anthropologie als Theil der Zoologie" begründet habe. Daß der Mensch, als Organismus betrachtet, ein Säugthier ist, und daß er alle Merkmale besitzt, welche diese Thierklasse so auffällig von allen übrigen Klassen scheiden, das hat Linné schon 1735 in seinem grundlegenden System der Natur festgestellt, und das hat seither noch kein Naturforscher bestritten. Dieser Satz gilt ebenso für Goethe und Darwin, für Kant und Moses, wie für den Akka und Patagonier, für den Wedda und Australneger. Dieser Fundamental-Satz hat aber seine volle Bedeutung für die Philosophie erst innerhalb des letzten halben Jahrhunderts gewonnen, seitdem die vergleichende Anatomie und Physiologie die volle Uebereinstimmung unserer Organisation mit den Primaten, die vergleichende Ontogenie und Phylogenie den gemeinsamen Ursprung mit diesen höchstentwickelten Säugethieren nachgewiesen hat. Ich muß ganz besonders betonen, daß diese feste zoologische Basis der "Welträthsel" von keinen einzigen meiner Gegner mit Erfolg angegriffen worden ist, und doch sollten hier vor allem die ernsten Versuche der Widerlegung einsetzen.
Der zweite, psychologische Theil hat dagegen die heftigsten Angriffe zahlreicher Gegner hervorgerufen. Vor Allen kann sich Paulsen nicht genug thun in Hohn und Spott über Lehrsätze, die er irrthümlich für meine persönlichen Phantasie-Gebilde ausgiebt, während sie allgemein anerkannte Thatsachen der vergleichenden Physiologie sind. Der Berliner Metaphysiker offenbart hier eine erstaunliche Unwissenheit in dem großen und wichtigen Gebiete der Zellenlehre, der Protistenkunde, der Entwickelungsgeschichte der Gewebe und Organe, der Physiologie und Pathologie des Nervensystems u. s. w. Deutlicher als irgendwo tritt in diesen kindischen Angriffen von Paulsen der bedauerliche Mangel an biologischen Kenntnissen hervor, den er mit den meisten seiner Kollegn theilt; und doch behaupten diese Herren für sich allein auf unseren Universitäten das Monopol der wahren "Philosophie". In der That ist diese Nichts als eine dualistische Metaphysik, eine "Begriffs-Akrobatik", die sich um die reichen psychologischen Ergebnisse der modernen Naturforschung nicht im Mindesten kümmert, sondern mit gewandten Luftsprüngen und Equilibristen-Künsten auf dem hochgespannten Drahtseit der "reinen Spekulation" umhertanzt. Wenn Paulsen sich vielfach den Anschein giebt, den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu werden, so ist dies eben nur leerer Schein; eine täuschende Maske, unter welcher sich die dualistische Mystik um so sicherer einschleicht. Wenn ich im Gegensatz zu diesem herrschenden Dualismus die Psychologie als Theil der Physiologie betrachte, so stehe ich dabei auf dem Schultern meines hochverehrten Lehrers Johannes Müller, der im sechsten Buche seiner klassischen Physiologie des Menschen diese Auffassung ebenso klar als naturgemäß vertritt. Wenn dagegen einzelne neuere Physiologien (- auf Grund einer falschen dualistischen Erkenntniß-Theorie! -) die Psychologie wieder von der Physiologie abtrennen wollen, so ist das ein bedauerlicher Rückschritt; folgerichtig müßten sie dann auch die Psychiatrie von der Medicin abtrennen und die Behandlung der Geistenkranken nicht den naturkundigen Aerzten übertraten, sondern den unwissenden Schäfern und "Naturheilkünstlern", oder noch besser den "Gesundbetern", die in der "Metropole der Intelligenz" noch heute ihr Wesen treiben.
