"Ernst Haeckel - Embryonenbilder"

Embryonenbilder




Seit mehr als einem halben Jahrhundert kämpft E r n s t   H a e c k e l    einen heißen Kampf um die Weltanschauung. Er kämpft für die Entwickelungslehre und ihre philosophischen Konsequenzen, für den Monismus als Weltanschauung, dem die Natur sich selbst genug ist, der in der Naturerklärung auf die Annahme eines Gottes verzichtet, weil ihm diese Annahme keinen aber auch gar keinen Schritt weiter hilft in der Enkenntnis der Dinge. Er kämpft für den Monismus als Ethik, der für den einzelnen wie für die Menschheit auf die Hilfe eines außerweltlichen Gottes verzichtet, weil er zeigen kann, wie deie Menschheit a u s   e i g e n e r   K r a f t    zu ihrer Höhe emporgestiegen ist, und weil er überzeugt ist, daß der Mensch erst dann völlig zum Herrn seines Schicksals wird, wenn er sich ganz auf eigene Füße stellt, wenn er bewußt die Wissenschaft immer mehr zu seiner Führerin und Vorsehung macht, wenn er seine eigene Vernunft ausbildet und gebraucht, anstatt sein Denken durch religiöse Phantasien verdrehen zu lassen. Er kämpft für den Monismus des Geschehens, nach dem alles in einem lückenlosen Kausalzusammenhang steht, alles nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen verläuft, die in der Natur der Dinge selbst begründet sind.

Haeckels Gegner ist das kirchlich organisierte Christentum. Das Christentum war einst ein lebendiger Protest gegen die versteinerte Religion von Pharisäern und Schriftgelehrten; es versteinerte selbst zu einer Religion von Pharisäern und Schriftgelehrten. Es erhob sich in Luther zu einem Protest gegen eine verlotterte Papstkirche; es verlotterte selbst zu einer lutherischen Landeskirche mit tausend Päpsten und Päpstlein, die weder Fisch noch Fleisch ist, weil sie mit der einen Hand den Glauben an Unglaubliches festhalten will, während die andere sich begehrlich ausstreckt nach "wahrer Wissenschaft", um sich mit fremden Federn zu schücken. So kamen wir allmählich auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens in jene Unwahrheit und Heuchelei hinein, die so habituell geworden ist, "daß die meisten unter uns selbst das Schamgefühl für die Unwürdigkeit und Unhaltbarkeit des bestehenden Zustandes verloren haben".

Die Wenigen, die was davon erkannt,
die töricht g´nug ihr volles Herz nich wahrten,
hat man von je gekreuzigt und verbrannt.

Ernst Haeckel gehört zu diesen Wenigen. Er hat den fürchterlichen Zwiespalt eines wahrhaften Gemütes, in dem sich Glauben und Wissen streiten, an eigener Seele erfahren. Er hat den Zwiespalt überwunden, als ihm Darwins Entwickelungslehre die Grundlagen für seine einheitliche Weltanschauung geliefert hatte, und er hielt es für seine Pflicht, seine ihn beglückende Erkenntnis auch seinen Mitmenschen mitzuteilen, weil er überzeugt war, daß jeder Fortschritt in der Erkenntnis zugleich einen Fortschritt des sittlichen Menschenwesens bedeutet.

Ernst Haeckel hat dabei erfahren, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Kamele verschlucken und Mücken seigen, auch heute noch nicht ausgestorben sind. Das Volk in seiner großen Mehrheit jebelt ihm als einem Erlöser von dem mittelalterlichen Bann der Kirche; die Schriftgelehrten und Pharisäer, die in langen Kleidern gehen, in den Synagogen obenan sitzen und sich gerne grüßen lassen auf den Märkten, suchen ihn zu fangen in seinen Worten und ihn "unschädlich" zu machen. Und er mit seinem naiven, sorglosen Kindergemüt gibt ihnen Gelegenheit genug zur Silbenstecherei und zum Wirbelzählen, so daß sie wirklich mit einem Schein des Rechts ihn zu den Toten legen können.

Aber merkwürdig! wie es damals hieß: sie werden ihn töten und nach drei Tagen wird er wieder auferstehen - so ist es auch hier. Der scheinbar ganz zu Boden Gedrückte lebt und wirkt weiter, und die es bezeugen, derer sind viele. -

Ich will in folgendem eine dokumentarische Schilderung des letzten Kampfes geben, der um Haeckel ausgefochten worden ist, ich meine den Kampf um Haeckels Embryonenbilder.

Seit etwa zwanzig Jahren gibt es einen D r .   E b e r h a r d   D e n n e r t    in Godesberg am Rhein. Er ist von Gott dazu berufen, nicht nur den "Darwinismus" das Grab zu schaufeln, immer wieder zu schaufeln, sondern auch - immer aufs neue - Ernst Haeckel zu den Toten zu legen - wissenschaftlich und moralisch. Er hat sich viele Mühe gegeben, seinem Totengräberuf gerecht zu werden. Er hat ein Büchlein geschrieben: "Die Wahrheit über Ernst Haeckel". Die Wahrheit ist, daß Dennerts "Wahrheit" hier sehr nahe an Verlogenheit grenzt. Denn es ist hier wohl alles fein säuberlich zusammengetragen, was je nur g e g e n    Haeckel gesagt worden ist und etwa gesagt werden kann, aber nach den vielen Urteilen z u g u n s t e n    Haeckels, an denen kein Mangel, an denen Überfluß vorhanden ist, sucht man vegebens. So sieht die "Wahrheit" des Herrn Dr. Eberhard Dennert aus.

Als der " D e u t s c h e   M o n i s t e n b u n d "    von Freunden Haeckels gegründet worden war, der für eine auf Naturerkenntnis gegründete Weltanschauung wirken sollte, worde Herrn Dr. Eberhard Dennert die Totengräberei zu viel; er wurde allein nicht mehr fertig. So gründete er den " K e p l e r b u n d "   . Der sollte dem Monistenbund gegenüber die "wahre" Naturwissenschaft vertreten und verbreiten. Die "wahre" Naturwissenschaft war natürlich die christliche; das Christentum, das sich offenbar nicht mehr zurechtfinden konnte in dieser bösen Welt, sollte (nach einem Ausdruck Dennerts) "naturwissenschaftlich orientiert" werden. Das heißt, wenn man es recht versteht: Die Naturwissenschaft sollte mit christlichem Geiste erfüllt, christlich verseucht werden. Später tat man so, als ob`s dem Keplerbund n u r    um die Naturwissenschaft zu tun sei.

Es gibt unter den Tieren welche, die so tun, als ob sie etwas anderes wären, ein Stückchen Holz, ein dürres Blatt, ein Steinblock oder ein harmloser Vertreter ihres Geschlechts. Man nennt das Mimikry. Der Keplerbund - um ganzen sicher unbewußt! - übt Mimikry. Es ist ihm im Grunde nicht um die Naturwissenschaft zu tun, sondern um den religiösen Glauben, der e r    meint. Man höre und lese die Redner des Keplerbundes, Dennert und Braß.

Dr. Arnold Braß.

Dr. Arnold Braß veröffentlichte vor einiger Zeit eine Broschüre: "Ernst Haeckel als Zoologe". Darin gebärdete er sich als großer Zoologe, der berufen sei, über Ernst Haeckel so ganz von oben herab abzuzurteilen. Wenn man Dr. Arnold Braß selber hört, trieft der Mann nur so von Wissenschaftlichkeit. Wir werden später auch andere über diese schöne Tugend bei Braß zu hören bekommen. Immerhin - ich vermute wohl nicht ganz mit Unrecht, daß die genannte Schrift von Braß Herrn Dr. Eberhard Dennert genügte, diesem "bedeutenden Zoologen" - in allen Torarten wurde er später gepriesen als hervorragender Zoologe - eine bedeutende Rolle im Keplerbund einzuräumen. Braß wurde " d e r "    Zoologe des Keplerbundes. Als solcher hielt er Reden, da und dort. So auch am 10. April in einer Versammlung der christlichen Partei in Berlin über das Thema: "Der Mensch der Urzeit". In dem Bericht der "Staatsbürgerzeitung" war zu lesen: "Auch manche Ähnlichkeiten im Embryo, die von Haeckel behauptet wurden, beruhen auf Irrtümern. Haeckel selbst sei das Mißgeschick passiert, daß er dem Affenembryo den menschlichen Kopf aufgesetzt habe, und umgekehrt - d e r   R e d n e r   k o n n t e   h i e r   a u s   a l l e r g e n a u e s t e r   p e r s ö n l i c h e r   K e n n t n i s   s p r e c h e n ,   d a   e r   d i e   r i c h t i g e n   Z e i c h n u n g e n   s e i n e r z e i t   s e l b s t   f ü r   H a e c k e l   h e r g e s t e l l t   h a b e . "   

Dieser Passus der "Staatsbürgerzeitung" gab die Veranlassung zu dem Streit um Haeckels Embryonenbilder. I c h   s t e l l e   d a s   h e r   a u s d r ü c k l i c h   f e s t ,   d a   d i e   K e p l e r b u n d p r e s s e   s p ä t e r   d e n   a r m e n   H e r r n   D r .   B r a ß   a l s   d e n   z u e r s t   a n g e g r i f f e n e n   h i n s t e l l t e .   

Haeckel war üder diese Stelle empört. "Ich habe manchen heißen Kampf gekämpft, aber eine so freche Lüge ist mir doch noch nicht vorgekommen," sagte er mir. Eine freche Lüge in der Tat, wenn die "Staatsbürgerzeitung" recht berichtet hatte, und die "Staatsbürgerzeitung" selbst brachte zunächsts keine Berichtigung. So sah sich Ernst Haeckel veranlaßt, den Zeitungen, die ähnlich wie die "Staatsbürgerzeitung" berichtet hatten, durch seinen Rechtsanwalt folgende " B e r i c h t i g u n g "    zustellen zu lassen:

"In einem Vortrage, den Herr Dr. A r n o l d   B r a ß    (Godesberg) am 10. April cr. im ´Christlich-sozialen Verein´ in Berlin hielt, stellte derselbe folgende Behauptung auf: (Es folgt nun die oben nach der ´Staatsbürgerzeitung´ zitierte Stelle). Diese Angabe ist eine d r e i s t e   E r f i n d u n g   . Niemals habe ich ´dem Affen den menschlichen Kopf aufgesetzt´ und umgekehrt. N i e m a l s   h a t   H e r r   B r a ß   f ü r   m i c h   i r g e n d w e l c h e   ´ Z e i c h n u n g e n   s e l b s t   h e r g e s t e l l t ´ .   I c h   h a b e   ü b e r h a u p t   z u   d i e s e m   V o r s t a n d   d e s   s o g e n a n n t e n   ´ K e p l e r b u n d e s ´     g a r   k e i n e   B e z i e h u n g e n   , - ausgenommen, daß derselbe vor einigen Jahren mich aufforderte, ihn bei einem Vortrage, den er in Weimar über ´Goethes Farbenlehre´ hielt, zu unterstützen, - was ich höflich ablehnte."

