Bei den englischen Fachgenossen habe ich die freundlichste Aufnahme gefunden. Gleich der erste Empfang war so
herzlich und offen, daß ich mich sogleich heimisch fühlte. Mit der größten Liberalität stellten sie mir ihre
Bibliotheken und Sammlungen zur Verfügung; fast täglich bin ich bei dem einen oder anderen eingeladen und habe so
schon gute Gelegenheit gehabt, das herzliche und gemütliche englische Familienleben kennen zu lernen, welches
dem deutschen so nahesteht. Überhaupt tritt mir, bei aller Verschiedenheit des englischen und deutschen Lebens, in
politischer und sozialer, wissenschaftlicher und praktischer Beziehung dennoch der gemeinsame germanische
Grundcharakter überall sehr wohltuend entgegen, und ich empfinde sehr auffallend den Gegensatz, welcher zwischen
dem germanischen England und Deutschland einerseits, dem romanischen Frankreich und Italien andererseits
besteht. In letzterem ist alles äußerlich, glatt, glänzend, aber auch sehr vieles hohl und leer, voll Phrase und
Heuchelei, während in ersterem überall viel mehr Solidität und Gründlichkeit, ZUverlässigkeit und Wahrheit sich
ausspricht. Auch in bezug auf unsere Wissenschaft ist dieser Unterschied sehr auffallend.
Der Glanzpunkt meines bisherigen Londoner Aufenthaltes war der vorige Sonntag, welchen ich bei Darwin zubringen
durfte. Ich fuhr am 21. Oktober morgens auf der Eisenbahn nach Bromley (etwa 20 englische Meilen von London
entfernt). Dort erwartete mich Darwins Equipage, welche mich in 1/2 Stunde nach seinem Landgute in Down brachte.
Die Aufnahme von Darwin und seiner Familie war die allerherzlichste. Ich mußte dort übernachten und wurde erst am
anderen Morgen wieder losgelassen. Die Exposition meiner "Generellen Morphologie" sowie die begleitenden Stammbäume
erregten bei Darwin und ebenso bei Huxley das lebendigste Interesse, und ich darf hier der freundlichsten Aufnahme
meines Buches gewiß sein. Ich fand Darwin und Huxley ganz so, wie ich sie mir nach unserer Korrespondenz vorgestellt
hatte, äußerst liebenswürdig, und ich bewege mich bei ihnen ganz wie zu Hause. Mit Huxley bin ich besonders viel
zusammen: er ist höchst intelligent und freisinnig.
Meine Wohnung ist hier sehr günstig gelegen. Ich logiere 8 charges Street, Piccadilly, im besten Teile der West-City,
nahe dem Grenn-Park, in dem Palast der Frau Schwabe, der Schwiegermutter meines neapolitanischen Reisegefährten
Dr. Binz, welche ich in Bonn kennen lernte. An Komfort fehlt es in keiner Beziehung.
1. November 1866.
Die 14 Tage meines Aufenthaltes in London sind nun glücklich zu Ende und ich trete morgen (Freitag früh) die
Seereise an. So interessant mir auch London in vielfacher Beziehung war, so bin ich doch froh, es verlassen zu können.
Die unaufhörliche Hetzerei und das rastlose Gewühl des ungeheuren Menschenhaufens machen einen doch zuletzt recht
mürbe,
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