Ernst Haeckel: Anthropogenie

Vorwort.


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Indem ich in den vorliegenden freien Vorträgen über "Anthropogenie" den ersten Versuch wage, die Thatsachen der menschlichen Keimesgeschichte einem grösseren Kreise von Gebildeten zugänglich zu machen und diese Thatsachen durch die menschliche Stammesgeschichte zu erklären, verhehle ich mir nicht die grossen Schwierigkeiten und Gefahren, die mit einem solchen ersten Versuche gerade auf diesem bedenklichen Gebiete verbunden sind. Kein anderer Zweig der Naturwissenschaften ist bis zur Gegenwart so sehr ausschliessliches Eigentum der Fachgelehrten geblieben, und kein Zweig ist so geflissentlich mit dem mystischen Schleier eines esoterischen Priester-Geheimnisses verhüllt worden, als die Keimesgeschichte des Menschen. Antworten doch heute die meisten sogenannten "Gebildeten" nur mit einem ungläubigen Lächeln, wenn man ihnen erzählt, das jeder Mensch sich aus einem einfachen Ei entwickelt; und in der Regel verwandelt sich dieser Zweifel nur in abwehrendes Entsetzen, wenn man ihnen die Reihe von Embryo-Formen vorführt, die aus diesem menschlichen Ei hervorgeht. Davon ab er, dass diese menschlichen Embryonen einen grösseren Schatz der wichtigsten Wahrheiten in sich bergen und eine tiefere Erkenntniss-Quelle bilden, als die meisten Wissenschaften und alle sogenannten "Offenbarungen" zusammengenommen, davon haben die meisten "Gebildeten" gar keine Ahnung.

Ist dies aber zu verwundern, wenn wir sehen, wie wenig verbreitet die Kenntniss der menschlichen Entwickelungsgeschichte selbst heute noch unter den Naturforschern von Fach ist? Sogar den meisten Schriften, welche die specielle Naturgeschichte des Menschen, Anatomie und Physiologie, Ethnologie und Psychologie behandeln, sieht man es auf den resten Blick an, dass ihre Verfasser von der menschlichen Keimesgeschichte entweder gar keine oder nur oberflächliche Kenntnisse besitzen, dass ihnen aber die Stammesgeschichte vollends fern liegt. Freilich lebt der Name CHARLES DARWIN in aller Munde! Aber von wie Vielen ist die von ihm reformirte Descendenz-Theorie wirklich assimilirt, wirklich in Fleisch und Blut aufgenommen worden? Ihre Zahl ist kaum gering genug anzuschlagen! Wie sehr aber das tiefere Verständniss der Entwickelungsgeschichte selbst bei höchst angesehenen Biologen noch vermisst wird, davon wüsste ich kein merkwürdigeres Beispiel aus neuester Zeit anzuführen, als den allbekannten Vortrag "über die Grenzen des Naturerkennens", welchen der berühmte Physiologe Du BOIS-REYMOND 1872 auf der deutschen Naturforscher-Versammlung in Leipzig gehalten hat. Dieser glänzende Vortrag, der so grossen Jubel bei allen Gegnern der Entwickelungslehre, so lebhaftes Bedauern bei allen Freunden des geistigen Fortschritts hervorgerufen hat, ist im Wesentlichen eine grossartige Verleugnung der Entwickelungsgeschichte! Gewiss stimmt jeder denkende Naturforscher dem Berliner Physiologen bei, wenn er in der ersten Hälfte seines Vortrages diejenige Grenze des Natur-Erkennens beleuchtet, welche dem Menschen durch seine Wirbeltier-Natur gegenwärtig gesteckt ist. Aber ebenso gewiss muss jeder monistische Naturforscher gegen die zweite Hälfte desselben protestiren, wo der menschlichen Erkenntniss nicht allein eine anderen, von jener ersten angebliche verschiedene (in Wahrheit aber mit ihr identische!) Grenze gesteckt, sondern auch daraus als letzte Folgerung der Schluss gezogen wird, dass der Mensch diese Grenze niemals überschreiten werde: "Wir werden das niemals wissen! Ignorabimus!"

