IV.

Meine Herren!


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Die Untersuchungen über die individuelle Entwickelungsgeschichte des Menschen und der Thiere, deren Geschichte wir in den letzten beiden Vorträgen überblickt haben, verfolge bis vor Kurzem nur die Aufgabe, das Thatsächliche der Erscheinungen festzustellen, welche die Formveränderungen des entstehenden Organismus darbieten. Hingegen hat man es bis vor fünfzehn Jahren nicht gewagt, die Frage nach den Ursachen dieser Erscheinungen aufzuwerfen. In dem vollen Jahrhundert, vom Jahre 1759, wo Wolffīs grundlegende Theoria generationis erschien, bis zum Jahre 1859, wo Darwin sein berühmtes Buch "über die Entstehung der Arten" veröffentlichte, blieben die Ursachen der Ontogenesis völlig verborgen. Während dieser hundert Jahre hat Niemand daran gedacht, ernstlich die wahren Ursachen der Formveränderungen, welche bei der Entwickelung des thierischen Organismus auftreten, inīs Auge zu fassen. Vielmehr galt diese Aufgabe für so schwierig, dass sie die Kräfte der menschlichen Erkenntniss überhaupt zu übersteigen schien. Erst Charles Darwin war es vorbehalten, uns mit einem Schlage in die Kenntniss dieser Ursachen einzuführen. In diesem Umstande liegt für uns die Veranlassung, Darwin, der überhaupt auf dem ganzen Gebiete der Biologie eine vollständige Umwälzung hervorgerufen hat, auch auf dem Gebiete der Ontogenie als den Begründer einer neuen Periode zu bezeichnen. Allerdings hat Darwin selbst nicht eigentlich mit embryologischen Untersuchungen sich eingehend beschäftigt und auch in seinem berühmten Werke die Erscheinungen der individuellen Entwickelung nur beiläufig berührt; allein er hat durch seine Reform der Descendenztheorie und durch die Aufstellung der von ihm sogenannten Selectionstheorie, uns die Mittel an die hand gegeben, die Ursachen der Formenentwicklung zu verfolgen; Darin liegt nach meiner Auffassung vorzugsweise die ausserordentliche Bedeutung, welche dieser grosse Naturforscher für das gesammte Gebiet der Entwickelungsgeschichte wie der Biologie überhaupt besitzt.

Indem wir nun jetzt einen Blick auf diese letzte, eben erst begonnene Periode ontogenetischer Forschung werfen, treten wir damit zugleich in den zweiten Theil der Entwickelungsgeschichte ein, in die Stammesgeschichte oder Phylogenie. Schon im ersten Vortrage habe ich auf den ausserordentlich wichtigen und innigen causalen Zusammenhang hingewiesen, welcher zwischen diesen beiden Zweigen der Entwickelungsgeschichte existirt, zwischen der Entwickelungsgeschichte des Individuums und derjenigen aller seiner Vorfahren. Wir haben diesen Zusammenhang in dem biogenetischen Grundgesetze ausgedrückt: die Ontogenese oder die Entwickelung des Individuums ist eine kurze und schnelle Wiederholung, eine gedrängte Recapitulations der Phylogenese oder der Entwickelung der Art (Species). In diesem Satze liegt eigentlich alles Wesentliche eingeschlossen, was die Ursachen der Entwickelung betrifft, und diesen Satz werden wir im Verlaufe dieser Vorträge überal zu begründen, seine Wahrheit durch Anführung tatsächlicher Beweise überall zu stützen suchen. Mit Beziehung auf diese ursächliche oder causale Bedeutung können wir den Inhalt des biogenetischen Grundgesetzes noch besser so ausdrücken: "Die Entwickelung der Arten (Species) oder Stämme (Phylen) enthält die bedingenden Ursachen, auf denen die Entwickelung der organischen Individuen beruht;" oder ganz kurz: "Die Phylogenesis ist die mechanische Ursache der Ontogenesis."

Dass wir jetzt im Stande sind, diese früher für ganz unzugänglich gehalteten Ursachen der individuellen Entwickelung zu verfolgen, und in ihrem Wesen zu erkennen, das verdanken wir Darwin, und deshalb bezeichnen wir mit seinem Namen eine neue Periode der Entwickelungsgeschichte. Bevor wir aber die grosse Erkenntnissthat betrachten, durch welche uns Darwin den Weg zum Verständniss der Entwickelungsursachen eröffnet hat, müssen wir einen flüchtigen Blick auf die Bestrebungen werfen, welche frühere Naturforscher auf dasselbe Ziel gerichtet haben. Der historische Ueberblick über diese Bestrebungen wird noch viel kürzer ausfallen, als der jenige über die Arbeiten auf dem Gebiete der Ontogenie. Eigentlich sind nur sehr wenige Namen hier zu nennen, und zwar erstens der französische Naturforscher Jean Lamarck, welcher im Jahre 1809 zum ersten Male die sogenannte Descendenztheorie oder Abstammungslehre als wissenschaftliche Theorie begründete, und sodann zweitens unser großer Dichter, Wolfgang Goethe, der gleichzeitig mit denselben Ideen sich trug, ein halbes Jahrhundert, bevor Darwin auftrat. Die ersten Anfänge dieser Wissenschaft fallen also in den Beginn unseres Jahrhunderts. In der ganzen früheren Zeit hat man die Frage nach der Entstehung der Arten, in der die Stammesgeschichte eigentlich gipfelt, überhaupt niemals ernstlich auzuwerfen gewagt.

