Manfredonia. Darüber nördlich erhebt sich der Engelberg oder
Monte S.Angelo. In einer Grotte desselben wird seit 13 Jahrhunderten das Bild des Erzengels Michael aufbewahrt und noch
jetzt alljährlich von Tausenden frommer Pilger angebetet: einer der letzten Hoffnungsanker des heiligen Vaters, der
sehnsüchtig aus dem Vatikan herüberblickt und die immer leerer werdende Kasse St. Peters mit den reichen Metallschätzen
füllt, die hier jedes Jahr von Tausenden gläubiger Schafe dem drachentötenden Erzengel dargebracht werden.
Langsam zieht auch diese historische Küste an unserem Blicke vorüber, und da jetzt bis zum Abend kein weiterer
Küstenpunkt unser Auge fesselt, behalten wir Muße genug, um über die Macht des menschlichen Aberglaubends nachzudenken,
der noch heute wie vor 1300 Jahren - trotz Eisenbahnen und Telegraphen, trotz monistischer Philosophie und
Deszenden-Theorie - die große Mehrzahl der Menschen einem Dogma beugt, das nur der Herrschsucht ihrer Priester zum
Vorteil gereicht.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurden wir durch eine andere Erscheinung beschäftigt. Der frische Nordwind hatte sich
gelegt, der Meerspiegel sich geglättet, und bald stiegen Tausende von Medusen und Krebsen, Würmern und Insusorien aus
der Tiefe an die Oberfläche empor und wetteiferten, um uns durch reiche Lichtspenden das herrliche Schauspiel des
Meeresleuchtens zu gewähren. Stundenland verweilten wir noch auf dem Verdeckt, um die unendlich mannigfaltigen Lichtfiguren
dieses zoologischen See-Feuerwerks zu bewundern und im Kielwasser des Dampfers die weit zurückreichende Funkenflut zu
verfolgen.
Als wir am folgenden Morgen das Deck betraten, erblickten wir bereits vor uns zur Rechten das ersehnte Reiseziel,
zur Linken die öde, steil aufsteigende Felsenküste des türkischen Festlandes südlich vom Kap Linguetta. Beide nähern
sich zusehends, und wir treten in den engen, kaum 1 Stunde breiten "Kanal von Korfu". Die Nordküste der Insel,
die wir unmittelbar vor uns haben, entfaltet ihre Reize, je mehr wir uns ihr nähern. Über steilem, felsigem Strande
erblicken wir grünes Vorland mit Olivenhainen, aus denen wieße Dörfchen hervorschimmern; stolz erhebt sich darüber
der höchste Berg der Insel, der bis über 3000 Fuß aufsteigende Monte Salvatore oder Erlöserberg, mit dem altgriechischen
Namen Pantokrator, Allbeherrscher. Dieser gewaltige Bergrücken zieht wie eine hohe Schutzmauer durch den
ganzen nördlichen Teil der Insel von Ost nach West, an beiden Enden in einen flachen Spitzkegel sich erhebend, der ihm
eine sehr charakteristische Gestalt verleiht: eine Festungsmauer mit zwei symmetrisch abschließenden Turmzinnen. In der
Tat bildet dieser mächtige, steile Wall eine sichere Schutzwehr für den mittleren Teil der Insel, und indem er alle
kalten Nordwinde von ihm abhält, trägt er nicht wenig zu seinem warmen Klima bei. Dieser Nordmauer gegenüber erhebt sich
im südlichen schmäleren Teile von Korfu ein anderer hoher Berg, der in ähnlicher Weise den von Süden kommenden
Schirokko ab
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