1 Stunde in dem schönen Mürztale, dem Laufe der prächtig dunkelgrünen,
mild-frischen Mürz entgegen, umherschlenderten. Erst nach völlig eingebrochener Nacht gelangten wir in unser
vortreffliches Nachtquartier zurück (Wedls Hirsch in Kapellen), welches durch ausgezeichnete Quantität und
Qualität der festen und flüssigen Nahrung, durch fabelhaft billige Preise und große Gemütlichkeit der netten
Wirtsleute, echten Steiermärkern, mich lebhaft an die urgemütlichen Kneipen im Salzkammergut und Tirol erinnerte,
wo ich mich im Herbst 1855 so wohl befunden. Besonders vortrefflich war aber hier der schwarzrote Steiermärker Wein,
an dem unsere durstigen Kehlen, mit Grazer Sauerbrunn gemischt, sich kaum satt trinken konnten.
Sonntag, den 24. Mai, hatten wir von Kapellen bis Mürzzuschlag, der südlichen Entstation der Semmeringbahn, nur
noch einen kleinen Marsch von 2 Stunden durch die östlichste Strecke des lieblichen Mürztales, doch brauchten wir
dazu fast den ganzen Nachmittag, indem wir auf den blühenden Wiesengründen und an den tannenbewachsenen Bergabhängen
mit Muße noch manche schöne Pflanze sammelten, namentlich in einem kleinen Seitentale das reizend zierliche
Isopyrum thalictroides, dann Gentiana aestiva, Geranium phaeum usw. Um 12 Uhr mittag bestiegen
wir in Mürzzuschlag den Zug, der uns mit HIlfe einer der kolossalen, schwerfälligen Alpenlokomotiven (mit ganz
kleinen Schwungrädern, sehr schwerer Basis und vielen besonderen, eigens für diesen Zweck erfundenen Mechanismen)
über den Semmering schleppen sollte. Der Genuß, den usn diese zweistündige, in ihrer Art ganz einzige
Alpenfahrt gewährte, war ganz außerordentlich, übertraf bei weitem unsere, obwohl nicht wenig gespannten
Erwartungen, und bildete einen würdigen Beschluß unserer in jeder Beziehung so höchst gelungenen Frühlings-Alpen-Exkursion,
die mich mit einem solchen Schatze der interessantesten, neuen Naturanschauung bereichert hatte. Vergeblich würde ich
versuchen, mit Worten die ungemein großartigen Reize dieses mit dem riesigsten Kräfteaufwand und Überwindung der
größten Schwierigkeiten mitten durch die Alpen gelegten Schienenweges nur einigermaßen anschaulich zu schildern. Am
ehesten möchte ich es an Kühnheit der Ausführung und Reichtum wechselvoller Naturreize noch mit der Wormser Jochstraße,
die mich damals so sehr entzückte, vergleichen, wenn es nicht doch so vieles ganz Eigentümliches hätte; namentlich
verleiht das Durcheilen dieser prächtigen Berge auf den Flügeln des Dampfes dem Ganzen einen ganz eigenen Reiz.
Übrigens wird nur bergauf, bis zur Höhe des Passes (2790 Fuß Ü. M.) mit voller Dampfkraft gefahren, was wegen der
sehr starken Neigung doch nur sehr langsam fördert; bergab läuft der Zug ganz von selbst, und die schwerfällige
Lokomotive hat nur zu hemmen und den Lauf zu mäßigen. Die Steigung ist übrigens sehr wechselnd und sinkt oft
plötzlich von 1:40 (1 Fuß Steigung auf 40 Fuß Breite) auf 1:400. Der Gipfelpunkt der Bahn durchbohrt die Spitze des
Semmering (der noch 300 Fuß
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