Die ganze Phylogenie des Menschen sowohl als auch der übrigen Thiere hängt auf das Innigste mit der Frage von der Natur der Arten oder Species zusammen, mit dem Problem, wie die einzelnen Thierarten, die wir im Systeme als Species unterscheiden, entstanden sind. Der Begriff der Art oder Species tritt hierbei in den Vordergrund. Bekanntlich wurde dieser Begriff von Linné aufgestellt, der 1735 in seinem berühmten "Systema naturae" zum ersten Male eine genaue Unterscheidung und Benennung der Thier- und Pflanzenarten versuchte und ein geordnetes Verzeichniss der damals bekannten Arten aufstellte. Ueber das Wesen der Species, die man seitdem als wichtigsten Collectiv-Begriff (allerdings unter beständigen Streitigkeiten über die eigentliche Bedeutung desselben) in der beschreibenden Zoologie und Botanik bis auf den heutigen Tag beibehalten hat, machte sich Linné selbst keine besonders wissenschaftlichen Vorstellungen. Vielmehr stützte er sich dabei auf die mythologischen Anschauungen, welche der herrschende Kirchenglauben auf Grund der mosaischen Schöpfungsgeschichte bezüglich dieses Punktes eingeführt hatte und welche bis heute in ziemlich allgemeiner Geltung geblieben sind. Ja er knüpfte sogar unmittelbar an die mosaische Schöpfungsgeschichte an, und wie es geschrieben steht, nahm er an, dass von jeder Thier- und Pflanzenart ursprünglich nur ein Paar, wie es bei Moses heisst: "ein Männlein und ein Fräulein" geschaffen sei; die sämmtichen Individuen dieser Art seien die Nachkommen dieses zuerst am sechsten Schöpfungstage geschaffenen Urpaares. Für diejenigen Organismen, welche Zwitter oder Hermaphroditen sind, d. h. beiderlei Geschlechtsorgane in ihrem Körper vereinigt tragen, war es nach Linneīs Ansicht genügend, dass nur ein einziges Individuum geschaffen sei, da ein solches die Fähigkeit zur Fortpflanzung der Art bereits vollständig besessen habe. Beid der weiteren Ausbildung dieser mythologischen Vorstellungen schloss sich Linné auch darin noch an Moses an, dass er die sogenannte "Sintfluth" und den damit zusammenhängenden Mythus von der Arche Noah für die "Chorologie der Organismen", d. h. für die Lehre von der geographischen Verbreitung der Thier- und Pflanzen-Arten verwerthete. Mit Moses nahm er an, dass damals durch die Sintfluth alle Pflanzen, Thiere und Menschen zu Grunde gegangen seien, bis auf je ein Paar, welches für die Erhaltung der Arten gerettet, in der Arche Noah aufbewahrt und nach beendigter Sintfluth auf dem Berge Ararat an das Land gesetzt worden sei. Der Berg Ararat schien ihm für diese Landung deshalb besonders geeignet, weil er in einem warmen Klima sichbis über 16,000 Fuss Höhe erhebt, und also in seinen Hohenzonen die verschiedenen Klimate besitzt, die für die Erhaltung der verschiedenen Thierarten nothwendig waren. Die an ein kaltes Klima gewöhnten Thiere konnten auf die Höhe des Berges hinaufsteigen, die an ein warmes Klima gewöhnten an den Fuss hinabgehen und die Bewohner der gemässigten Zone auf der Mitte des Berges sich aufhalten; von hier aus fand aufīs Neue die Ausbreitung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten über die Erdoberfläche statt.