Der dritte, kosmologische Theil der "Welträthsel" ist viel anfechtbarer als die beiden ersten. Hier handelt es sich um die höchsten, allgemeinsten und schwierigsten Fragen der Naturphilosophie. Im Vordergrunde meiner Betrachtung steht hier die feste und unerschütterliche Ueberzeugung von der Einheit der Natur, von der allgemeinen Gültigkeit des Substanz-Gesetzes in allen Gebieten der organischen und anorganischen Natur - ebenso in der Psychologie wie in der Astronomie, in der Biogenie wie in der Geologie. Besonders betonen muß ich hierbei meinen Gegensatz zu Kant II., und zu dem modernen, wiederaufgelebten Vitalismus. Zu welchen starken Absurditäten und unbegreiflichen Widersprüchen dieser letztere führt kann man aus den bekannten Schriften des Kieler Botanikers Reinke sehen: "Die Welt als That" (1899) und "Einleitung in die theoretische Biologie" (1901). Duch seine Hypothese der "Dominanten" (- ein neues Wort für das alte Dogma der besonderen "Lebenskraft" -) schleicht sich wieder die Mystik in die Weltanschauung ein, der dualistische Aberglaube an Schöpfungen und andere Wunder. Wenn im Gegensatze hierzu mein Monismus als "Materialismus" verdächtigt wird, so ist das nur in einem gewissen Sinne richtig, nur insofern, als in meinem allgemeinen Substanz-Begriffe stets Stoff und Kraft, Materie und Energie untrennbar verbunden sind. Ich kenne keine "todte und rohe Materie", keine Substanz ohne Empfindung. Die einfachste chemische Erscheinung (z. B. die Wahlverwandtschaft) und das einfachste physikalische Phänomen (z. b. Massenanziehung) sind nicht begreiflich ohne die Annahme, daß das Vermögen der Empfindung und Bewegung ebenso ein untrennbares Attribut der Substanz ist, wie die ausgedehnte und raumerfüllende Materie (Masse und Aether). Wenn man aber im Sinne aufgeklärter Theologie "Gott" als die Summe aller Kräfte und Wirkungen betrachtet, so kann man auch behaupten, daß mein Monismus mit dem reinsten Monotheismus zusammenfällt.
Der vierte, theologische Theil meines Buches ist der weitaus schwächste und angreifbarste, und ich habe ihn nur den drei übrigen angeschlossen, weil ich die Bedeutung des theoretischen Monismus auch für die wichtigsten Fragen der praktischen Philosophie andeuten wollte. Wenn meine einheitliche und naturgemäße Weltanschauung richtig ist, so muß sie auch zu einer zeitgemäßen Reform der Religion und Sittenlehre, mindestens zu einer natürlichen Begründung derselben hinführen. Aber auf diesen wie auf allen anderen Gebieten der angewandten Philosophie und des praktischen Lebens gehen naturgemäß die Ansichten auch der gebildeten Menschen weit auseinander, und die persönlichen Lebens-Erfahrungen führen viele, sonst übereinstimmende Denker zu den verschiedensten Schlüssen.
Was zunächst die Religion betrifft, so ist es eine offenkundige Unwahrheit, wenn viele meiner Gegner mich ohne Weiteres als Feind derselben hinstellen. Es war mein vollkommener Ernst, wenn ich 1892 in meiner Altenburger Rede den "Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" zu begründen versuchte; und ebenso war es meine volle Ueberzeugung, wenn ich im 18. Kapitel der "Welträthsel" "unsere monistische Religion", und im 19. "unsere monistische Sittenlehre" auf dem Grunde unserer modernen Entwickelungslehre festzustellen versuchte. Der Unterschied dieser monistischen Religion und Ethik von allen anderen Formen derselben besteht nur darin, daß wir als festes Fundament derselben ausschließlich die reine Vernunft in Anspruch nehmen, die Weltanschauung auf Grund der Wissenschaft, der Erfahrung und des vernünftigen Glaubens (der wissenschaftlichen Hypothese). Im Gegensatze dazu stehen alle Religions-Formen, welche sich auf sogenannte "Offenbarungen" stützen, d. h. auf übernatürliche Erscheinungen, welche der wissenschaftlichen Erfahrung und der reinen Vernunft widersprechen, mithin dem weiten Phantasie-Gebiete der Dichtung angehören, oder dem Bereiche des unvernünftigen Glaubens, d. h. des "Aberglaubens".