Gegen dieses "Ignorabimus!", welches dem verdienstvollen Erforscher der Nerven- und Muskel-Electricität den einstimmigen Dank der Ecclesia militans eingetragen hat, müssen wir hier im Namen des fortschreitenden Naturerkennens und der entwickelungsfähigen Wissenschaft auf das Entschiedenste protestiren! Wenn wir unseren einzelligen Amoeben-Ahnen aus der laurentischen Urzeit hätten begreiflich machen wollen, dass ihre Nachkommen dereinst in der cambrischen Periode einen vielzelligen Wurm-Organismus mit Haut und Darm, Muskeln und Nerven, Nieren und Blutgefässen bilden würden, so würden sie uns das nimmermehr geglaubt haben; so wenig als diese Würmer, wenn wir ihnen hätten erzählen können, das ihre Nachkommen sich zu schädellosen Wirbelthieren, gleich dem Amphioxus - und so wenig als diese Schädellosen, wenn wir ihnen hätten sagen können, dass ihre späten Epigonen sich zu Schädelthieren entwickeln würden. Und ebenso würden unsere silurischen Urfisch-Ahnen nimmermehr geglaubt haben, dass ihre devonischen Enkel als Amphibien, ihre triassischen Urenkel als Säugethiere existiren würden; ebenso würden die letzteren es für unmöglich gehalten haben, dass in der Tertiär-Zeit einer ihrer späten Ur-Ur-Enkel Menschen-Form gewinnen und die edlen Früchte vom Baume der Erkenntnis pflücken werde. Sie alle würden uns einstimmig geantwortet haben: "Wir werden uns niemals ändern und wir werden niemals unsere Entwickelungsgeschichte erkennen! Immutabimur et Ignorabimus!"

Diese Ignorabimus ist dasselbe, welches die Berliner Biologie dem fortschreitenden Entwickelungsgange der Wissenschaft als Riegel vorschieben will. Dieses scheinbar demüthige, in der That aber vermessene "Ignorabimus" ist das "Ignoratis" des unfehlbaren Vaticans und der ihm angeführten "schwarzen Internationale"; jener unheilbrütenden Schaar, mit welcher der moderne Culturstaat jetzt endlich, endlich den ernsten "Culturkampf" begonnen hat. In diesem Geistes-Kampfe, der jetzt die ganze denkende Menschheit bewegt und der ein menschenwürdiges Dasein in der Zukunft vorbereitet, stehen auf der einen Seite unter dem lichten Banner der Wissenschaft: Geistesfreiheit und Wahrheit, Vernunft und Cultur, Entwickelung und Fortschritt; auf der anderen Seite unter der schwarzen Fahne der Hierarchie: Geistesknechtschaft und Lüge, Unvernunft und Rohheit, Aberglauben und Rückschritt. Die Posaune dieses gigantischen Geisteskampfes verkündigt uns den Anbruch eines neuen Tages und das Ende der langen Nacht des Mittelalters. Denn in den Fesseln des hierarchischen Mittelalters ist die moderne Civilisation trotz aller Culturfortschritte noch immer befangen; und statt der Wissenschaft der Wahrheit herrscht im socialen und bürgerlichen Leben noch immer die Glaubensschaft der Kirche. Wir erinnern nur daran, welchen mächtigen Einfluss die vernunftwidrigsten Dogmen noch immer auf die fundamentale Schulbildung der Jugend ausüben; wir erinnern daran, dass der Staat noch den Fortbestand der Klöster und des Cölibat erlaubt, der unsittlichsten und gemeinschädlichsten Einrichtungen der "alleinseligmachenden" Kirche; wir erinnern daran, dass der Culturstaat die wichtigsten Abschnitte des bürgerlichen Jahres nach Kirchenfesten eintheilt, die öffentliche Ordnung durch kirchliche Processionen stören läßt u. s. w. Wir geniessen jetzt allerdings das seltene Vergnügen, die "allerchristlichsten" Bischöfe und Jesuiten wegen ihres Ungehorsams gegen die Gesetze des Staates im Exil oder im Gefängnis zu sehen. Aber hat nicht derselbe Staat bis vor Kurzem diese gefährlichsten Feinde der Vernunft gehegt und geflegt?

In diesem gewaltigen, weltgeschichtlichen "Culturkampfe", in welchem mitzukämpfen wir uns glücklich preisen dürfen, können wir nach unserem persönlichen Ermessen der ringenden Wahrheit keine bessere Bundesgenossin zuführen, als die "Anthropogenie"! Denn die Entwickelungsgeschichte ist das schwere Geschütz im "Kampf um die Wahrheit"! Ganze Reihen von dualistischen Trugschlüssen stürzen unter den Kettenschüssen dieser monistischen Artillerie haltlos zusammen und der stolze Pracht-Bau der römischen Hierarchie, die gewaltige Zwingburg der "unfehlbaren" Dogmatik, fällt wie ein Kartenhaus ein. Ganze Bibliotheken vol Kirchen-Weisheit und voll After-Philosophie schmelzen in Nichts zusammen, sobald wir sie mit der Sonne der Entwickelungsgeschichte beleuchten. Ich kann dafür kein schlagenderes Zeugniss anführen, als das Gebahren der "streitenden Kirche" selbst, welche nicht aufhört, zu leugnen und als "höllische Erfindungen des Materialismus" zu verdammen. Sie liefert damit selbst den glänzendsten Beweis, dass sie die von uns gezogenen Schlüsse auf die menschliche Stammesgeschichte, auf die wahren Ursachen jener Thatsachen, als unvermeidlich anerkennt.