Von einer wissenschaftlichen Ausbildung der Schöpfungsgeschichte konnte zu Linnéīs Zeit schon deshalb keine Rede sein, weil eine ihrer wichtigsten Basen, die Petrefactenkunde oder Paläontologie, damals noch gar nicht existirte. Nun hängt aber gerade die Lehre von den Versteinerungen, von den übrig gebliebenen Resten der ausgestorbenen Thier- und Pflanzen-Arten auf das Engste mit der ganzen Schöpfungsgeschichte zusammen. Die Frage, wie die heute lebenden Thier- und Pflanzen-Arten entstanden sind, ist ohne Rücksicht auf jene nicht zu lösen. Allein die Kenntniss dieser Versteinerungen fällt in viel spätere Zeit, und als den eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie können wir erst George Cuvier nennen, den bedeutendsten Zoologen, der nächst Linné das Thiersystem bearbeitete und im Beginne unseres Jahrhunderts eine vollständige Reform der systematischen Zoologie herbeiführte. Der Einfluss dieses berühmten Naturforschers, welcher vorzugsweise in den ersten drei Decennien unseres Jahrhunderts eine ausserordentlich fruchtbare Wirksamkeit entfaltete, war so gross, dass er fast in allen Theilen der wissenschaftlichen Zoologie, namentlich aber in der Systematik, in der vergleichenden Anatomie und in der Versteinerungskunde neue Bahnen eröffnete. Es ist deshalb von Wichtigkeit, die Anschauungen inīs Auge zu fasen, welche sich Cuvier vom Wesen der Art bildete. In dieser Beziehung schloss er sich an Linné und die mosaische Schöpfungsgeschichte an, obgleich ihm dieser Anschluss durch seine Kenntniss der versteinerten Thierformen sehr erschwert wurde. Er zeigte zum ersten Mal in klarer Weise, dass auf unserem Erdballe eine grosse Anzahl von ganz verschiedenen Bevölkerungen gelebt habe. Er zeigte ferner, dass wir mehrere (mindestens 10-15) verschiedene Hauptabschnitte in der Erdgeschichte unterscheiden müssen, deren jeder eine ganz eigenthümliche, nur ihm zukommende Bevölkerung von Thieren und Pflanzen aufzuweisen hat. Natürlich musste sich ihm unmittelbar die Frage aufdrängen, woher diese verschiedenen Bevölkerungen gekommen seien, ob sie im Zusammenhange mit einander stünden oder nicht. Cuvier beantwortete diese Frage verneinend, und behauptete, dass diese verschiedenen Schöpfungen völlig unabhängig von einander seien, dass also der übernatürliche Schöpfungsact, durch welchen nach der herrschenden Schöpfungsgeschichte die Thier- und Pflanzen-Arten entstanden seien, mehrere Male stattgefunden haben müsse. Demnach musste eine Reihe von ganz verschiedenen Schöpfungsperioden auf einander gefolgt sein, und im Zusammenhange damit mussten wiederholt grossartige Umwälzungen der gesammten Erdoberfläche, Revolutionen und Kataklysmen, ähnlich der mythischen Sintfluth, stattgefunden haben. Diese Katastrophen und Umwälzungen beschäftigten Cuvier vielfach, um so mehr, als zu jener Zeit die Geologie ebenfalls sich mächtig zu rühren begann und grosse Fortschritte in der Erkenntniss vom Bau und der Entstehung des Erdkörpers gemacht wurden. Von anderer Seite, insbesondere durch den berühmten Geologen Werner und seine Schule, wurden die verschiedenen Schichten der Erdrinde genau untersucht, die Versteinerungen, welche in diesen Schichten eingeschlossen sind, systematisch bearbeitet, und auch diese Untersuchungen führten zu der Annahme verschiedener Schöpfungsperioden. In jeder Periode zeigte sich die anorganische Erdrinde, die aus verschiedenen Schichten zusammengesetzte Oberfläche der Erde, eben so verschieden beschaffen, wie die Bevölkerung von Thieren und Pflanzen, welche damals auf derselben lebte. Indem Cuvier diese Ansicht mit den Ergebnissen seiner paläontologischen und zoologischen Untersuchungen combinirte und über den ganzen Entwickelungsgang der Schöpfung klar zu werden suchte, gelangte er zu der Hypothese, welche man die Kataklysmen- oder Katastrophen-Theorie, die Lehre von den gewaltsamen Revolutionen des Erdballs zu nennen pflegt. Nach dieser Lehre haben auf unserer Erde wiederholt zu bestimmten Zeiten Umwälzungen stattgefunden, durch welche die ganze lebende Bevölkerung plötzlich vernichtet wurde, und am Ende jeder dieser Katastrophen hat eine totale Neuschöpfung der Organismen stattgefunden; da wir uns diese nicht auf natürlichem Wege denken können, müssen wir zu ihrer Erklärung übernatürliche Eingriffe des Schöpfers in den natürlichen Gang der Dinge annehmen. Diese Revolutionslehre, welche Cuvier in einem besonderen, auch ins Deutsche übersetzten Werke behandelte, wurde bald allgemein anerkannt und blieb ein halbes Jahrhundert hindurch in der Biologie herrschend; je sie wird selbst jetzt noch von einigen berühmten Naturforschern vertheidigt.

