Richard Semon: Im australischen Busch und an den Küsten des Korallenmeeres. (1903)

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Kintschinjönga. 547

mongolischem Typus. Es sind die Leptschas, Verwandte der Tibetaner. Um 3 Uhr hat die Bahn bei dem Dorf Ghoom die höchste Steigung mit 2250 Metern erreicht und führt nun in einer halben Stunde wieder etwa 50 Meter herunter nach Dardjiling. Als wir dort ankommen, sind die hohen Schneeberge im Hintergrunde in Nebel gehüllt, aber prächtig ist der Anblick des an die schroffen Bergwände geschmiegten Städtchens, der zerklüfteten Felsenlandschaft ringsum, der schönen und kraftvollen Vegetation. Vieles erinnert an die Heimat, aber die hohen Magnolienbäume und gigantischen Rhododendren rufen uns ins Gedächtnis zurück, daß wir uns nicht in einem Schweizer Alpendorfe, sondern in den Vorbergen des Himalaya befinden.

Als ich am nächsten Morgen früh aus dem Hause trat, lag diese herrliche Alpenlandschaft übergossen vom klaren Licht der Frühsonne vor mir, der Himmel war wolkenlos und rein, nur im Norden hing über den Bergen ein seltsam gestaltetes, silberleuchtendes Gewölk. Wie merkwürdig diese Wolken an Schneeberge erinnern! Aber das können sie ja nicht sein, denn sie schweben scheinbar frei in der Luft und stehen viel zu hoch über dem Horizont am Himmel. Allmählich treten auch andre Leute aus dem Hotel und betrachten staunend das Wunder. Es sind wirklich Berge, die Kette des Kintschinjönga, des dritthöchsten Berges der Erde, die hier in greifbarer Nähe vor uns liegen. Die höchste Spitze erreicht eine Höhe von 8580 Metern, sie ist also mehr als doppelt so hoch wie die Jungfrau. Der Schnee beginnt erst in einer Höhe von 5000 Metern, das heißt, die weiße Kette, die wir sehen, fußt höher als die höchste Spitze des Montblanc (4810 Meter) reichen würde. Aus diesem Grunde und weil wir uns in der Luftlinie nur etwa 80 Kilometer von den Bergen entfernt befinden, erscheinen sie dem, der bisher nur Hochgipfel von mittleren Höhen gesehen hat, so seltsam überhöht. Als Kind stellt sich der Bewohner der Ebene die Erhebung der Alpengipfel über dem Horizont viel größer vor, als sie in der Tat ist, und viele von uns sind deshalb beim ersten Anblick der Hochgipfel etwas enttäuscht. Wenn man dann öfters Berge gesehen hat, gewöhnt man sich an eine richtigere Beurteilung der Dimensionen und bildet sich eine bestimmte Vorstellung von ihrer Erhebung über dem Horizont. Hier tritt wieder der umgekehrte Vorgang ein; alle bisherigen Verstellungen werden über den Haufen geworfen, man muß den Kopf viel tiefer in den Nacken legen, um die fernen Berge zu sehen, deren Spitzen wirklich im Himmel zu thronen scheinen. Die schneelose Region in 4000 bis 5000 Meter Höhe ist häufig in einen feinen Nebel gehüllt und erscheint in einer Bläue, die sich wenig von der des Himmels


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Das Original des Werkes wurde freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Köln zur Verfügung gestellt. Einscannen und bearbeiten durch Frank Al-Dabbagh, Oktober, 2003.
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© Kurt Stueber, 2003