Eine zweite "Berichtigung" Haeckels hatte den folgenden Wortlaut:

Herr Dr. Arnold Braß (Godesberg) wiederholt in Nr. 97 des "Volk" (Siegen, 25. April 1908) und in der "Staatsbürgerzeitung" (Berlin, 25. April 1908) seine dreiste Behauptung, daß ich - in dem Vortrag über das Menschenproblem 1907, Tafel 3 - "einem Affenembryo einen Menschenkopf und dem menschlichen Embryo einen Affenkopf aufgesetzt habe". Die betreffenden Figuren sind Kopien von bekannten naturgetreuen Abbildungen anderer Autoren. Der Affenembryo (Hylobates) ist von Emil Selenka im fünften Hefte seiner "Studien über Menschenaffen" (1903, Figur 36, S. 360) abgebildeet, der danebenstehende menschliche Embryo ist eine genaue Kopie nach den bekannten übereinstimmenden Darstellungen von Rabl, Keibel, His usw. Ich selbst habe die betreffenden Figuren gar nicht gezeichnet, sondern sie von einem Zeichner aus den genannten Werken kopieren lassen. Ich kann daher die unglaubliche Behauptung des Herrn Dr. Braß, der sie "als Wissenschaftler nochmals ganz scharf betont", nur als eine bewußt dreiste Unwahrheit bezeichnen.

(gez.) Ernst Haeckel.

Der Hylobatesembryo, auf den sich Haeckel bezieht, ist der dritte auf der mittleren senkrechten Reihe der erwähnten Tafel; e s   i s t   n ö t i g ,   d i e s   h i e r   z u   b e m e r k e n .   

Dr. Arnold Braß erklärte darauf:

Gegenüber der mir zufällig zu Gesicht gekommenen, mich der "bewußt dreisten Unwahrheit" beschuldigenden Berichtigung Ernst Haeckels muß ich meine Behauptungen nicht nur wiederholen, sondern ich verschärfe sie nunmehr noch folgendermaßen: Haeckel hat nicht nur die Entwicklungszustände von Mensch, Affe und anderen Säugern falsch dargestellt, um seine Hypothesen festigen zu können, sondern er hat aus dem wissenschaftlichen Nachlass eines Forschers eine Figur eines Makaks entnommen, dieser den Schwanz abgeschnitten und einen Hylobates daraus gemacht. Er hat also an der Wissenschaft das schwerste Verbrechen begangen, dessen sich ein Forscher schuldig machen kann. - Den Beweis für die Richtigkeit meiner Anklage bringe ich durch die demnächst im Buchhandel erscheinende illustrierte Broschüre: "Unkenntnis oder Fälschung? Haeckels neueste Embryonenbilder."

Die hier angekündigte Broschüre erschien bald danauch unter dem Titel: "Das Affenproblem. Professor Ernst Haeckels neueste gefälschte Embryonenbilder."

Ich habe wohl alles gelesen, was bisher gegen Haeckel geschrieben worden ist, und ich bin an manches starke Stück gewöhnt. Aber noch nie hat ein Pamphlet mir einen so starken Ekel verursacht, wie die Broschüre von Braß. Es war die Art und Weise, in der Braß seine Kritik frisiert hatte, die auf mich wirkte wie ein Vomitiv. Ich bin mehrfach aufgefordert worden, etwas dagegen zu tun. Ich war nicht imstande dazu. Mein Ekel war zu stark. Lieber noch wäre ich in schmutziges Bad gestiegen! Braß hatte selbst noch seinen Bruder in Christo Eberhard Dennert übertroffen, und das will viel heißen.

P>Indessen - die Sache ging ihren Gang. Kaum jemand, außer den Keplerbrüdern, hatte sich um die Braß-Broschüre gekümmert - da erschien in der Münchener "Allgemeinen Zeitung" (Nr. 38 vom 19. Dezember 1908) folgende Notiz:

H a e c k e l s   E m b r y o n e n b i l d e r .    Im Sommer erregten Erklärungen hin und her zwischen H a e c k e l    und dem Zoologen Dr. B r a ß    lebhaftes Aufsehen. Dieser hatte Andeutungen darüber gemacht, daß Haeckel Bilder von Affenembryonen zurechtgestutzt habe; dies bezeichnete Haeckel als " d r e i s t e   E r f i n d u n g "   , worauf Braß seine Anschuldigungen noch schärfer formulierte. - Nunmehr hat Dr. Braß das Material, auf welches er sich bei seinem Vorwurf stützte, in einer Schrift veröffentlicht, welche den Titel hat "Das Affenproblem. Professor Ernst Haeckels neueste g e f ä l s c h t e    Embryonenbilder".

Mit Wort und Bild sucht Braß hier seine außerordentlich schweren Anschuldigungen zu beweisen. Abgesehen von sonstigen Entstellungen an den Embryonenbildern in Haeckels jüngster Schrift "Das Menschenproblem", soll Haeckel vor allem Embryonenbilder des ungeschwänzten Gibbon zurechtgestutzt haben u. a. m. Mit Widerstreben folgt man diesen schweren Vorwürfen; denn sie vernichten nicht nur das Forscheransehen und die Ehre eines bisher trotz mancher Entgleisungen in weiten Kreisen hochangesehenen Mannes, sondern sie würden auch geradezu einen Schandfleck der deutschen Wissenschaft aufdecken. Leider aber kann sich des Endrucks nicht erwehren, daß Dr. Braß recht hat, seine den Originalen entnommenen Bilder sprechen eine zu deutliche Sprache. Und vor allem: weshalb führt Haeckel niemals die Quellen für seine Bilder an? Ein von Braß erläutertes Beispiel muß auch jeden Laien stutzig machen: einen Menschenembryo nach His hat Haeckel mit - 44 statt 33 Wirbeln ausgestattet! An dieser Tatsache läßt sich schon jetzt nichts ändern, wird es also mit den übrigen Bildern besser stehen? Nach dieser eklatanten Probe erscheint es zweifelhaft.

Wir wollen uns zunächst eines endgültigen Urteils in dieser Aufsehen erregenden Angelegenheit enthalten; denn jetzt haben zunächst die deutschen Embryologen das Wort, sie m ü s s e n    sich unbedingt dazu äußern. Dann aber muß man vor allem abwarten, was Haeckel selbst dazu zu sagen hat. Wir wünschen dringend, um seiner und der deutschen Wissenschaft Ehre willen, daß er nicht wieder lediglich mit "bewußter, dreister Unwahrheit" antwortet, sondern daß er sachlich und eingehend darlegt, auf welche Weise jene Bilder zustande gekommen sind, wo sich die Originalpräparate befinden usw. - Jede andere Antwort Haeckels, selbst eine gerichtliche Klage, würde das deutsche Volk nicht verstehen können. Wir warten also zunächst ab, wie sich Haeckel selbst verhält.

Prof. Dr. X.

Mit viel Behagen und Behendigkeit verbreitete die Keplerbundpresse diese Notiz, die von der "M. A. Ztg." als Reklamekorrespondenz verschickt worden war. Haeckel ließ sich bewegen, an die "Berliner Volkszeitung" eine Antwort zu schicken. Sie erschient dort in Nr. 607 vom 29. Dezember 1908 unter der Überschrift:

F ä l s c h u n g e n   d e r   W i s s e n s c h a f t   

J e n a   , 24. Dezember 1908.

Durch zahlreiche Zuschriften aus den verschiedensten Bildungekreisen, sowie durch viele irrtümliche Mitteilungen aus Zeitungen der letzten Wochen, bin ich zu nachstehender Erklärung gezwungen. Sie betrifft in erster Linie den modernen Kampf zwischen Monistenbund und Keplerbund, in zweiter Linie die maßlosen Angriffe, welche der letztere neuerdings gegen mich, als den Ehrenpräsidenten des ersteren gerichtet hat, und in dritter Linie die Frage der Fragen, das "Menschenproblem".

Z i e l e   d e s   M o n i s t e n b u n d e s .    Als vor drei Jahren in Jena der Monistenbund gegründet wurde, stellte er sich zur Aufgabe die Förderung und Verbreitung einer e i n h e i t l i c h e n   W e l t a n s c h a u u n g   , welche als ihr sicheres Fundament lediglich die erfahrungsgemäßen, auf Beobachtung und Versuch gestützten Ergebnisse der modernen Naturforschung gelten läßt. Sie lehnt vollständig jede sogenannte "Offenbarung" ab, jeden Glauben an "Wunder" und übernatürlichen Geisterspuk. Ihr wichtigster moderner Fortschritt ist der Sieg des E n t w i c k e l u n g s g e d a n k e n s   , und namentlich der von D a r w i n    reformierten Abstammungslehre oder Deszendenztheorie; ihr bedeutungsvollster Folgeschluß bleibt die Anwendung derselben auf den Menschen, die Erkenntnis, daß auch der Mensch, gleich allen anderen Säugetieren, sich aus einer langen Ahnenreihe von niederen Wirbeltieren stufenweise entwickelt hat. Damit war nicht nur die "Frage aller Fragen" gelöst, sondern auch das alte Dogma von der "Unsterblichkeit" der persönlichen Seele widerlegt, sowie der weitverbreitete Glaube, daß ein persönlicher (menschenähnlich gedachter) Gott als "Schöpfer" alle einzelnen Dinge fabriziert habe und sie als "Vorsehung" leite.

Diese Grundgedanken des " M o n i s m u s "   , die ich zuerst 1866 in meiner "Generellen Morphologie" eingehend zusammengefaßt hatte, haben später (1899) ihre ausgedehnte Anwendung auf das Gesamtgebiet der Philosophie in meinem Buche über die Welträtsel gefunden. Sei sind jetzt von der großen Mehrzahl der Naturforscher schon angenommen und finden ihre Fortbildung in zahlreichen Zeitschriften, so namentlich in dem Berliner "Monismus", Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik (Dr. H .   K o e r b e r   ), in der Stuttgarter Monatsschrift "Neue Weltanschauung" (Dr. W .   B r e i t e n b a c h   ) und in der Zeitschrift für den Ausbau der Entwickelungslehre ( K o s m o s   , Gesellschaft der Naturfreunde, Stuttgart).

Z i e l e   d e s   K e p l e r b u n d e s .    Naturgemäß stieß unsere monistische Naturphilosophie von Anfang an auf den heftigsten Widerstand der herrschenden christlichen Theologie und der mit ihr verbündeten dualistischen Schulphilosophie. Denn die alten Glaubenslehren des Christentums, die bisher als die festen Grundlagen des Kulturlebens gegolten haben, verloren dadurch jede wissenschaftliche Geltung. Zu ihrer Rettung wurde vor einem Jahre in Frankfurt a. M. der sogenannte "Keplerbund" gegründet. Er setzte sich als Ziel die bedingungslose Anerkennung der übernatürlichen "Offenbarung" und des Wunders, des persönlichen Gottes und seines Ebenbildes, der unsterblichen Seele. Er stellte sich ferner die unlösbare Aufgabe, die Ergebnisse der modernen monistischen Naturerkenntnis mit den traditionellen dualistischen Glaubenslehren des Christentums zu versöhnen - das heißt bei Licht betrachtet, die Unterwerfung der ersteren unter die letzteren durchzuführen. Alle konservativen und orthodoxen Kreise schenkten ihm ihre einflußreiche Unterstützung; insbesondere die reaktionären, ganz vom Geiste des Klerikalismus beherrschten Unterrichtsministerien von Preußen und Bayern. Mit reichen Mitteln ausgestattet begann nun ein Feldzug gegen den Monistenbund, wobei massenhafte Verteilung von Flugschriften und Abhaltung von populär-wissenschaftlichen Vorträgen durch Wanderredner eien ausgedehnte und nicht zu unterschätzende Wirksamkeit ausübten.