Allerdings wurde schon vor mehr als vierzig Jahren Cuvierīs Katastrophenlehre von Seiten der Geologen gründlich widerlegt, und zwar zuerst durch Charles Lyell, den bedeutendsten Naturforscher, der dieses Gebiet beherrscht. Er führte in seinen berühmten "Principles of geology" schon im Jahre 1830 den Nachweis, dass diese Lehre völlig falsch sei, in soweit sie die Erdrinde selbst betreffe; dass man, um den Bau und die Entwickelung der Gebirge zu begreifen, keineswegs zu übernatürlichen Ursachen, oder zu allgemeinen Katastrophen seine Zuflucht nehmen müsse. Vielmehr sind zur Erklärung dieser Erscheinungen die gewöhnlichen Ursachen ausreichend, welche noch jetzt in jeder Stunde an der Umbildung und Umarbeitung unserer Erdoberfläche thätig sind. Diese Ursachen sind die atmosphärischen Einflüsse, das Wasser in seinen verschiedenen Formen, als Schnee und Eis, Nebel und Regen, der fliessende Strom und die Brandung des Meeres; endlich die vulkanischen Erscheinungen, welchen durch die heissflüssige innere Erdmasse herbeigeführt werden. In überzeugender Weise wurde von Lyell der Nachweis geführt, dass diese natürlichen Ursachen vollständig ausreichen, um alle Erscheinungen im Bau und in der Entwickelung der Erdrinde zu erklären. Daher wurde in kurzer Zeit auf dem Gebiete der Geologie die Lehre Cuvierīs von den Umwälzungen und Neuschöpfungen ganz verlassen. Trotzdem blieb diese Lehre auf dem Gebiete der Biologie noch dreissig Jahre lang in unangefochtener Geltung, und die gesammten Zoologen und Botaniker, soweit sie sich überhaupt auf Gedanken über die Entstehung der Organismen einliessen, hielten fest an Cuvierīs falscher Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen und den damit verbundenen Revolutionen der Erdoberfläche. Das ist gewiss eines der merkwürdigsten Beispiele, wie zwei nahe verwandte Wissenschaften lange Zeit hindurch einen ganz verschiedenen Weg neben einander einschlagen; die eine, die Biologie, bleibt auf dem dualistischen Wege weit zurück und leugnet überhaupt die Möglichkeit, die "Schöpfungsfragen" durch natürliche Erkenntniss zu lösen; die andere, die Geologie, ist daneben auf dem monistischen Wege schon weit vorgeschritten, und hat dieselben Fragen durch Erkenntniss der wahren Ursachen gelöst.

Um zu begreifen, welche völlige Resignation während des Zeitraums von 1830-1859 mit Bezug auf die Entstehung der Organismen, auf die Schöpfung der Thier- und Pflanzenarten in der Biologie herrschte, führe ich Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung die Thatsache an, dass ich während meiner ganzen Universitäts-Studien niemals ein Wort über diese wichtigste Grundfrage der Biologie gehört habe. Ich hatte während dieser Zeit (1852-1857) das Glück, die ausgezeichnetesten Lehrer auf allen Gebieten der organischen Naturwisenschaft zu hören; keiner derselben hat je von dieser Grundfrage gesprochen; keiner von ihnen hat die Frage von der Entstehung der Arten auch nur einmal berührt. Niemals wurden die früher gemachten Versuche, die Entstehung der Thier- und Pflanzenarten zu begreifen, auch nur mit einem Worte hervorgehoben; niemals wurde die höchst bedeutende "Philosophie zoologique" von Lamarck, die diesen Versuch schon im Jahre 1809 unternahm, überhaupt der Erwähnung für werth gehalten. Sie werden daher den colossalen Widerstand begreifen, den Darwin fand, als er zum ersten Male diese Frage wieder in Angriff nahm. Sein Versuch schien zunächst völlig in der Luft zu schweben und auf gar keine früheren Vorarbeiten sich zu stützen. Das ganze Problem der Schöpfung, die ganze Frage nach der Entstehung der Thier- und Pflanzenarten galt in der Biologie noch bis zum Jahre 1859 für supranaturalistisch und transcendental; ja selbst auf dem Gebiete der speculativen Philosophie, wo man doch von verschiedenen Seiten auf diese Frage hingedrängt wurde, hatte Niemand gewagt, ernstlich dieselbe in Angriff zu nehmen.