Um nun diese so wenig bekannten Thatsachen der menschlichen Keimesgeschichte und ihre causale Erklärung durch die Stammesgeschichte einem möglichst grossen Kreise von Gebildeten zugänglich zu machen, habe ich denselben Weg eingeschlagen, wie vor sechs Jahren in meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte", von der die "Anthropogenie" einen zweiten, ergänzenden Theil bildet. Ich habe die freien akademischen Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Entwickelungsgeschichte, welche ich seit zwölf Jahren hier in Jena vor einem gemischten Kreise von Studirenden aller Facultäten gehalten habe, im Sommer-Semester 1873 von zweien derselben, den Herren Kiessling und Schlawe stenographiren lassen. In der Ueberzeugung, dass die ungebundete Form des freien Vortrags wesentlich zu der Theilnahme beigetragen hat, welcher sich die jetzt in fünfter Auflage erchienene "Natürliche Schöpfungsgeschichte" erfreut, habe ich mich bemüht, bei der Redaction des stenographischen Manuscripts auch diesen Vorträgen möglichst jene freie Form zu lassen. Freilich lag die Aufgabe hier viel schwieriger als dort. Denn während die "Schöpfungsgeschichte" den weitesten Kreis der biologischen Erscheinungen in leichtem Fluge durchstreichen und nur das Interessanteste berühren konnte, war ich hier in der "Anthropogenie" gezwungen, ein viel enger begrenztes Gebiet von Erscheinungen zusammenhängend darzustellen, von dem zwar auch jedes einzelne Stück "da, wo man`s packt, interessant" ist, das Interesse der verschiedenen Stücke aber doch sehr verschieden ist. Ausserdem gehört gerade die Erkenntiss der Form-Erscheinungen, um welche sich die menschliche Keimesgeschichte bemüht, zu den schwierigsten morphologischen Aufgaben, und die akademischen Vorträge über "Entwickelungsgeschichte des Menschen" gelten selbst in den Kreisen der Mediciner, die bereits mit den anatomischen Verhältnissen des menschlichen Körperbaus vertraut sind, mit Recht für die allerschwierigsten. Wollte ich nun den Pfad in dieses dunkle und den Meisten noch ganz verschlossene Gebiet wirklich den gebildeten Laien zugänglich machen, so musste ich mich einerseits in der Auswahl des reichen empirischen Stoffes möglichst beschränken und durfte doch anderseits keinen wesentlichen Theil desselben ganz übergehen.

Trotzdem ich nun dergestalt stets bemüht war die wissenschaftlichen Probleme der Anthropogenie möglichst "gemeinverständlich" darzustellen, bilde ich mir doch nicht ein, diese ausserordentlich schwierige Aufgabe vollständig gelöst zu haben. Der Zweck dieser Vorträge würde aber auch schon erreicht sein, wenn es mir nur gelungen wäre, unseren "gebildeten Kreisen" eine ungefähre vorstellung von den wesentlichsten Grundzügen der menschlichen Keimesgeschichte zu geben und sie zu überzeugen, dass deren Erklärung und Verständniss einzig und allein durch die entsprechende Stammesgeschichte gefunden werden kann. Vielleicht darf ich zugleich hoffen, diese Ueberzeugung bei Einigen von denjenigen Fachgenossen zu wecken, welche zwar mit den Thatsachen der Keimesgeschichte sich tagtäglich beschäftigen, aber von der wahren, in der Stammesgeschichte verborgenen Ursachen derselben Nichts wissen und Nichts wissen wollen. Da meine "Anthropogenie" überhaupt der erste Versuch ist, Ontogenie und Phylogenie des Menschen in ihrem gesammten ursächlichen Zusammenhange darzustellen, so muss ich allerdings fürchten, dass das Erreichte weit hinter dem Erstrebten zurückbleibt. Aber davon wird sich hoffentlich jeder Denkende überzeugen, dass nur durch die Anerkennung dieses Zusammenhanges die "Entwickelungsgeschichte des Menschen" überhaupt zur Wissenschaft wird! Nur durch die Phylogenie kann die Ontogenie wahrhaft verstanden werden. Die Stammesgeschichte enthüllt uns die wahren Ursachen der Keimesgeschichte!

Jena am 13. Juli 1874.

Ernst Heinrich Haeckel.

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Erstellt von Sebastian Högen, Juli 2001.