Der tätigste und unverfrorendste Wanderredner des Keplerbundes ist gegenwärtig D r .   A r n o l d   B r a ß   , ein entgleister älterer Zoologe, der sich seit dreißig Jahren vergeblich bemüht hat, eine akademische Stellung zu gewinnen und der jetzt sein Ziel leichter und besser zu erreichen sucht durch Reden und Schriften gegen die Deszendenztheorie, und besonders gegen deren meistgehaßten Folgeschluß, die "Abstammung des Menschen vom Affen". Dabei hütet er sich wohl, auf die unwiderleglichen Beweise für letztere einzugehen, welche uns die Paläontologie und vergleichende Anatomie an die Hand gibt; um so ausgiebiger benutzt er die ihm wohlbekannten Tatsachen der vergleichenden Ontogenie (oder Embryologie), um durch jesuitische Entstellung und willkürliche Verdrehung derselben ihre Wertlosigkeit für den Darwinismus darzutun. Als der passendste Weg dazu erscheint ihm aber eine Reihe der heftigsten Angriffe gegen meine Person und meine Schriften. Schon vor zwei Jahren veröffentlichte Braß eine Broschüre: "Ernst Haeckel als Biologie und die Wahrheit". (96 Seiten); darin wird die natürliche Schöpfungsgeschichte der schärfsten Kritik unterworfen, ihre Stammbäume werden als wertlose Hypothesen verworfen, die biogenetische Grundgesetz wird als drolliger Einfall lächerlich gemacht und die Gasträatheorie "ein Zeugnis für Unkenntnis physiologischer Grundanschauungen" genannt. Ich habe auf dieses boshafte Pamphlet, wie auf viele ähnliche Schmähschriften, nicht geantwortet.

Am 10. April dieses Jahres hielt Dr. B r a ß    in einer Versammlung der christlich-sozialen Partei in Berlin einen Vortrag über das Thema: "Der Mensch in der Urzeit", in welchem er die Lehre der Abstammung des Menschen vom Affen energisch bekämpfte und die Embryonenbilder, die ich zu deren Begründung vergleichend nebeneinandergestellt hatte, als "wissenschaftliche Fälschungen" brandmarkte. Er behauptete, ich habe dem Affenembryo einen menschlichen Kopf aufgesetzt und umgekehrt; er könne "hier aus allergenauester persönlicher Kenntnis sprechen, da er die richtigen Zeichnungen seinerzeit selbst für Haeckel hergestellt habe". Die unglaubliche Frechheit, mit der Braß diese und andere a u s   d e r   L u f t   g e g r i f f e n e n   B a u h a u p t u n g e n    verbreitete, zwang mich zu einer öffentlichen Entgegnung, in der ich sie als d r e i s t e   E r f i n d u n g e n    bezeichnete und hinzufügte: "Ich habe überhaupt zu diesem Vorstande des sogenannten Keplerbundes g a r   k e i n e   B e z i e h u n g e n , - ausgenommen, daß derselbe vor einigen Jahren mich aufforderte, ihn bei einem Vortrage, den er in Weimar über Goethes Farbenlehre hielt, zu unterstützen." (Vergleiche hierzu die Mitteilungen von Dr. W .   B r e i t e n b a c h    in seiner Zeitschrift: "Neue Weltanschauung".)

D a s   A f f e n p r o b l e m .    Statt sein Unrecht einzugestehen und die boshaften, gegen mich geschleuderten Verleumdungen zu widerrufen, veröffentlichte B r a ß    vor einigen Wochen gegen mich eine neue Schmähschrift unter dem Titel: "Das Affenproblem; Professor Haeckels neuestes gefälschte Embryonenbilder" (mit 40 Abbildungen, Biologischer Verlag, Leipzig). Die angeblichen Fälschungen befinden sich auf einigen Tafeln, die ich teils 1905 in meinen Berliner Vorträgen über "den Kampf um den Entwickelungsgedanken", teils 1907 in meinem Vortrage über "das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné" veröffentlicht hatte. Wohlgemerkt sind dies Darstellungen, welche dazu dienen sollen, längst bekannte Tatsachen einem größeren Bildungskreise zugänglich zu machen. B r a ß    hingegen sucht seine Leser glauben zu machen, djaß es sich um neue "Erfindungen" handelt, durch welche ich dem Publikum falsche Tatsachen vorspiegeln wolle. Dieses jämmerliche Pamphlet, 42 Seiten stark, ist so voll von falschen Angaben, absichtlichen Entstellungen meiner Schriften, heuchlerischen Versicherungen seiner Wahrheitsliebe und hämischen Angriffen auf meine Person, daß es einer zehnmal so starken Broschüre (von mindestens 400 Seiten) bedürfen würde, um sie in ein wahres Licht zu stellen.

P r o f e s s o r   T a r t ü f f e .    Auch gegenüber diesen, wie vielen ähnlichen Angriffen, würde ich mein Schweigen bewahrt haben, wenn nicht vor acht Tagen ein Zwischenfall eingetreten wäre, der mich zu einer kurzen Antwort geradezu zwingt. In Nr. 38 der "Münchener Allgemeinen Zeitung" (vom 19. Dezember) - Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik - erscheint eine a n o n y m e    Mitteilung über " H a e c k e l s   E m b r y o n e n b i l d e r "    (S. 823). Die perfiden Ausführungen dieses Artikels, die sofort in viele deutsche und auswärtige Zeitungen übergegangen sind, erschienen dazu bestimmt: "nicht nur das Forscheransehen und die Ehre eines bisher in weiten Kresien hochangesehenen Mannes zu vernichten, sondern auch geradezu einen S c h a n d f l e c k   d e r   d e u t s c h e n   W i s s e n s c h a f t    aufzudecken". Der anonyme Verfasser dieses Artikels, der nicht den moralischen Mut hat, seine schweren, mich "vernichtenden" Beschuldigungen mit seinem Namen zu decken, unterzeichnet sich Professor Dr. X. Ich bezeichne ihn im folgenden kurz als Professor T a r t ü f f e   , dem heuchlerischen Charakter seiner Mitteilung gemäß. Was meine "moralische und wissenschaftliche V e r n i c h t u n g   " betrifft, so kann ich ihn damit beruhigen, daß diese bereits längst vollzogen ist; seit mehr als dreißig Jahren lese ich in frommen und Gott wohlgefälligen Zeitschriften, daß ich "wissenschaftlich tot und gerichtet bin"; das Nähere darüber findet er unter anderem bei Professor E b e r h a r d   D e n n e r t   , dem geistigen Haupte des " K e p l e r b u n d e s "    und dem Kollegen von Dr. B r a ß   , der gleich diesem "immer die reine Wahrheit" redet. D e n n e r t    spricht ja uach beständig vom Tode des Darwinismus und hat eine besondere Darstellung von dessen "Sterbelager" gegeben. Merkwürdig nur, daß die ganze moderne Literatur der Biologie vom schleichenden Gifte dieser Entwickelungslehre durchdrungen ist!

" D i e   g e f ä l s c h t e n   E m b r y o n e n b i l d e r . "    Um dem ganzen wüsten Streite kurzerhand ein Ende zu machen, will ich nur gleich mit dem reumütigen Geständnis beginnen, daß eine kleiner Teil meiner zahlreichen Embryonenbilder (vielleicht 6 oder 8 vom Hundert) wirklich (im Sinne von Dr. Braß) " g e f ä l s c h t "    sind - alle jene nämlich, bei denen das vorliegende Beobachtungsmaterial so unvollständig oder ungenügend ist, daß man bei Herstellung einer zusammenhängenden Entwickelungskette g e z w u n g e n    wird, die Lücken durch H y p o t h e s e n    auszufüllen, und durch v e r g l e i c h e n d e   S y n t h e s e    die fehlenden Glieder zu rekonstruieren. Welche Schwierigkeiten diese Aufgabe hat, und wie leicht der Zeichner dabei fehlgreift, kann nur der Embryologe vom Fach beurteilen. Professor T a r t ü f f e    verlangt daher mit einem Schein von Recht: "Jetzt haben zunächst die deutschen Embryologen das Wort, sie müssen sich unbedingt dazu äußern. - Dann aber muß man vor allem dringend wünschen, daß Haeckel selbst eingehend und sachlich darlegt, auf welche Weise jene Bilder zustande gekommen sind, wo sich die Originalpräparate befinden usw. Jede andere Antwort Haeckels, selbst eine gerichtliche Klage, würde das deutsche Volk nicht verstehen können!" - Eine köstliche Idee, das d e u t s c h e   V o l k    - oder selbst ein auserlesenes Kollegium von scharfsinnigen J u r i s t e n   ! - als Richter über den Wert von Embryonenbildern zu setzen, zu deren Verständnis und Beurteilung ein mehrjähriges schwieriges Studium der vergleichenden Anatomie und Embryologie gehört. Und wer unsere "deutschen Embryologen" kennt, mit ihren weit auseinander gehenden Zielen und Methoden, ihren widersprechenden allgemeinen Ansichten und Vorurteilen, der wird von vornherein von ihnen kein übereinstimmendes Urteil in dieser hochpeinlichen Gerichtsverhandlung erwarten können.

Exakte und schematische Bilder. Nun würde ich nach diesem belastenden Eingeständnis der " F ä l s c h u n g "    mich für "gerichtet und vernichtet" halten müssen, wenn ich nicht den Trost hätte, neben mir auf der Anklagebank H u n d e r t e   v o n   M i t s c h u l d i g e n    zu sehen, darunter viele der zuverlässigksten Beobachter und der angesehendsten Biologen. Die große Mehrzahl nämlich von allen morphologischen, anatomischen, histologien und von embryologischen Figuren, welche in den besten Lehrbüchern und Handbüchern, in biologischen Abhandlungen und Zeitschriften allgemein verbreitet und geschätzt sind, verdienen von Vorwurf der "Fälschung" in gleichem Maße. Sie alle sind n i c h t   e x a k t   , sondern mehr oder weniger "zurechtgestutzt", schematisch oder "konstruiert". Vieles unwesentliche Beiwerk ist weggelassen, um das W e s e n t l i c h e    in der Gestalt und Organisation klar hervortreten zu lassen.

A n t h r o p o g e n i e   . Im Jahre 1874 habe ich unter dem Titel "Anthropogenie" den ersten Versuch gewagt, die bedeutungsvolle Entwickelungsgeschichte des Menschen in gemeinverständlichen wissenschaftlichen Vorträgen weiteren Bildungskreisen zugänglich zu machen. Dreißig Jahre später erschient dann die fünfte umgearbeitete Auflage in zwei Bänden (I. Band Keimesgeschichte, II. Band Stammesgeschichte), 1020 Seiten Text, mit 30 Tafeln, 500 Textfiguren und 60 genetischen Tabellen). Dieses mühsam konstruierte und unter großen Schwierigkeiten durchgeführte Werk ist der erste (und bisher einzige) Versuch, die Stammesgeschichte des Menschen durch seine Keimesgeschichte zu erklären (- und umgekehrt! -), das biogenetische Grundgesetz auf alle Organsysteme unseres Körpers anzuwenden, und unter kritischer Benutzung der drei großen "Schöpfungsurkunden" (Paläontologie, vergleichende Anatomie und Ontogenie) die "Frage aller Fragen" zu lösen. Schon damals (1874) erhob der Leipziger Anatom W i l h e l m   H i s    (ein ausgezeichneter Beobachter und exakter Zeichner, aber höchst beschränkter Denker) gegen mich dieselben Vorwürfe, wie jetzt sein Genosse B r a ß   . In dem "Apologetischen Schlußwort" zur vierten Auflage der Anthropogenie (S. 857-864) habe ich 1891 jene schweren Anschuldigungen von H i s   , die ein weites Echo fanden, kritisch beleuchtet und widerlegt. Es ist sehr bezeichnend für den Charakter von Dr. A r n o l d   B r a ß   , daß er in seinen beiden Schmähschriften darüber schweigt und die grundlegende Anthropogenie überhaupt beiseite schiebt, während er die beiden unbedeutenden, oben angeführten Vorträge zur Zielscheibe seiner gemeinen und unehrlichen Angriffe macht.