Dieser letztere Umstand ist wohl hauptsächlich durch den dualistischen Standpunkt Immanuel Kantīs und durch die ausserordentliche Bedeutung zu erklären, welcher dieser einflussreichste unter den neueren Philosophen (besonders in Deutschland) während unseres ganzen Jahrhunderts behauptet hat. Während nämlich dieser grosse Genius, gleich bedeutend als Naturforscher wie als Philosoph, auf dem Gebiete der anorganischen Natur sehr wesentlich an einer "natürlichen Schöpfungsgeschichte" arbeitete, vertrat er in Bezug auf die Entstehung der Organismen vollständig den supranaturalistischen Standpunkt. Einerseits machte Kant in seiner "allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" den glücklichsten und bedeutendsten "Versuch, die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonīschen Grundsätzen abzuhandeln," d. h. mit anderen Worten, mechanisch zu begreifen, monistisch zu erkennen; und dieser Versuch, durch natürliche wirkende Ursachen (causae efficientes) den Ursprung der ganzen Welt zu erklären, bildet noch heute die Basis unserer ganzen natürlichen Kosmogenie. Anderseits aber behauptete Kant, dass das hier angewendete "Princip des Mechanismus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwissenschaft geben kann", für die Erklärung der organischen Naturerscheinungen, und namentlich der Entstehung der Organismen, durchaus nicht hinreichend sei; dass man für die Entstehung dieser zweckmäßig eingerichteten Naturkörper vielmehr übernatürliche zweckthätige Ursachen (causae finales) annehmen müsse. Ja, er behauptet sogar: "Es ist ganz gewiss, dass wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sonder man muss diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen." Damit hat Kant ganz entschieden den dualistischen und teleologischen Standpunkt bezeichnet, den er in der organischen Naturwissenschaft beibehielt. Allerdings hat er diesen Standpunkt bisweilen verlassen, und namentlich an einigen sehr merkwürdigen Stellen, die ich in meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte"14) (im fünften Vortrage) ausführlich besprochen habe, sich in ganz entgegengesetztem, monistischen Sinne ausgesprochen. Ja man könnte ihn auf Grund dieser Stellen, die ich dort hervorhob, sogar geradezu als einen Anhänger der Deszendenz-Theorie bezeichnen. Allein diese klaren monistischen Äusserungen sind nur einzelne Lichtblicke, und für gewöhnlich hielt Kant in der Biologie an jenen dunkeln dualistischen Vorstellungen fest, wonoch in der organischen Natur ganz anderen Kräfte walten, als in der anorganischen. Diese dualistische oder zwiespältige Naturauffassung ist auch noch heute in der Philosophie der Schule die vorherrschende, und noch heute betrachten die meisten Philosophen diese beiden Erscheinungsgebiete als ganz verschieden: einerseits das anorganische Naturgebiet, die sogenannte "leblose" Natur, wo nur mechanische Gesetze (causae efficientes) mit Nothwendigkeit, ohne bewussten Zweck, wirken sollen; anderseits das Gebiet der belebten organischen Natur, wo alle Erscheinungen in ihrem tiefsten Wesen und ersten Entstehen nur begreiflich werden sollen durch Annahme vorbedachter Zwecke oder sogenannter zweckthätiger Ursachen (causae finales).

Trotzdem nun unter der Herrschaft dieser falschen dualistischen Vorurtheile bis zum Jahre 1859 die Frage nach der Entstehung der Thier- und Pflanzenarten und die damit zusammenhängende Frage nach der "Schöpfung des Menschen" in den weitesten Kreisen überhaupt nicht als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss zugelassen wurde, so begannen doch schon im Anfange unseres Jahrhunderts einzelne sehr bedeutende Geister, unbeirrt durch die herrschenden Dogmen, jene Fragen ganz ernstlich in Angriff zu nehmen. Insbesondere gebührt dieses Verdienst der sogenannten "Schule der älteren Naturphilosophie", welche so vielfach verleumdet worden ist, und welche in Frankreich vorzugsweise durch Jean Lamarck, Geoffroy S. Hilaire und Ducrotay Blainville, in Deutschland durch Wolfgang Goethe, Reinhold Treviranus und Lorenz Oken vertreten war.

Derjenige geistvolle Naturphilosoph, den wir hierbei in erster Linie hervorzuheben haben, ist Jean Lamarck. Derselbe ist am 1. August 1744 zu Bazentin in der Picardie geboren, der Sohn eines Pfarrers, der ihn für den theologischen Beruf bestimmte. Er wandte sich jedoch zunächst dem ruhmverheissenden Kriegerstande zu, zeichnete sich als sechzehnjähriger Knabe in dem für die Franzosen unglücklichen Gefecht bei Lippstadt in Westfalen durch Tapferkeit aus und lag dann einige Jahre in Garnison im südlichsten Frankreich. Hier lernte er die interessante Flora der Mittelmeerküste kennen und wurde durch sie bald ganz für das Studium der Botanik gewonnen. Er gab seine Officierstelle auf und veröffentlichte schon im 1778 seine grundlegende Flore francaise. Jahre hindurch hatte er mit bitterer Noth zu kämpfen. Erst in seinem fünfzigsten Lebensjahre (1794) erhielt er eine Professur für Zoologie am Museum des Pariser Pflanzengartens. Hierdurch wurde er tiefer in die Zoologie hineingeführt, in deren Systematik er bald ebenso werthvolle und bedeutende Arbeiten lieferte, wie vordem in der systematischen Botanik. 1802 veröffentlichte er seine "Considerations sur les corps vivants", in denen die ersten Keime seiner Descendenz-Theorie liegen. 1809 erschien die höchst bedeutende "Philosophie zoologique", das Hauptwerk, in welchem er diese Theorie ausführte. 1815 publicirte er die umfangreiche Naturgeschichte der wirbellosen Thiere (Histoire naturelle des animaux sans vertebres), in deren Einleitung dieselbe ebenfalls entwickelt ist. Um diese Zeit erblindete Lamarck vollständig und beschloss 1829 sein arbeitsreiches Leben unter den dürftigsten äusseren Verhältnissen15).

