Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Unrichtigkeit der Morganschen Auffassungen. 263

vereinigen, sondern aus der von scharf beobachtenden Naturvölkern immer wieder gemachten Erfahrung, daß die Sprößlinge häufig wiederholter Incestheiraten den Nachkommen aus Kreuzungsehen in keiner Weise ebenbürtig sind. Gebrauch und Satzung der Völker ist nichts als ein Niederschlag dieser Erkenntnis.

Wie wir sahen, ist die Mannbarerklärung mit den begleitenden Zeremonien, die Gewinnung eines, seltener mehrerer Weiber das Hauptbegebnis im Leben des australischen Mannes, zugleich dasjenige, das am meisten durch Satzungen und Gebräuche vorgezeichnet und reglementiert ist. Ein weiteres wichtiges Begebnis für beide Geschlechter ist das Aufrücken aus der Klasse der jungen Erwachsenen in die Klasse der Alten. Es geschieht das gewöhnlich dann, wenn das älteste Kind des Paares mannbar geworden ist. Während den Kindern der Genuß einer sehr großen Anzahl von Speisen untersagt ist, erweitert sich der Kreis der erlaubten Speisen für die Erwachsenen, und für die Alten herrscht fast unbegrenzte Freiheit. Das ist eine schlaue Erfindung der Alten, sich den Löwenanteil bei der Verteilung der Jagdbeute zu sichern, ohne sich den gehässigen Vorwurf der Ungerechtigkeit zuzuziehen. Denn die Jüngeren glauben selbst, daß ihnen die verbotenen Speisen schädlich seien. Jene Speiseverbote sind übrigens wohl nicht das Erzeugnis eines überlegten Planes der Alten, sondern mehr das durch Aberglauben bewirkte Festhalten an ehemaligen patriarchalischen Gewohnheiten.

Ein unbedingtes Erfordernis für das friedliche Nebeneinanderleben der Horden eines Stammes ist die Stabilität der Bevölkerungsziffern. Ein Anwachsen der Horden würde es jeder einzelnen unmöglich machen, sich innerhalb der überkommenen Grenzen von den Erträgen der Jagd, des Fischfangs und den Produkten der wildwachsenden Pflanzen zu ernähren. Das Land ist bei derartiger Ausnutzung nur im stände, eine sehr dünne Bevölkerung zu erhalten, und wir können es geradezu als Anpassung bezeichnen, wenn wir sehen, daß die Australier durch eine Anzahl von künstlichen Mitteln das Anwachsen der Horden zu verhindern, die Bevölkerung stabil zu erhalten wissen. Bei einigen Stämmen geschieht das durch Töten oder Aussetzen einer gewissen Anzahl von Neugeborenen. Andere pflegen einen Teil der Jünglinge, wenn sie herangewachsen sind und vor dem Eintritt in die Klasse der Erwachsenen stehen, zu kastrieren oder durch Längsspaltung der Harnröhre Hypospadie) der Zeugungsfähigkeit zu berauben. Der betreffende Jüngling wird auf Verabredung der Alten vom Camp weggelockt, niedergeworfen und verstümmelt. Die Operation wird mit einem scharfen Steinmesser vorgenommen. Den


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003