D e r   F ä l s c h e r b u n d   . Die vergifteten Pfeile, welche der fromme Keplerbund (- von "christlicher Bruderliebe" überfließend -) gegen mich abschießt, und von denen wahrscheinlich sein Häuptling, Dr. B r a ß   , noch einen großen Vorrat im Köcher hat, fliegen auf ihn selbst zurück. Ihn deshalb vor Gericht zu ziehen, wie viele Freunde und Anhänger von mir wünschen, darauf verzichte ich. Mögen die Herren R e i n k e   , D e n n e r t   , B r a ß   &   C o .    fortfahren, mich auch fernerhin zu verleumden und zu verdächtigen; auch gönne ich ihr Vergnügen den zahlreichen Theologen und Metaphysikern, Lizentianten und Pfarrern, welche daraus dankbaren Stoff für ihre Predigten und apologetischen Vorträge entnehmen. Ihr Bemühen, die Dogmen des jüdisch-christlichen Religionsgebäudes zur bleibenden Grundlage der von ihnen erstrebten dualistischen Weltanschauung zu gestalten und mit den empirischen Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft zu verschmelzen, ist selbst der großartigste F ä l s c h u n g s   versuch. In diesem Sinne kann der einflußreiche "Keplerbund" auch als der " n a t u r p h i l o s o p h i s c h e   F ä l s c h e r b u n d "    bezeichneet werden. Ich selbst stehe seinen fortgesetzten haßerfüllten Angriffen mit völligem Gleichmut gegenüber und werde deshalb keine gerichtliche Klage anstrengen. Indem ich jetzt mein 75. Lebensjahr vollende und mein zoologisches, seit 48 Lebensjahren innegehabtes Lehramt niederlege, scheide ich vom öffentlichen Leben der Wissenschaft mit dem Bewußtsein, meine Kräfte in langer und harter Lebensarbeit - unter großen Opfern - dem Dienste der W a h r h e i t    erfolgreich gewidmet zu haben. -

H a e c k e l   g e s t e h t   d i e   F ä l s c h u n g e n   e i n   , jubilierten alsbald die Keplerbundblätter. So das " R e i c h "    vom 6. Januar 1909: Haeckel gesteht - "reumütig" sagt er voller Hohn - die Fälschungen von ca. 6-8 vom Hundert seiner Embryobilder, so wie es Braß gemeint hat, d. h. also, Haeckel hat in der Tat, wo das Beobachtungsmaterial nicht ausreichte, die Bilder anderer Forscher willkürlich geändert.

Daß so etwas im Bereich deutscher Wissenschaft geschehen kann und auch noch voller Hohn eingestanden wird, ist geradezu niederschmetternd.

Wir begnügen uns heute damit, diesen Tatbestand festzustellen: H a e c k e l   i s t   g e r i c h t e t   -   e n d g ü l t i g   g e r i c h t e t .   W e r   i h n   j e t z t   n o c h   r e t t e n   w i l l ,   m a c h t   s i c h   z u m   M i t s c h u l d i g e n .    Dr. Braß aber gebührt der Dank des deutschen Volkes, daß er dieses Treiben an das Licht gezogen hat.

Sodann der papierene Anachronismus unserer Zeit, der " R e i c h s b o t e "    (31. Dezember 1908), der bei dieser Gelegenheit seine vorsintflutliche Weisheit folgendermaßen auskramt:

Haeckels Antwort auf die Kritik von Dr. Anold Braß an seiner Hypothesenwissenschaft mit gefälschten Embryonenbildern, die er seinen Beweisen zugrunde legte, ist am rechten Platz erschienen - in der atheistischen, radikal-demokratischen "Berliner Volkszeitung". In der Einleitung rühmt er sich schon, in seiner "Generellen Morphologie", 1866, die Grundgedanken des Monismus zusammengefaßt und sie 1899 in seinen "Welträtseln" auf das gesamte Gebiet der Philosophie angewendet zu haben. Der Kern dieser Grundgedanken ist der Entwickelungsgedanke und die Deszendenztheorie - beides Hypothesen über die Entstehung der Welt aus sich selbst von der sogenannten Urzelle, aus der sich alles, Sonne, Mond und Sterne, Pflanzen, Steine, Tier und Mensch entwickelt haben soll - welcher Prozeß aber in eine um Millionen Jahre hinter uns liegende Zeit verlegt wird, wo ihn niemand kontrollieren kann. Alle Erfahrung bestätigt, daß die Naturgesetze und ihre Wirkungen sich gleich bleiben, so daß wir, wenn es nicht so wäre, auch heute noch sehen müßten, wie Affen ihren Entwickelungsgang zum Menschen abschließen, was aber nicht der Fall ist und nie gewesen ist, wie denn überhaupt von der Verwandlungsentwickelung in der Natur nichts zu sehen ist: alle Tiere und Pflanzen waren, wie die Geschichte lehrt, vor Jahrtausenden genau so wie sie heute sind, abgesehen von besonders großen vorsintflutlichen Tieren, die unter anderer Temperatur lebten und längst ausgestorben sind und für die Entwickelungstheorie ebensowenig beweisen, wie unsere jetzige Tierwelt. Alles ist bei den Monisten Hypothese, entstanden aus dem eigenwilligen Vorsatz, die Welt mit ihrer unendlichen Weisheit aus sich selbst ohne schöpferische Intelligenz, ohne Gott, zu erklären, um den Gottesglauben und die Wunder los zu werden - als wäre die Entstehung der Welt aus der Zusammenwürfelung der vernunftlosen Materie zu der unendlich weisheitsvollen Kompliziertheit der Naturgesetze nicht ein viel größeres Wunder als die Schöpfung durch den allweisen und allmächtigen Gott. Das Wunder der Gottesschöpfung ist für unser menschliches Denken erfahrungsmäßig begreiflich; das verstehen wir, daß eine große Intelligenz etwas Weises, wie eine Maschine, schaffen kann, aber daß aus den toten, geistlosen Urstoffen eine weisheitsvolle Welt entstehen kann, das vermag kein vernünftiger Mensch zu begreifen. Das widerstrebt aller Vernunft und allem Verstande. Das ist Blödsinn, aber keine Wissenschaft, wenn man es auch hundertmal so nennt und es in kindischem Hochmut der christlichen Weltanschauung entgegenstellt und dem armen Volke als Resultat der modernen Wissenschaft anpreist. Nachdem Herr Haeckel in seiner bekannten Oberflächlichkeit seine monistisch-materialistischen Phrasen breit ausgekramt hat, kommt er endlich auf die Vorwürfe von den gefälschten Embryonenbildern zu sprechen - und muß sie zugestehen, wenn er auch das für ihn so peinliche Zugeständnis in eine Wolke von Phrasen einhüllt. -

In Tausenden von Zeitungen und Wochenblättern wurde das Kapaitel "Ernst Haeckel als Fälscher", "Ernst Haeckel gesteht seine Fälschungen ein" mit fettem Behagen abgehandelt. Daß dabei mancherlei Gewürz hinzukam, liegt in der Natur der Systems. Der Keplerbund selbst sorgte in reklamehaft hergestellten Korrespondenzen für die Verbreitung der Sensationsnachricht: Ernst Haeckel ist tot. Dennert hat 1000 geschlagen, Braß aber 10000. Es lebe der Retter des Christentums, der Erzengel Arnold, der uns von dem greulichen Drachen Haeckel befreit, "endgültig" befreit hat.

Zwei Spezimens seien als letzte Ausläufer hier wiedergegeben. In den "Sabbathklängen", Wochenblatt für jedermann, heißt es in biblischer Einfalt:

An der Universität in Jena ist ein Professor, der Ernst Haeckel heißt, ein Greis von 75 Jahren. Er ist ein Vorkämpfer und eine Säule jenes Unglaubens, der sich so gerne der Naturwissenschaft als Deckmantel bedient, und dessen ganzes Streben darauf gerichtet ist, alles das, was die Heilige Schrift über die Entstehung der Welt und über die Erschaffung des Menschen sagt, als unrichtig nachzuweisen. Dafür ist Haeckel von allen, die gern solche Lehren haben, weil ihnen "die Ohren danach jucken" (2. Tim. 4,2) hochgepriesen worden. Er hat es auch in der Welt weit gebracht, er ist Geheimrat und hat den Titel "Excellenz". Diesem alten Manne ist nun klar nachgewiesen worden, daß er Bildertafeln, aus denen die Entwickelung der Lebewesen ersichtlich gemacht werden sollte, einfach so gefälscht hat, wie sie ihm in seinen Kram, d. h. in seine Theorie des Unglaubens paßten, hat dann aber natürlich getan, als wenn die Bilder richtig wären und auf gründlicher wissenschaftlicher Forschung beruhten. Darüber hat man ihn jetzt ertappt. Wie verblendet doch der gott dieser Welt der Ungläubigen Sinn (2. Kor. 4,4) - der Mann steht am Ende seines Lebens. Vielleicht trennt ihn nur noch eine ganz kurze Spanne Zeit von der Ewigkeit. Welch ein Erwachen wird es geben, wenn er so dahingeht! -

Daß einem Ernst Haeckel vor diesem Erwachen nicht im mindestens bange ist, ist so wahr, daß sich viele, auch so sehr viele "Christen" an ihm ein Vorbild nehmen könnten, die dem Ende ihres Lebens nur mit Zittern und Zagen entgegen gehen.Sie wissen wohl warum. -

Damit der Humor nicht fehlt, sei hier auch noch der Leitartikel des "Bayrischen Vaterland" vom 21. Januar 1909 mitgeteilt:

Nun ist auch der l e t z t e    Pionier auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Veraffung des Menschen, namlich P r o f e s s o r   H a e c k e l ,   m o r a l i s c h   z u   d e n   T o t e n   g e l e g t .    Denn seine Bilderfälschung wischt der Mann nicht mehr ab. Aber, aber man muß befürchten, daß t r o t z d e m    der ganze darwinistische Affenwahnsinn jetzt durch massenhafte Broschürenagitation unter das V o l k    geworfen wird. Es ist nämlich etwas Eigentümliches um das "Volk". Dieses hat die verfluchte Gewohnheit, Moden, welche die sogenannten besseren Stände a b g e l e g t    haben, noch eine Zeitlang erst recht weiter zu tragen.

Das ist so bei der K l e i d e r m o d e   . Man schaue sich nur jetzt unsere B a u e r n b u r s c h e n    an. Die kilometerlangen, abscheulichen Halskrägen, welche die Modegigerl schon längst abgelegt haben, verunzieren jetzt die Hälse unserer Bauernknechte. A r b e i t e r   , und zwar intelligente Arbeiter, sieht man an Sonntagen einherstolzieren in der Mode, die vor zwei Jahren im Schwunge war. Kein einigermaßen auf seine Kleiderreputation etwas Haltender wird mehr einen sogenannten Havelock tragen. Dafür tragen ihn jetzt die Bauernburschen und bilden sich Gott Wunder was darauf ein.