Lamarckīs Philosophie zoologique war der erste wissenschaftliche Entwurf einer wahren Entwickelungsgeschichte der Arten, einer "natürlichen Schöpfungsgeschichte" der Pflanzen, der Thiere und des Menschen selbst. Die Wirkung dieses merkwürdigen und bedeutenden Buches war aber gleich der des grundlegenden Wolffīschen Werkes gleich Null; beide fanden kein Verständniss. Kein Naturforscher fühlte sich damals veranlasst, sich ernstlich um dieses Buch zu bekümmern und die darin niedergelegten Keime der wichtigsten biologischen Fortschritte weiter zu entwickeln. Die bedeutendsten Botaniker und Zoologen verwarfen dasselbe ganz und hielten es keiner Widerlegung für bedürftig. Cuver, der gleichzeitig mit Lamarck in Paris lebte und arbeitete, hat es nicht der Mühe werth gefunden, in seinem Berichte über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in dem die geringfügigsten Beobachtungen Platz fanden, diesen grössten "Fortschritt" auch nur mit einer Sylbe zu erwähnen. Kurz, Lamarckīs zoologische Philosophie theilte das Schicksal von Wolffīs Entwickelungs-Theorie und wurde ein halbes Jahrhundert hindurch allgemein ignorirt. Sogar die deutschen Naturphilosophen, namentlich Oken und Goethe, die gleichzeitig mit ähnlichen Speculationen sich trugen, scheinen Lamarckīs Werk nicht gekannt zu haben. Wären sie damit bekannt gewesen, so würden sie durch die Kenntniss desselben wesentlich gefördert worden sein, und hätten wohl schon damals die Entwickelungstheorie viel weiter ausgebaut, als es ihnen möglich geworden ist.

Um Ihnen eine Vorstellung von der hohen Bedeutung der Philosophie zoologique zu geben, will ich nur einige der wichtigsten von Lamarckīs Ideen hier kurz andeuten. Es giebt nach seiner Auffassung keinen wesentlichen Unterschied zwischen lebendiger und lebloser Natur; die ganze Natur ist eine einzige zusammenhängende Erscheinungswelt, und dieselben Ursachen, welche die leblosen Naturkörper bilden und umbilden, dieselben Ursachen sind allein auch in der lebendigen Natur wirksam. Demgemäss haben wir auch dieselbe Forschungs- und Erklärungsmethode für die eine wie für die andere anzuwenden. Das Leben ist nur ein physikalisches Phänomen. Alle Organismen, die Pflanzen, die Thiere und an ihrer Spitze der Mensch, sind in ihren inneren und äusseren Formverhältnissen ganz ebenso wie die Mineralien und alle leblosen Naturkörper nur durch mechanische Ursachen (causae efficientes), ohne zweckthätige Ursachen (causae finales) zu erklären. Dasselbe gilt von der Entstehung der verschiedenen Arten. Für diese können wir naturgemäss keinen ursprünglichen Schöpfungsakt, ebenso wenig wiederholte Neuschöpfungen (wie bei Cuvierīs Katastrophen-Lehre), sondern nur natürliche, ununterbrochene und nothwendige Entwickelung annehmen. Der ganze Entwickelungsgang der Erde und ihrer Bewohner ist continuirlich, zusammenhängend. Alle verschiedenen Thier- und Pflanzenarten, die wir jetzt vorfinden, und die jemals gelebt haben, alle haben sich auf natürlichem Wege aus früher dagewesenen und davon verschiedenen Arten hervorgebildet; alle stammen ab von einer einzigen oder von wenigen gemeinsamen Stammformen. Diese ältesten Stammformen können nur ganz einfache und niedrigste Organismen gewesen sein, welche durch Urzeugung aus der anorganischen Materie entstanden sind. Die Arten oder Species der Organismen sind beständig durch Anpassung an die wechselnden äusseren Lebensverhältnisse (namentlich durch Uebung und Gewohnheit) umgeändert worden und haben ihre Umbildung durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen.

Das sind die Grundzüge der Theorie Lamarckīs, die wir heute Abstammungslehre oder Umbildungslehre nennen, und die Darwin erst 50 Jahre später zur Anerkennung gebracht und durch neue Beweisgründe fest gestützt hat. Lamarck ist also der eigentliche Begründer dieser Descendenz-Theorie oder Transmutations-Theorie, und es ist nicht richtig, wenn heutzutage häufig Darwin als der erste Urheber derselben genannt wird. Lamarck war der erste, welcher die natürliche Entstehung aller Organismen, mit Inbegriff des Menschen, als wissenschaftliche Theorie formulirte, und zugleich die beiden extremsten Consequenzen dieser Theorie zog: nämlich erstens die Lehre von der Entstehung der ältesten Organismen durch Urzeugung, und zweitens die Abstammung des Menschen von den menschenähnlichen Säugethieren, den Affen.