Das Christenthum in dieser Beziehung zu betrachten - wenn auch nur vorübergehend - war unvermeidlich, wenn ich meinem Buche einen gerundeten Abschluß geben wollte; und so war ich denn gezwungen, im 17. Kapitel der "Welträthsel" eine allgemeine Übersicht über "den wachsenden Gegensatz zwischen moderner Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung" zu geben; ich mußte den neuen Glauben der Vernunft und den alten Glauben der Offenbarung gegenüber stellen. Wenn darauf hin viele meiner Gegener mich schlechthin als "Feind des Christenthums" denunziren, so entspricht das nicht der Wahrheit. Denn ich habe stets den werthvollen Kern seiner reinen Sittenlehren anerkannt, vor Allem das ethische Grundgesetz oder die "goldene Regel", das auch den Kern unserer monistischen Ethik bildet. Zwar war dasselbe nicht neu (wie ich im 19. Kapitel gezeigt habe); aber es bleibt das hohe Verdienst des Christenthums, das Gebot der Menschenliebe und Selbstverleugnung mehr als alle anderen Religionen betont und zu einem der wichtigsten Kultur-Faktoren erhoben zu haben. Im Laufe von fast zwei Jahrtausenden hat sich der ethische Werth des echten Christenthums - trotz aller Verunstaltungen durch seine "Kirche" und deren Diener - so vielseitig fruchtbar bewährt und ist so eng mit den verschiedensten Einrichtungen des höheren Kulturlebens verwachsen, daß es in der Hauptsache deren Grundlage auch in der Zukunft bilden wird.
Anders ist der Werth des dogmatischen Christenthums, welchem als Hauptpflicht der blinde Glaube an einen bunten orientalischen Sagenkreis gilt, an Wunder und Zaubermärchen und an Legenden von übernatürlichen Erscheinungen, welche im Lichte der reinen Vernunft als unmöglich erscheinen. Dieses dogmatische Lehrgebäude ist im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts haltlos zusammengebrochen. Die scharfsinnige Kritik der Kirchengeschichte hat gelehrt, daß die Lehren des Alten und Neuen Testaments auf Traditionen von sehr verschiedenem Alter und Werthe beruhen. Die Archäologie des Orients hat nachgewiesen, daß ein großer Theil der Bibel von Babel stammt und daß der Monotheismus der Hebräer schon lange vor Moses in Babylon Wurzel hatte. Die kritischen Forschungen nach dem "Leben Jesu" haben uns überzeugt, daß diese herrliche Ideal-Figur des christlichen Trinitäts-Glaubens nicht der "Sohn Gottes", sondern ein edler Mensch von höchster sittlicher Vollkommenheit war (- vorausgesetzt die historische Existenz seiner Person, die doch auch von kritischen Theologen bestritten wird! -). Die fortgeschrittene Kosmologie und Astronomie hat das geocentrische Himmelsbild des Alterthums ebenso zerstört, wie die moderne Biologie des anthropocentrische Menschenbild des Christenthums. Endlich hat uns die Entwickelungslehre bewiesen, daß das Menschengeschlecht weiter nichts ist, als ein spät aus Primaten-Ahnen entstandener Zweig des Säugethierstammes, und daß die Seele der einzelnen Person ebenso wenig unsterblich sein kann, wie die der anderen Wirbelthiere.