Leider erstreckt sich dieser saudumme Trieb, die antiquierte Mode nachzuäffen, auch auf die Moden des G e i s t e s   . Das gilt leider auch vom D a r w i n i s m u s   . Der sickert jetzt, nachdem er wissenschaftlich gerichtet ist, in das einfache Volk herab, und wird dort als wahres neues Evangelium bestaunt und an den Biertischen eifrig besprochen und leider auch vielfach g e g l a u b t   . Es ist das ein sehr trauriges Beispiel der Nachäffungssucht der sogenannten niederen Volksstände gegenüber den - sagen wir das abgedroschene Wort - sogenannten b e s s e r e n    Ständen. Dagegen läßt sich nun weiter nichts tun, als an der Hand der gesicherten Resultate der Wissenschaft einfach in der Schule, in der Katechese, in der Christenlehre und in Versammlungen sowohl wie in der Prese aufklärend zu wirken. Sonst aber muß man zusehen, wie das "Volk" diese Modetorheit mit der Zeit wie a l l e   a n d e r e n    Modenachäffungen von selbst wieder a u s s c h w i t z t   . Ja, mich würde es nicht wundern, wenn mit der Zeit der Unsinn des M o n i s m u s    auch noch unter das Volk dringen würde.

Es handelt sich bei allen diesen geistigen Modetorheiten um g e i s t i g e   M a s s e n e p i d e m i e n   , ähnlich wie die geistige Epidemie des H e x e n w a h n s i n n s   , welcher ja auch alle Gesellschaftsschichten ergriffen hatte. Damals äußerten sich solche geistige Epidemien freilich im rohen Charakter der damaligen Zeit. Heutzutage hat sich alles äußerlich verfeinert, und das zeigt sich auch bei den modernen Massengeisteskrankheiten, von welchen der D a r w i n i s m u s    lange die akuteste war. Jetzt scheint diese Seuche, welche ihren Sitz in der grauen Hirnsubstanz hat, wenigstens beim I n t e l l i g e n z m o b    vom M o n i s m u s    nach und nach abgelöst zu werden. Wenn man über den Darwinismus ruhig nachdenkt, so muß man sich wirklich an die Stirne greifen, und sich fragen: Wie ist denn so etwas eigentlich möglich? Die einfachsten Gesetze der Zellenlehre sagen uns, daß biologisch der F i s c h    und die E i d e c h s e    gerade so gut biologische Stammesverwandte des Menschen genannte werden können, wie der Affe. Der g r o ß e   h l .   T h o m a s    hat, was an der modernen Biologie richtig ist, schon lange ausgedrückt, indem er sagte, daß allen lebenden Wesen d i e   S p u r   G o t t e s    eingedrückt sei, und daß alles von Gott nach e i n e m    einheitlichen Plane erschaffen worden sei. Diese theologische Binsenwahrheit kann die moderne Biologie und die moderne Entwickelungslehre höchstens n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h   a u s b a u e n   u n d   e r l ä u t e r n   , aber daraus den Schluß ziehen, daß der Mensch keine Ausnahmestellung unter den anderen animalischen Lebewesen einnimmt, das ist doch ein ganz horrender Faustschlag auf alle Erfahrungswissenschaften wie Geschichte und Geographie.

Man vergleiche doch nicht immer mit todlangweiliger Einseitigkeit die k ö r p e r l i c h e n   B e r ü h r u n g s p u n k t e    zwischen Gorilla und Mensch. Man gehe doch tiefer und vergleiche auch die Biologie und die Entwickelungstheorie des G e i s t e s    bei beiden. Und da wird man doch auf ein ganz e n t s e t z l i c h e s   S t a g n a t i o n s g e s e t z    beim Gorilla und bei allen anderen Affenarten stoßen, was allein schon den ganzen praktischen U n w e r t    der Affenapostel und ihrer Sysiphusarbeit glatt beweist. Alle diese Leute müssen sich sagen, daß sie umsonst gearbeitet haben, und eine spätere Kulturgeschichte wird sie bedauern und kopfschüttelnd, wie wir jetzt, über den Hexenwahn die Tatsache dieser Geistesverirrung registrierene. Ein Haeckel wird einer späteren Zeit höchstens vorkommen wie uns die Alchymisten des Mittelalters, rabiate Querköpfe, die ihre Zeit vertrödelten, um rotes Gold zu machen und dabei gelehrte Hanswurste blieben. Genau so wird es einmal "Altmeister" Haeckel ergehen.

Die "Lustigen Blätter" geben als Kommentar hierzu einen Satz der ersten Vorrede der Natürlichen Schöpfungsgeschichte Haeckels vom Jahre 1868 wieder: "Merkwürdigerweise wehren sich gerade diejenigen Menschen am meisten gegen die Abstammung vom Affen, die sich bezüglich ihrer Gehirnentwickelung am wenigsten vom Affen entfernt haben."

Vielleicht schreibt das "Bayrische Vaterland" auch einmal einen Leitartikel über die geistige Massenepidemie, welche die Geschichte das "Christentum" nennt. -

Indessen rückte auch das K u r a t o r i u m    des K e p l e r b u n d e s    an und erklärte in der " B e r l i n e r   V o l k s z e i t u n g "    vom 12. Januar 1909:

1. Nach § 2 seiner Satzungen steht der Keplerbund auf dem Boden der Freiheit der Wissenschaft und erkennt als einzige Tendenz die Ergründung und den Dienst der Wahrheit an. Er ist dabei der Überzeugung, daß die Wahrheit in sich die Harmonie der naturwissenschaftlichen Tatsachzen mit dem philosophischen Erkennen und der religiösen Erfahrung trägt. Sein Zweck ist die Förderung der Natgurerkenntnis in der Gesamtheit unseres Volkes. Wenn Professor Haeckel die bedingungslose Anerkennung der übernatürlichen Offenbarung usw. als höchstes Ziel des Keplerbundes hinstellt, so ist dies eine irreführende Entstellung.

2. Der Keplerbund steht oder stand weder mit dem preußischen noch mit dem bayrischen Kultusministerium in irgendeiner amtlichen oder außeramtlichen Verbindung und hat von dort keinerlei Unterstützung erfahren. Haeckels entgegengesetze Behauptung ist demnach unwahr. - Auch hat der Keplerbund seine Gegner wie seine Freunde sowohl in liberalen als auch in konservativen Kreisen gefunden. Es ist deswegen unrichtig, wenn Haeckel dem Keplerbund den Stempel einer politischen oder religiösen Richtung aufzuprägen sucht.

2. Haeckel schreibt: "Die vergifteten Pfeile, welche der fromme Keplerbund (- von ´christlicher Bruderliebe´ überfließend -) gegen mich abschießt . . ." Wir verwahrend uns gegen die in diesem Wort liegende, durch nichts begründete Beleidigung, ganz abgesehen davon, daß der Keplerbund als naturwissenschaftlicher Verein überhaupt keine Veranlassung hatte, von christlicher Bruderliebe zu reden, oder gar davon überzufließen. Wenn ein Mitglied des Kuratoriums, Herr Dr. Braß, auf eigene Verantwortung und in einem fremden Verlag eine gegen Haeckel gerichtete Broschüre erscheinen läßt, so gab dies Herrn Professor Haeckel nicht das Recht, den Keplerbund zu beleidigen, und das um so weniger, als die Entgegnung Haeckels eine sachliche Widerlegung der von Braß erhobenen Beschuldigung gänzlich vermissen läßt.

Daß Haeckel aus unseren Grundsätzen die Berechtigung herleitet, den Keplerbund als Fälscherbund zu brandmarken, ist eine Ungeheuerlichkeit. Wir wissen, daß alle gerecht denkenden Kreise unseres Volkes mit uns in der Verurteilung eines solchen Vorgehens einig sind. Etwaige weitere Schritte behalten wir unseren Entschließungen vor.

Das Kuratorium des Keplerbundes:
Fürst O. zu Salm-Horstmar, Warlar bei Coesfeld, Vorsitzender des Kuratoriums. - Geheimer Justizrat Dr. Zorn, Professor der Rechte Bonn, Vorsitzender des Vorstandes.

Die "Volkszeitung" bemerkte dazu sehr treffend:

Wenn der Keplerbund, wie es in der Erklärung heißt, als seine einzige Tendenz die E r g r ü n d u n g    und den Dienst der Wahrheit anerkennt uns ich daher scheinbar lediglich auf den Boden der F r e i h e i t    der Wissenschaft stellt, so befindet er sich mindestens in einer verhängnisvollen Selbsttäuschung. Denn er stellt es von vorherein als ein A x i o m    hin, daß die Wissenschaft sich mit der Religion oder, wie die dem Bunde zugehörigen beamteten T h e o l o g e n    die Religion verstehen, mit dem christlichen Dogmen d u r c h a u s   d e c k e n   . Die w a h r e    Wissenschaft aber ist v o r a u s s e t z u n g s l o s   . Sie forscht u n b e k ü m m e r t    darum, ob durch ihre Feststellungen Risse in das Gebäude des Dogmenglaubens kommen oder nicht; unbekümmert darum, ob sich daraus die " H a r m o n i e "    der Wissenschaftsergebnisse und der dogmatischen Lehrmeinungen ergibt oder nicht. Bei allem Anschein, der Wissenschaft dienen zu wollen, den der Keplerbund schon durch die Wahl seines Namens zu erwecken sucht, steht er demnach der echten Wissenschaft, wie sie von Haeckel und allen anderen modernen, durch kirchliche, konfessionelle oder dogmatische Traditionen nicht beengten Forschern verstanden wird, i n n e r l i c h   f e r n   . Wem es um die Wissenschaft a n   s i c h   , nicht aber um den seit Jahrhunderten vergeblich unternommenen Versuch der unlösbaren "Versöhnung" zwischen Wissenschaft und Dogma zu tun ist, der wird sich nicht irreführen lassen, durch die Sirenengesänge des Keplerbundes, dem - bezeichnent genug - die ganze reaktionäre und orthodoxe Presse freudig ihre Unterstützung leiht. Sie weiß, warum!

Inzwischen war die "Korrespondenz des Keplerbundes zur Förderung der Naturerkenntnis" nicht müßig geblieben. In ihrer Nr. 5 vom 10 Januar 1909 schreibt sie voll sittlicher Entrüstung in Fettschrift:

Ein Skandalstück
W i e   u n s e r e   P r e s s e   b e d i e n t   w i r d ,   

Davon legt die gegenwärtig alle Welt bewegende Haeckel-Braß-Affäre lautes Zeugnis ab: Haeckels 280 Zeilen lange, in der "Berliner Volkszeitung" veröffentlichte Antwort wird von den meisten Zeitungen in einem 77 Zeilen langen, in tendenziösester Weise gekürzten Auszug gebracht. In diesem Auszug fehlt die Hauptsache, nämlich das E i n g e s t ä n d n i s   H a e c k e l s   , daß er die "Fälschungen" im Sinne von Braß begangen hat, um die Lücken in der Entwickelung aufzufüllen. (- Dieses "um" ist hier "gefälscht"; cf. Haeckels Erklärung, die einen anderen Sinn ergibt! H. S. -)

Tausende von Lesern, fährt die Korrespondenz fort, werden also auf diese Weise irre geführt und über den Wert der Haeckelchen Wissenschaft getäuscht, bewußterweise durch die den Auszug versendende Stelle, unbewußterweise durch die abdruckenden, im guten Glauben handelnden Zeitungen. Das bloße rein menschliche Gerechtigkeitsgefühl gegen Dr. Braß hätte ein solches skandalöses Verfahren nicht aufkommen lassen sollen.