Diesen letzteren wichtigsten Vorgang, der uns hier vorzugsweise interessirt, suchte Lamarck durch dieselben bewirkenden Ursachen zu erklären, welche er auch für die natürliche Entstehung der Their- und Pflanzenarten in Anspruch nahm. Als die wichtigste dieser Ursachen betrachtet er die Uebung und Gewohnheit (Anpassung) einerseits, die Vererbung anderseits. Die bedeutendsten Umbildungen in den Organen der Thiere und Pflanzen sind nach ihm durch die Function, durch die Thätigkeit dieser Organe selbst entstanden, durch die Uebung oder Nichtgebrauch derselben. Um ein paar Beispiele anzuführen, so haben der Specht und der Colibri ihre eigenthümliche lnage Zunge durch die Gewohnheit erhalten, ihre Nahrung mittelst der Zunge aus engen tiefen Spalten oder Canälen herauszuholen; der Frosch hat die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen durch die Schwimmbewegungen selbst erworben; die Giraffe hat ihren langen Hals durch das Hinaufstrecken desselben nach den Zweigen der Bäume erhalten u. s. w. Allerdings sind die Gewohnheit, der Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe als bewirkende Ursachen der organischen Formbildung von höchster Wichtigkeit; allein sie reichen doch für sich allein nicht aus, um die Umbildung der Art zu erklären. Als zweite nicht minder wichtige Ursache muss vielmehr mit dieser Anpassung die Vererbung zusammenwirken, wie das auch Lamarck ganz richtig erkannte. Er behauptete nämlich, dass an sich zwar die Veränderung der Organee durch Uebung oder Gebrauch bei jedem einzelnen Individuum zunächst nur sehr unbedeutend sei, dass sie bar durch Häufung oder Cumulation der Einzelwirkungen sehr bedeutend werde, indem sie sich von Generation zu Generation vererbe und so summire. Das war ein vollkommen richtiger Grundgedanke. Allein es fehlte Lamarck noch vollständig das Princip, welches Darwin erst später als den wichtigsten Facter in die Umbildungstheorie einführte, nämlich das Princip der natürlichen Züchtung im Kampfe umīs Dasein. Theils der Umstand, dass Lamarck nicht zur Entdeckung dieses ausserordentlich wichtigen Causalverhältnisses gelangte, theils der niedrige Zustand aller biologischen Wissenschaften zu jener Zeit, verhinderten ihn, seine Theorie von der gemeinsamen Abstammung der Thiere und des Menschen fester zu begründen.

Auch die Entstehung des Menschen aus dem Affen suchte Lamarck vor Allem durch Fortschritte in den Lebensgewohnheiten der Affen zu erklären: durch fortschreitende Entwickelung und Uebung ihrer Organe, und Vererbung der so erworbenen Vervollkommnungen auf die Nachkommen. Unter diesen Vervollkommnungen betrachtet Lamarck als die wichtigsten den aufrechten Gang des Menschen, die verschiedene Ausbildung der Hände und Füsse, die Ausbildung der Sprache und die damit verbundene höhere Entwickelung des Gehirns. Er nahm an, dass die menschenähnlichsten Affen, welche Stammeltern des Menschengeschlechtes wurden, den ersten Schritt zur Menschwerdung dadurch gethan hätten, dass sie die kletternde Lebensweise auf Bäumen aufgaben und sich an den aufrechten Gang gewöhnten. In Folge dessen trat die dem Menschen eigenthümliche Haltung und Umbildung der Wirbelsäule und des Beckens, sowie die Differenzirung der beiden Gliedmassen-Paare ein: das vordere Paar entwickelte sich zu Händen, die bloss zum Greifen und Tasten dienten; das hintere Paar wurde nur noch zum Gehen gebraucht und bildete sich dadurch zum reinen Fusse aus.

In Folge dieser ganz veränderten Lebensweise und in Folge der Correlation oder Wechselbeziehung der verschiedenen Körpertheile und ihrer Functionen traten nun aber auch bedeutende Veränderungen in anderen Organen und in deren Functionen ein. So wurde namentlich in Folge der veränderten Nahrung der Kiefer-Apparat und das Gebiss, sowie im Zusammenhang damit die ganze Gesichtsbildung verändert. Der Schwanz, der nicht mehr gebraucht wurde, ging allmählich verloren. Da aber diese Affen in Gesellschaften beisammen lebten und geordnete Familienverhältnisse besassen (wie es noch jetzt bei den höheren Affen der Fall ist), so wurden vor allen diese geselligen Gewohnheiten (oder die sogenannten "socialen Instincte") höher entwickelt. Die blosse Lautsprache der Affen wurde zu Wortsprache des Menschen; aus den concreten Eindrücken wurden die abstracten Begriffe gesammelt. Stufe für Stufe entwickelte sich so das Gehirn in correlation zum Kehlkopf, das Orgean der Seelenthätigkeit in Wechselwirkung zum Organ der Sprache. In diesen höchst wichtigen Ideen, deren Darlegung in Lamarckīs Werke sehr interessant ist, liegen die ersten und ältesten Keime zu einer wahren Stammesgeschichte des Menschen.