Dieser fundamentale Gegensatz der modernen Wissenschaft gegen den christlichen Wunderglauben ist nicht nur durch die unbefangenen Forschungen der verschiedensten historischen und philosophischen Autoritäten zur Gewißheit geworden, sondern auch durch die kritischen Untersuchungen des bedeutendsten christlichen Theologen selbst; ich erinnere nur an die bahnbrechenden Deutschen David Strauß und Ludwig Feuerbach, an den Franzosen Ernst Renan und den Engländer Stewart Ross. Der Letztere hatte 1896 unter dem Pseudonym Saladin eine besonders scharfe "kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der Bibelforschung" gegeben. Daß ich mich in meinem 17., besonders hart angegriffenen Kapitel mehrfach auf diese Autorität bezogen habe, ist mir von meinen theologischen Gegnern zum allerschwersten Vorwurf gemacht worden. Wie weit dieser fachlich berechtigt ist, vermag ich nicht zu entscheiden, da die spezielle Theologie mir fern liegt. Ich kann nur entgegnen, daß erstens Saladin unzweifelhaft ein sehr vielseitig gebildeter Theologe ist, und daß andererseits seine unumwundene Kritik der Bibel, besonders der klare Nachweis unzähliger Irrthümer und Widersprüche in diesem "Wort Gottes", dem unbefangenen gesunden Menschenverstand ohne Weiteres einleuchtet. In vielem Einzelnen hat gewiß Saladin (- zu dem ich keinerlei persönliche Beziehungen habe -) ebenso geirrt, wie alle anderne Bibel-Ausleger. Auch muß ich vielfach den gehässigen Ton seiner scharfen Angriffe auf "Jehova's Gesammelte Werke" mißbilligen. Wenn aber jetzt evangelische und katholische Theologen diesen englischen Kollegen in der heftigsten Weise angreifen und mit den derbsten Schimpfwörtern beehren, so dürften sie daran zu erinnern sein, daß sie unter sich vielfach gegenseitig in gleicher Weise verfahren. Von demselben Ton und Werth sind die Bannflüche, welche der römische Papst gegen alle Andersgläubigen schleudert, und die Verdammungs-Urtheile, mit denen die orthodoxen Häupter der evangelischen Synoden die liberalen Theologen des Protestanten-Vereins belegen.
Unzweifelhaft besitzen viele Sagen und Legenden der "Biblischen Geschichte" (- nicht alle! -) einen hohen ethischen und namentlich pädagogischen Werth, ebenso wie viele Mythen und Erzählungen anderer Religionen, und wie diejenigen des klassischen Alterthums. Auch sind die Phantasie-Gebilde derselben von höchster Bedeutung für alle Zweige der Kunst, der Dichtkunst und der Tonkunst ebenso wie der bildenden Kunst. Wir verdanken ihnen eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen des Menschengeistes; und für unser Gemüth ist diese Ideal-Welt eine unerschöpfliche Quelle der Erbauung und des Trostes inmitten unseres unvollkommenen realen Lebens. Aber dieselben Ideal-Gebilde bergen in sich die höchsten Gefahren, wenn sie als reale Wahrheiten gepredigt werden, von deren Anerkennung Seligkeit oder Verdammnis abhängt; und wenn sie zur Grundlage oder gar zur Voraussetzung der Wissenschaft gemacht werden. Dann gleitet die letztere unaufhaltsam auf der schiefen Ebene der Mystik in die Arme des Aberglaubens; sie wird zur Todfeindin der reinen Vernunft.
Vollends verderblich werden diese Ideal-Gebilde der Dichtung, wenn sie als übernatürliche "Offenbarungen" gedeutet und von der praktischen Vernunft zu politischen und weltlichen Zwecken gemißbraucht werden. Dann entwickelt sich jenes verderbliche Uebergewicht der geistlichen über die weltliche Macht, jene unzähmbare Herrschsucht der Kirche, welche den Staat lediglich zu ihren egoistischen Zwecken ausbeutet. Je höher und anspruchsvoller sich die einheitliche Organisation der Kirche erhebt, desto gefährlicher wird sie für den von ihr bedrohten Kulturstaat. Das lehrt vor Allem die Geschichte des Papismus oder Ultramontanismus, der großartigsten und erfolgreichsten Hierarchie in der gesammten Kulturgeschichte.