(Der arme Dr. Braß!)

Es ist nunmehr, betont die Korrespondenz, doppelte Pflicht der gesamten Presse, die Anspruch auf Wahrhaftigkeit macht, die Sachlage richtig darzustellen. -

Schönes Wort, von der Presse, die Anspruch auf Wahrhaftigkeit macht. Man schaut sich um - und lächelt.

Da schreibt z. B. ein Mensch, der sich Isegrimm nennt, und der doch wahrscheinlich auch Anspruch auf Wahrhaftigkeit macht, dem Redakteur des Tageblatt für Thale am Harz, vom 28. Januar 1909:

Sehr geehrter Herr Redakteur!

Sie brachten neulich in Ihrer geschätzten Zeitung ein Bruchstück aus einer Abrechnung des greisen Forschers Haeckel, welche er mit dem unverfrorenen Wanderredner des Keplerbundes, Dr. Arnold Braß, einem entgleisten älteren Zoologen, der sich seit dreißig Jahren vergeblich bemüht hat, eine akademische Stellung zu gewinnen, in der "Berliner Volkszeitung" vorgenommen hat. Das Bruchstück ist genau so weit veröffentlicht, als es geeignet ist, Haeckel bloßzustellen - ein bekannter jesuitischer Trick, der noch immer bei der großen Masse durchgeschlagen hat.

Ihr Gerechtigkeitsgefühl wird, so hoffe ich, mir gestatten, einige weitere Ausführungen aus der Haeckelschen Abrechnung zu veröffentlichen, aus denen sich ergibt (was dem Einsichtigen sofort klar war), daß das Bekenntnis Haeckels "einige Bilder" (8 von 100) nach Dr. Braß "gefälscht" zu haben b l a s s e   I r o n i e    war. -

Was hier Isegrimm für das "Tageblatt für Thale" festnagelt, kann ich nach Einsicht der Keplerbundpresse für diese im ganzen bestätigen; und ich mache auch Anspruch auf Wahrhaftigkeit, nur vermute ich, daß es zwei sehr verschiedene Spezies von Wahrhaftigkeit gibt, cf. die Spezies Dennert, S. 5.

Mitgeteilt sei hier noch, daß Ernst Haeckel die "blasse Ironie" sehr dick mit Blaustift unterstrichen hat.

Die Geschichte interessierte nach und nach immer weitere Kreise. Es äußerten sich auch durchaus beachtenswerte Leute dazu. So schrieb Dr. A d o l f   R e i t z    im " S t u t t g a r t e r   N e u e n   T a g e b l a t t "    vom 28. Januar 1909:

Ein unerquickliches Schauspiel. Der alte, weißbärtige Kämpe, dem die Wissenschaft soviel verdankt, der das lebende Zentrum einer Weltanschauung, des Monismus, ist, zu dem Tausende bildungshungrige Menschen aufschauen, H a e c k e l   , wird des Betrugs bezichtigt. Dr. A .   B r a ß   , ein Zoologe, dessen wissenschaftliche Leistungen in keinem Verhältnis zu Haeckels Forschungsergebnissen stehen, beschuldigt Haeckel, eine Reihe von Abbildungen in der Schrift "Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné" gefälscht zu haben in dem Sinne, daß Haeckel zugunsten seiner Hypothese, der Abstammung des Menschen vom Affen, Embryonenbilder zurechtgestutzt habe, ohne dabei zu erwähnen, daß diese Embryonenbilder keineswegs der Wirklichkeit entsprechen. Gerade die Darstellung der embryonalen Entwickelung, d. h. des Zustandes, in dem das Tier von besonderen Hüllen umgeben, oft noch in besonderen Teilen des mütterlichen Organismus sich befindet, bietet außerordentlich interessante Beziehungen dar zwischen den einzelnen Säugern, dem Menschen inbegriffen, aus denen die Einheit in der Entwickelungsgeschichte der Wirbeltiere und des Menschen deutlich hervorgeht. Bekanntlich ist dies noch kein Beweis dafür, daß der Mensch aus dem Affen hervorging. Denn finden wir weitgehende Ähnlichkeiten der Organgestaltung, so geht daraus nur die e i n h e i t l i c h e   I d e e   i n   d e r   F o r m e n t w i c k l u n g    jener Säugergruppe hervor, nicht mehr. Selbstverständlich eignen sich gerade die embryonalen Zustände sehr gut dazu, weiteren Kreisen die Verwandtschaft von Affe und Mensch, die Hypothese von Abstammung des Menschen vom Affen zu verbildlichen, verständlich zu machen. Nichts ist frappierender, als die Beobachtung, daß die in der späteren Entwickelung vorhandenen Verschiedenheiten in der äußeren Form im Embryo der Wirbeltiere nicht vorhanden sind, daß die Embryonen von Affe und Mensch in gewissen Stadien kaum voneinander zu unterschieden werden können. Haeckel hat diese embryonale Entwickelung in einem Vortrag, dem die oben genannte Schrift zugrunde lag, auch erwähnt. Hätte nun Haeckel getreue Kopien dessen wiedergegeben, was von wissenschaftlicher Seite festgestellt wurde, oder hätte Haeckel seine Bilder ausdrücklich als "schematische" bezeichnet, so daß ohne weiteres der Zusammenhang mit dem Wollen des Vortragenden, mit dem E r k l ä r e n   wollen, nicht mit dem B e w e i s e n   wollen hervorgegangen wäre, hätte niemand etwas einwenden können. Haeckel hat dies versäumt, wissentlich, und seinen bekanntlich zahlreichen Gegnern, eine Waffe in die Hand gegeben, die diese nicht ungeschickt führen. "Haeckel hat gefälscht!" - Haeckels Ruhm wankt? Zuförderst ist nur seinem Fanatismus wieder einmal die ihm gebührende Strafe diktiert worden.

Die Antwort Haeckels ist eine neue Entgleisung und vermag den Streit keineswegs zu schlichten. Sie gab den Keplerbündlern willkommenen Anlaß zu neuen Ausfällen. Mit Recht. Der Art der Entgegnung des Keplerbundes kann ich jedoch nicht bestimmen. Es geht zu deutlich die Absicht hervor, den großen "Geistestyrannen" zu stürzen, ohne dessen Erwähnung zu tun, was Haeckel geleistet hat außer jenen Embryonenbildern, ohne überhaupt die Bedeutung dieser "Fälschung" ins richtige Licht zu rücken.

Jede Reaktion hat ihr Gutes. Und Haeckels fanatischem und oft so intolerantem Vorgehen gehört eine Schranke gesetzt, eine Schranke jedoch, die den blinden Anhängern Haeckels nicht noch mehr Anlaß gibt, ihren Propheten als Halbgott zu betrachten. - Handelt es sich denn wirklcih um einen so grundwichtigen Betrug, daß sich Tausende, die Haeckel und Darwin anhängen, durch die Beschummelung Haeckels zu einer völlig falschen W e l t a u f f a s s u n g    gekommen sind? Nein, wahrhaftig nicht. Und dies ist der springende Punkt der Sache! Dem Keplerbund ist es einzig um die Bekämpfung des Haeckelschen Monismus zu tun, nicht um die Embryonenbilder. Der grimme Drache soll aber herausgelockt werden aus seiner Höhle, er soll bloßgestellt werden, obwohl die Frage der bildlichen Darstellung der Embryonenbilder und ihre "Fälschung" eine r e i n   a k a d e m i s c h e    ist. Sie gehört vor das Forum der zuständigen Gelehrten und nicht durch die "Münchener Allgemeine Zeitung" in die Tagespresse.

Anders liegt die Sachlage seit Haeckel geantwortet hat! Beim Sprung, mit dem Haeckel sich über die Fälschungen hinwegsetzen will, ist er ungeschickt gestolpert. "Die anderen Professoren machen es ja auch so, mit ihren Bildern." Nein, hoffentlich nicht, Herr Professor Haeckel! Haeckel will uns glauben mache, diese Art der "Fälschung" sei wissenschaftlicher Usus. Dies ist sie gottlob! nicht, und wird, solange es eine W i s s e n s c h a f t    gibt, im Sinne unserer alten, ehrwürdigen Gelehrten, die der Wahrheit dienen wollen, nie werden! Sollen Übergänge geschaffen werden zwischen den einzelnen beobachteten Embryonenbildern, sollen also mit anderen Embryonenbildern Ergänzungen der zusammenhängenden Reihe einer anderen Art konstruiert werden, so müssen sie ausdrücklich - dies ist selbstverständlicher Gebrauch - als nicht beobachtete Bilder bezeichnet werden. Wohin würden wir kommen, wenn jeder Forscher sich dadurch B e w e i s e    - und Bilder sind Beweise - für seine Hypothese schüfe, daß er durch Kombination beobachteter Erscheinungen in g e w ü n s c h t e m    Sinne die notwendigen fehlenden ergänze, ohne sie als konstruierte zu bezeichnen! Diese Methode, diese unbedingt n ö t i g e    Methode muß auch bei der volkstümlichen Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse bestehen bleiben, die einzig statthafte sein, mit noch viel mehr Grund als in wissenschaftlichen Arbeiten. Der Forscher, der in den Arbeiten seines Kollegen Einblick nimmt,l ist genau über die Feinheiten des Untersuchungsgegenstandes orientiert, er wird ohne weiteres aus der Beherrschung der Materie heraus in der Lage sein, die Resultate seines Kollegen n a c h z u p r ü f e n   . Der Laie der wissensdürstend vor dem Professor sitzt, kann dies nicht. Er muß dem Professor g l a u b e n   . Es wäre eine Schmach, würde der Professor seine Unfähigkeit der Nachprüfung seines Zuhörers dazu benützen, seine eigenen Hypothesen für bewiesen zu behaupten und durch zurechtgestutzte Objekte selber aus dem Laien ein Urteil herausholen wollen, das dieser gar nicht fällen kann.

Der Streit Haeckel-Keplerbund war insofern zu begrüßen, als er einmal in die duftige Werkstatt eines fanatischen Hypothesenschmieds hineinleuchtete. Andererseits wirkt er aber durch die Art des Angriffs und der Entgegnung äußerst deprimierend, weil die Volksschichten durch den unmäßigen Streit verwirrt werden, ganz abgesehen davon, daß urteilsfähige Leute die Angelegenheit in Verbindung mit der deutschen Wissenschaft bringen. - Oder beabsichtigte der Keplerbund diese Verwirrung? Dann wäre es traurig um ihn und seine Führer bestellt.!