Unabhängig von Lamarck beschäftigte sich gegen Ende des vorigen und im Beginne dieses Jahrhunderts mit dem Schöpfungs-Problem ein Genius ersten Ranges, dessen Gedanken darüber uns ganz besonders interessiren müssen. Das ist Niemand anders, als unser grösster Dichter, Wolfgang Goethe. Bekanntlich wurde Goethe durch sein offenes Auge für alle Schönheiten der Natur und durch sein tiefes Verständniss ihres Wirkens schon frühzeitig zu den verschiedenartigsten naturwissenschaftlichen Studien angeregt, die sein ganzes Leben hindurch die Lieblingsbeschäftigung seiner Mussestunden bildeten. Insbesondere hat ihn die Farbenlehre zu der bekannten umfangreichen Arbeit veranlasst. Die werthvollsten und bedeutendsten von Goetheīs Naturstudien sind aber diejenigen, welche sich auf die organischen Naturkörper, auf "das Lebendige, dieses herrliche köstliche Ding" beziehen. Ganz besonders tiefe Forschungen stellte er hier im Gebiete der Formenlehre, der Morphologie an, in dem er (vorzüglich mit Hülfe der vergleichenden Anatomie) glänzende Resultate erzielte und weit seiner Zeit vorauseilte. Die Wirbeltheorie des Schädels, die Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen, die Lehre von der Metamorphose der Pflanzen u. s. w. sind hier besondes hervorzuheben16). Diese morphologischen Studien führten nun Goethe zu Untersuchungen über "Bildung und Umbildung organischer Naturen", die wir zu den ältesten und tiefsten Keimen der Stammesgeschichte rechen müssen. Er kommt dabei der Descendenz-Theorie so nahe, dass wir ihn mit Lamarck zu den ältesten Begründern derselben zählen können. Allerdings hat Goethe niemals eine zusammenhängende wissenschaftliche Darstellung seiner Entwickelungs-Theorie gegeben; aber wenn Sie seine asserordentlich geistvollen und bedeutenden vermischen Aufsätze "zur Morphologie" lesen, so finden Sie darin eine Menge der trefflichsten Ideen versteckt. Einige derselben sind geradezu als Anfänge der Abstammungslehre zu bezeichnen. Als Belege will ich hier nur ein paar der merkwürdigsten Sätze anführen: "Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, dass alle vollkommneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder weniger hin- und her weicht, und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet" (1796). Das "Urbild" der Wirbelthiere, nach dem auch der Mensch geformt ist, entspricht unserer "gemeinsamen Stammform des Vertebraten-Stammes", aus welcher alle verschiedenen Arten der Wirbelthiere durch "tägliche Ausbildung, Umbildung und Fortpflanzung" entstanden sind. An einer anderen Stelle sagt Goethe (1807): "Wenn man Pflanzen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzen Seiten sich vervollkommnen, so dass die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr, das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht."

Dass Goethe in diesen und anderen Aussprüchen den inneren verwandtschaftlichen Zusammenhang der organischen Formen offenbar in genealogischem Sinne auffassst, geht noch deutlicher aus einzelnen merkwürdigen Stellen hervor, in denen er sich über die Ursachen der äusseren Arten-Mannichfaltigkeit einerseits, der inneren Einheit des Baues andererseits äussert. Er nimmt an, dass jeder Organismus durch das Zusammenwirken zweier entgegengesetzter Gestaltungskräfte oder Bildungstriebe entstanden ist: Der innere Bildungstrieb, die "Centripetalkraft", der Typus oder der "Specificationstrieb" sucht die organischen Species-Formen in der Reihe der Generationen beständig gleich zu erhalten: das ist die Vererbung. Der äusssere Bildungstrieb hingegen, die "Centrifugalkraft", die Variation oder der "Metamorphosen-Trieb" wirkt durch die beständige Veränderung der äusseren Existenz-Bedindungen fortwährend umbildend auf die Arten ein: das ist die Anpassung. Mit dieser bedeutungsvollen Anschauung trat Goethe bereits ganz nahe an die Erkenntniss der beiden grossen mechanischen Factoren heran, die wir als die wichtigsten bewirkenden Ursachen der Species-Bildung in Anspruch nehmen, der Vererbung und Anpassung. So sagt er z. B.: "Eine innere ursprüngliche Gemeinschaft (das ist die Vererbung) liegt aller Organisation zu Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen entspringt aus den nothwendigen Beziehungsverhältnissen zur Aussenwelt, und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende Umbildung (d. h. die Anpassung) mit Recht annehmen, um die eben so constanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können." Aus diesen und zahlreichen ähnlichen Sätzen, die ich in meiner generellen Morphologie als Leitworte über die einzelnen Capitel gesetzt habe, geht klar hervor, wie tief Goethe den inneren genetischen Zusammenhang der mannichfaltigen organischen Formen erfasste. Er näherte sich damit schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den Principien der natürlichen Stammesgeschichte so sehr, dass er als einer der ersten Vorläufer Darwinīs aufgefasst werden kann, wenngleich er nicht dazu gelangte, die Descendenz-Theorie nach Art von Lamarck in ein wissenschaftliches System zu bringen.

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.