Der Hinweis auf diese größte Gefahr der modernen Kultur erscheint gerade jetzt geboten, wo im deutschen Reichstage des römische Centrum den Ausschlag giebt, und wo diese politische Partei den Deckmantel der Religion benutzt, um jede freie Entwickelung der modernen Kultur zu hemmen und den denkenden Geist in Fesseln zu schlagen. Täglich wird dieser Kulturkampf gefahrdrohender. Die leitenden Staatsmänner der beiden größten deutschen Staaten, ebenso des überwiegend protestantischen Preußens, wie des katholischen Bayerns, weichen in unbegreiflicher Verblendung und Feigheit vor den maaßlos frechen Angriffen der ultramontanen Kirche zurück, und der jammervolle Reichstag fördert diese Niederlagen. Während in dem republikanischen Frankreich die einsichtige und energische Regierung den römischen Klerus zum Gehorsam gegen die Staatsgesetze zwingt und den vatikanischen Todfeind der modernen Kultur mit fester Hand niederhält, geschieht in dem monarchischen Deutschland das Gegentheil. Der deutsche Reichstag, der sich mit vielen Debatten (z. B. über die "Lex Heinze") vor der ganzen gebildeten Welt lächerlich gemacht hat, fordert beharrlich vom Bundesrat die Zulassung der Jesuiten, die selbst in vielen katholischen Staaten wegen ihres gemeingefährlichen Treibens immer wieder ausgewiesen werden. Dagegen werden die Altkatholiken, welche die ursprüngliche katholische Religion in ihrer Reinheit wieder herstellen wollen, und deren Förderung im eigensten Interesse des Staates läge, von diesem im Stich gelassen. Die Reichsregierung läßt sich von den Schmeichelworten des römischen Papstes und seiner Bischöfe umgarnen und macht ihren gefährlichsten Feinden die größten Koncessionen. Dieser bedauerlichen Sachlage gegenüber muß der energische Kampf gegen den Ultramontanismus allen Vaterlands-Freunden zur sittlichen Pflicht gemacht werden. Denn dieser mächtige Feind der höheren Geisteskultur ist viel gefährlicher als die Social-Demokratie. Das hat einleuchtend Graf von Hoensbroech gezeigt, der in seinem großen Werk "Das Papstthum in seiner social-kulturellen Wirksamkeit" (Leipzig 1901) auf Grund der sichersten historischen Quellen den ganzen ungeheueren Trug der römischen Hierarchie entlarvt hat. Wohin dieselbe unsere Sittlichkeit führt, zeigt die bekannte Liguori-Moral (vergl. Graßmann, sowie die Wiesbadener Vorträge von Friedrich Nippold: "Prinz Max von Sachsen und Prälat Keller als Vertheidiger der Liguorischen Moral").
Die mächtigste Waffe in diesem neuen Kulturkampfe bleibt die Aufklärung und Bildung des Volkes; kein Weg führt sicherer zu derselben, als derjenige der unbefangenen Natur-Erkenntniß, und vor Allem ihrer jüngsten herrlichen Frucht, der Entwickelungslehre. Wenn in diesem heißen Kampfe der laute Ruf erschallt: "Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter", - so können wir von unserem monistischen Standpunkt aus darunter nur die Wahrung der Vernunft gegenüber dem Aberglauben verstehen. Unser Monismus ist im Sinne von Goethe zugleich der reinste Monotheismus. In diesem Sinne mag auch diese neue Ausgabe der Welträthsel - als ein ehrliches und offenes "Glaubensbekenntniß der reinen Vernunft" - dazu dienen, in weiten Kreisen die veredelnde Bildung des Volkes zu heben und den Kultus unserer idealen Gottheit zu fördern, der Dreieinigkeit des Wahren, Guten und Schönen!
Jena, am 2. April 1903.