Professor Dr. Otto Zacharias in Plön schrieb den "Leipziger Neuesten Nachrichten" vom 6. Januar 1909:

Braß wendet sich an das "deutsche Volk", indem er dieses zum Richter in einer Streitsache ernennt, die zwischen ihm (Braß) und Haeckel sich entsponnen hat. Wer ist aber das "deusche Volk", dem hier angesonnen wird, daß es beurteilen soll, ob Braß mit der Beschuldigung, Haeckel habe gewissen Zeichnungen absichtlich gefälscht, im Rechte sei oder nicht? Ich bin kein Monist und sympathisiere auch nicht mit den Gedankengängen des Jenenser "Altmeisters" (wie ihn seine Getreuen nennen), aber ich sehe mich trotzdem außerstande, die Braßsche Schrift zu billigen, gleichviel, ob der Autor in einigen Punkten das Richtige trifft oder nicht. Was an Haeckels vielfach zugestutzten und daher nicht ganz mit der Natur übereinstimmenden Embryonenbildern zu tadeln ist, haben ausgezeichnete Forscher längst ausgesprochen und klargestellt, ohne daß Haeckel dadurch sich bewogen gefühlt hätte, in seiner Popularisierungsweise irgendwelche Modifikationen eintreten zu lassen. Er schreibt vielmehr unentwegt weiter, veranstaltet fortgesetzt weitere Auflagen seiner Volksbücher und gewinnt Tausende von neuen heißhungrigen Lesern. Und woher kommt das? Lediglich daher, weil der Entwickelungsgedanke, der so alt wie die Menschheit selbst ist, absolut nicht mehr aus der modernen Anschauungsweise zu verdrängen ist, gleichviel, ob er durch sicher begründete Tatsachen fachmännisch motiviert wird, oder im Gewande einer märchenhaften Erzählung über sogenannte "Stammbäume" der Wißbegier des gebildeten Publikums sich einschmeichelt. Dazu kommt aber noch, daß man angesichts von "Embryonenbildern" die alte Frage aufwerfen kann: "Was ist Wahrheit?" Denselben Embryo zeichnet H i s    so, K ö l l i k e r    ein bißchen anders, und H a e c k e l    selbst noch viel abweichender. Alle diese Darstellungen bringen sehr viel Subjektives in die Zeichnung mit hinein, und es ist schwer zu sagen, wo die - wie wir annehmen wollen - unbewußte "Fälschung" beginnt. Jedenfalls ist das "Deutsche Volk" n i c h t    in der Lage, diese Sache durch ein Plebiszit zu entscheiden, und deshalb bedauere ich das Erscheinen der vorliegenden kleinen Schrift im Interesse des Keplerbundes, der damit in Verbindung gebracht wird. Die gute Absicht von Braß verkenne ich nicht, aber er wird keinen Dank dafür ernten, selbst bei denen nicht, welche Haeckels " W e l t r ä t s e l "    für einen wahren Unglücksfall innerhalb des Bereiches der populär-wissenschaftlichen Literatur halten.

Schärfer nach beiden Seiten hin äußert sich Dr. Adolf Koelsch (Zürich) in einem Artikel der "Münchener Neuesten Nachrichten" (vom 19. Februar 1909):

Man liest das Vorwort der Broschüre, die Dr. A r n o l d   B r a ß    unter dem Titel " D a s   A f f e n p r o b l e m "    veröffentlicht hat, und wenn man die eine Druckseite, die es umfaßt, hinter sich hat, ist man gewillt, das ganze Büchlein ins Feuer zu werfen. So genug hat man von den einleitenden Insulten.

Aber dann blättert man, weil ja doch nach dem Wortlaut des Untertitels der Broschüre in erster Linie von "Professor Ernst Haeckels neuesten gefälschten Embryonenbildern" die Rede sein soll, das Heft von hinten her durch, stößt auf die vier Figurentafeln, mit denen es versehen ist, liest zu irgend zwei Bildern den erklärenden Text, stutzt über die erstaunlichen Verwandlungen, die allerlei Originalfiguren anderer Forscher, welche Haeckel für seine Werke kopieren ließ, unter den Händen des Zeichners durchgemacht haben, wird mißtrauisch,und nun nimmt man die Broschüre doch vor, und liest auch das, was Haeckel in einem Zeitungsartikel auf die Angriffe von Braß entgegnet hat. Zum Schluß formen sich die Eindrücke zu folgendem Urteil:

Haeckel hat Unredlichkeiten begangen. Dr. Braß ist diesen Unredlichkeiten auf die Spur gekommen. Aber Dr. Braß kann den Haeckel nicht leiden, weil Haeckel der Gründer und Ehrenvorsitzende des Monistenbundes und Braß ein Keplerbündler ist. Deswegen deckt er nicht einfach die Unredlichkeiten auf (etwa in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, wie es in der Ordnung gewesen wäre), sondern behält seine Erfahrungen vorerst für sich und macht nur in seinen Vorträgen, die er als Wanderredner des Keplerbundes da und dort in einem christlichen oder christlich-sozialen Verein hält, von seinem heimlichen Wissen polemischen Gebrauch, "mehr humoristisch als ernst", wie er sagt. Aber mit dem Humor scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Denn als eines Tages Berliner Zeitungen über einen Vortrag von Braß berichteten, ist schon ein ansehnlicher Schmutzfladen aus seinen Beschuldigungen gegen Haeckel geworden, in dem allerlei Gehässigkeiten wider den monistischen Freidenkerbund und Haeckelsche "Monistenmoral" die Rosinen bilden. Dieser Schmutzfladen fliegt nun zwischen Godesberg und Jena hin und her, und als ihn schließlich Haeckel, der von Anfang an mit Ausdrücken wie "freche Lüge", "böswillige Verleumdung" usw. nicht spart, am 25 April 1908 an Braß zum zweitenmal zurückschickt, mit der Bemerkung, daß es "eine bewußte, dreiste Unwahrheit sei", zu behaupten, er habe einem in der Broschüre "Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné" (1907) abgebildeten "Affenembryo einen Menschenkopf und dem menschlichen Embryo einen Affenkopf aufgesetzt", und das Buch angibt, dem er die betreffende Figur entnommen haben will - da endlcih hält Braß den Augenblick für gekommen, um ein kleines Haeckelschlachtfest zu verantstalten und dem Jenaer Zoologen zu beweisen, daß "seine Zeichnungen immer an den Stellen, welche für seine Hypothesen Beweiskraft haben, Entstellungen zeigen, die zugunsten der Hypothesen ausgefallen sind". Und so kam denn die vorliegende Broschüre zuwege.

Sie ist keine wissenschaftliche Streitschrift, sondern ein Pamphlet erster Güte. Dasselbe gilt für den Zeitungsartikel, mit dem Haeckel geantwortet hat. Es ist infolgedessen nur schade, daß die zwei, die sich da vor der Öffentlichkeit in würdelosesten Worten bekämpfen und beschimpfen, nicht irgend zwei beliebige Menschen sind. Man könnte sich sonst mit gutem Gewissen das Recht herausnehmen, so schnell wie möglich an dem Krakeel vorüberzugehen, und brauchte sich nicht für verpflichtete zu halten, mit irgend jemand darüber zu sprechen. Denn der E n t w i c k e l u n g s g e d a n k e   , den Braß und die hinter ihm stehenden Keplerbündler mit aller Gewalt diskreditieren möchten, erhält dadurch k e i n e n   S t o ß   , daß einem Forscher, der diesen Entwickelungsgedanken vertritt und (u. a.) auch mit Hilfe der E m b r y o l o g i e    die Abstammung der höheren Säugetierformen von niedrigen Wirbeltieren beweisen möchte, nachgewiesen wird, daß er Embryonen von Menschen und Affen durch phantastische Zutaten tierähnlicher gemacht und so die Natur seiner Theorie besser "angepaßt" habe. Ja, wenn die ganze Entwickelungslehre auf desen sechs, sieben zeichnerischen Unredlichkeiten Haeckels aufgebaut wäre, - dann stünde es in den Augenblick, in dem die Entstellungen aufgedeckt werden, schlecht um unsere Überzeugung von der natürlichen Abstammung der Arten, und der Leidtragende wäre die Wissenschaft, die sich vermessen hat, in unserer Weltformel das Wort "Schöpfung" durch "Entwickelung" zu ersetzen. Aber statt der sieben Embryonenbilder dürften Haeckels s ä m t l i c h e    Zeichnungen, die er seit 1861 veröffentlich hat, als gefälscht nachgewiesen werden, und der aus tausend feinen Wurzeln seine Nahrung saugende Entwickelungsgedanke, den die Keplerbündler um jeden Preis - zu Ehren der biblischen Schöpfungsüberlieferung - zertrümmern möchten, stünde immer noch so bombenfest auf seinen Füßen wie ein Eichbaum, an dem ein Ziegenbock das Geilholz eines Wurzelschößlings angefressen hat. So wenig wird durch die Braßschen Enthüllungen an dem Vertrauen gerüttelt, das man in die Richtigkeit der Entwickelungslehre haben darf!

Über die Antwort Haeckels sagt Dr. Koelsch: die ist d ü r f t i g    ausgefallen, diese Verteidigung, - sehr dürftig. Mit allergrößtem Bedauern konstatiere ich das. Der Polemik gegen "Professor Tartüffe" fügt sich ein Abschnitt an, den ich für den bedenklichsten der ganzen Erwiderung Haeckels halte, weil hier Haeckel den Versuch macht, sein Vergehen dadurch abzuschwächen, daß er ohne allen ersichtlichen Grund die Gedamtheit der Biologen derselben Fahrlässigkeiten denunziert, die er sich hat zuschulden kommen lassen, indem er behauptet, daß die Abbildungen der besten Lehrbücher nach demselben Verfahren hergestellt seien, das er für seine ingeklagten Bilder angewandt hat.

Ich habe mich für Haeckel geschämt, als ich diese Sätze gelesen. Denn erstens hätte Haeckel doch wissen müssen, daß kein Mensch sich selber von einem Vorwurfe dadurch reinwäscht, daß er sagt, andere haben das gleiche begangen. Zweitens hätte Haeckel wissen müssen, daß ein Forscher, der fremde Originalbilder stilisiert, die Pflicht hat, in jedem Fall zu sagen, was er getan hat, daß er die Quellen anzugeben und in unzweideutiger Weise die schematisierten Figuren als solche zu bezeichnen hat. Drittens hätte Haeckel wissen müssen, daß dieser Brauch von allen Forschern, soweit sie etwas auf sich halten, auch tatsächlich geübt wird, und es infolgedessen durchaus unzulässig ist, sie ohne weiteres dem nämlichen Verdachte auszusetzen, der sich bei Haeckel leider als berechtigt erwies. Was jene tun, hat er eben n i c h t    getan, und das ist eben der Vorwurf, der auf ihm wird sitzen bleiben.

Ähnlich, aber ruhiger, äußert sich Dr. E r n s t   T e i c h m a n n    in der " F r a n k f u r t e r   Z e i t u n g "    vom 26. Januar 1909.

Teichmann sagt, nachdem er den Streitfall dargelegt hat: Kann Haeckels Antwort auf die gegen ihn erhobene Beschuldigung g e n ü g e n ?    und antwortet: Ich fürchte, es wird keinen geben, der nach vorurteilsloser Prüfung aller in Betracht kommenden Umstände den Müt hätte, mit einem runden Ja zu antworten. Gewiß hat der Verfasser populärwissenschaftlicher Werke das Recht, sein Ausführungen und Illustrationen so zu gestalten, daß sie dem Laien verständlich werden. Er darf Unwesentlichgens weglassen und Wesentliches unterstreichen, er darf auch schematisieren und sogar konstruieren. A b e r    - und das ist ein Gebot, das niemals umgangen werden sollte, - e r   m u ß   s a g e n ,   w a s   e r   g e t a n   h a t .    Hätte Haeckel in den Erklärungen, die er seinen Abbildungen beigefügt hat, unter Hinweis auf die Originalarbeiten, denen er sie entnahm, zum Ausdruck gebracht, daß dem Leser hier schematisierte und stark umgeänderte Bilder geboten würden, so hätte er sich den Vorwürfen nicht ausgesetzt, die nun auf ihm sitzen bleiben. Ich muß freilich gestehen, daß so erhebliche Umgestaltungen, wie sie bei diesen Embryonenbildern von ihm vorgenommen wurden, meines Erachtens die Grenze des für populäre Darstellungen Zulässigen überhaupt hinter sich lassen, schon deshalb, weil sie durch die an ihnen vollzogene Prozedur ihre Beweiskraft einbüßen. Doch mag man dies als eine Sache des Geschmackes betrachten, die sich dem Streit entzieht. Aber gerade im Hinblick auf die Bemerkungen, die ich nun noch der Angelegenheit als Zeiterscheinung widmen möchte, will ich keine Zweifel darüber bestehen lassen, daß Haeckels Verfahren schwerlich als einwandfrei betrachtet werden kann.

Ich habe bisher, um die ruhige Beurteilung der s a c h l i c h e n    Differenz zwischen Haeckel und Braß nicht zu stören, einiges verschwiegen, was jetzt nachgeholt werden soll. Dr. Braß gehört dem Kuratorium des " K e p l e r b u n d e s "    an, und Ernst Haeckel ist, wie jeder weiß, Ehrenvorsitzender des " D e u t s c h e n   M o n i s t e n b u n d e s "   . Der Kampf, dessen Verlauf vorhin skizziert wurde, rückt unter Berücksichtigung dieser Tatsachen in eine neue Beleuchtung. Stünden sich nur ein Professor der Zoologie und ein, vielleicht etwas vergrämter Zoologe gegenüber, so wäre ihr Streit es kaum wert, ein größeres Publikum zu beschäftigen: er könnte als Gelehrtengezänkt dem Interesse der engsten Fachgenossen überlassen werden. Aber nun stehen hinter den beiden Kämpen zwei Organisationen, denen immerhin eine gewisse Bedeutung für unser öffentliches Leben nicht abzusprechen ist. Jeder der beiden Bünde tritt für eine bestimmte " W e l t a n s c h a u u n g "    ein und sucht sie mit allen Mitteln zu propagieren: der Monistenbund schört zur Fahner der monistischen, der Keplerbund zu jener der christlichen Religion (so entspricht es wenigstens den tatsächlichen Verhältnissen, wenn auch nicht dem Wortlaut der Statuten). Man muß das im Auge behalten, wenn man die Art der Polemik verstehen will, wie sie zwischen Haeckel und Braß geführt ist. Der Ton, auf den die Kundgebungen dieser Männer gestimmt sind, entbehrt jeder Würde. Erbitterung und Haß sind hier die treibenden Kräfte. Mit Überwindung nur und mit Scham liest man diese fanatischen Ergüsse eines Zelotismus, wie er zu keinen Zeiten religiöser Erregung heftiger hat aufflammen können.

Wenn es auch an Provokationen weder auf der einen noch auf der anderen seite gefehlt haben mag, so kann doch nicht geleugnet werden, daß es Dr. Braß vorbehalten war, diesmal den Streit auf das persönliche Gebiet zu übertragen, indem er Haeckel selbst angriff. Man sage nicht, er habe das auf eigene Rechnung getan, den "Keplerbund" gehe diese Sache nichts an. Das wäre ein Ausflucht und Zweideutigkeit, Und überdies ist das Kuratorium des Bunder in einer Erklärung für sein Mitglied eingetreten. Als der "Keplerbund" gegründet wurde, hegten viele die Befürchtung, daß mit ihm ein Faktor in das öffentliche Leben trete, der nicht dem Frieden dienen werde. Es hat nicht an solchen gefehlt, die von vornherein der Meinung waren, die Persönlichkeit gerade der Männer, die die Arbeit in der Öffentlichkeit leisten sollten, biete nicht die Gewähr für ein fruchtbares positives Wirken. Nun hat sich gezeigt, daß jene skeptisch Gestimmten im Recht waren. Diese Vereinigung ist nicht imstande, den Leidenschaften derer zu wehren, die ihre ganze Kraft in der Bekämpfung des verhaßten Monismus erschöpfen. Statt sich, wie es ihr Programm besagt, wirklich der "Förderung der Naturerkenntnis" zu widman, indem die Ergebnisse der Forschung durch Wort und Schrift zu einen Bestandteil des allgemeinen Wissens gemacht werden, scheinen Männer wie Braß und D e n n e r t    es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, Haeckel, in dem sie die Seele der monistischen Bewegung sehen, zur Strecke zu bringen. Dabei bedenken sie nicht, daß diese Zuspitzung aufs Persönliche nur dazu dienen kann, die neutralen Kreise gegen sie einzunehmen, ganz abgesehen davon, daß, selbst wenn sie noch so laut verkündigen, Haeckel sei "wissenschaftlich tot und gerichtet", dies gerade bei denen wenig Eindruck machen wird, auf die es wirken soll; es muß die Verbitterung nur noch steigern. Die Haeckelhetze, die der Keplerbund betreibt, gereicht ihm weder zur Ehre noch zum Vorteil. Und glaubt man wirklicht, man könne, indem man Haeckels Zeichnungen als gefälscht nachweist, einen für die Wissenschaft so fruchtbaren und förderlichen Gedanken wie den der Entwickelung deskreditieren oder gar widerlegen? Weiß man nicht, daß er selbst dann noch unberührt und in voller Kraft stehen würde, wenn sich jedes Wort der Haeckelschen Broschüren als unrichtig erwiese? Hunderte von Tatsachen sprechen für dei Entwickelungstheorie, tausenden spendet sie das Licht, in dessen Schein sie uns verständlich werden, Ordnung gewinnen und Zusammenhang. Was kann es für eine Sinn haben, gegen Gedanken zu polemisieren, die längst d e r   D i s k u s s i o n   e n t r ü c k t    sind? Wenn es auch in den Wind gesprochen sein dürfte, so möchte ich dennoch nicht unterlassen, dem "Keplerbund" den Rat zu geben, diesen Weg, auf den er durch Dr. Braß geführt worden ist, nicht weiter zu beschreiten, sondern sich fruchtbarerem Tun zuzuwenden. Wäre es nciht eine edlere und größere Aufgabe, an der Überbrückung der Gegensätze zu arbeiten, die unser Volk zerreißen, gegenseitiges Verstehen und weitherzige Duldung zu fördern, die als schönste Blüte gerade aus umfassender und vertiefter Naturerkenntnis hervorsprießen! Vielleicht würde dann das Odium schwinden, das dem "Keplerbund" bei allen Freidenkern anhaftet, die von der Meinung nicht loskommen, hier diene die Naturwissenschaft nur zum Vorwand, um unter ihrer Deckadresse die Geschäfte der Orthodoxie zu besorgen, und die sein Tun deshalb mit Mißtrauen und Abneigung verfolgen müssen.

Und schließlich noch ein letztes Wort. Die traurige Angelegenheit, die hier zur Sprache gebracht wurde, betrifft die deutsche W i s s e n s c h a f t    im Grunde so gut wie gar nicht. Nicht sie ist hier die Leidtragende, nicht ihre Ehre steht auf dem Spiel. Weder Haeckel noch Braß können im Ernste behaupten wollen, es sei der Geist der Wissenschaft, der aus ihren Kundgebungen spricht, der ihnen die Feder geführt hat, als sie ihre Pamphlete verfaßten. Ganz andere Motive haben hier gewirkt. Und mit dieser Erkenntnis, daß es sich gar nicht um eine Kontroverse handelt, die, aus dem Geiste der Wissenschaft geboren, uns wissenschaftlich fördern könnte, verliert die Angelegenheit für uns ihre tiefere Bedeutung. Sie gliedert sich ein in die lange Reihe jener im Grunde unfruchtbaren, kulturschädigenden Bewegungen, die je und je aus dem Untergrund der ins Religiöse gesteigerten metaphysischen Bedürfnisse hervorquellen. Es scheint, als ob die Menschheit noch immer nicht reif sei, dieser dunkeln Gewalten Herr zu werden, als ob das Zeitalter wahrer Toleranz anzubrechen ewig zögern wolle. -

Dr. Koelsch´s Bemerkung in den "Münchener Neuesten Nachrichten": "Der Entwickelungsgedanke, den Braß und die hinter ihm stehenden Keplberbündler mit aller Gewalt diskreditieren möchten . . ." hatte einen Leser zu folgender Zuschrift veranlaßt (abgedruckt in der Nr. 102 vom 3. März):

Herr Dr. Koelsch scheint hierbei doch nicht ganz richtig orientiert zu sein und die grundlegenden Schriften des Keplerbundes nicht gelesen zu haben. In der Broschüre "Weltbild und Weltanschauung" von Professor Dr. phil. D e n n e r t   , wissenschaftlicher Leiter des Keplerbundes, steht S. 40, Abschnitt "Die Deszendenzlehre" ganz deutlich zu lesen: "Die gegenwärtigen Formen zeigen eine ansteigenden Stufenfolge von einfachen zu vollkommeneren Formen" usw. - Ferner im darauffolgenden Abschnitt "Schöpfung und Entwickelung" klar und deutlich: "Wir sagen also, das Problem der Deszendenztheorie besteht zu Recht . . ." "Ich persönlich (der Autor) vertrete seit vielen Jahren den Gedanken einer Schöpfung d u r c h   E n t w i c k e l u n g . . . "    usw.

Dies klingt keineswegs nach einer "Diskreditierung des Entwickelungsgedankens". - Es wäre daher doch wohl richtiger und gerechter, wenn die betreffenden Herren, ehe sie angreifen, sich auch genau voher instruieren wollten. A.B.

Herr Dr. K o e l s c h    erwiderte darauf:

Die Zitate des Herrn A. B. aus Dennert sind richtig. Aber sie widerlegen die Berechtigung unserer Behauptung, daß von Braß und den hinter ihm stehenden Keplerbündlern mit aller Gewalt versucht werde, den Entwickelungsgedanken zu diskreditieren, nicht im entferntesten. Denn die Keplerbündler verstehen unter "Entwickelung" etwas principiell anderes als wir Naturforscher, die nicht zu ihnen gehören.

Wenn w i r    "Entwickelung" sagen, so meinen wir immer und überall " n a t ü r l i c h e    Entwickelung"; d. h. wir sind überzeugt, daß die Tiere und Pflanzen, denen wir heute auf unserer Erde begegnen, aus a n d e r s a r t i g e n    Tieren und Pflanzen entstanden sindd, die vordem auf unserer Erde gelebt haben, und daß diese Wandlung vor sich gegangen ist, ohne daß ein "göttlicher Schöpfer" mitgewirt hat. Denn wir die Ursachen und Bedingungen, die heute noch bei der unter unseren Augen sich vollziehenden Entwickelung und Artenneubildung wirksam sind, auf ihre Bedeutung hin untersuchen und sie nach ihrem Wesen fragen, so finden wir unter ihnen k e i n e   , die jenseits unserer Erfahrung oder Erfahrungsmöglichkeit lägen, also dem Reiche des Übersinnlichen angehörten. Wenn aber der Formenbestand von h e u t e    sein So-und-Nichtanderssein nicht einer "göttlichen Absicht" verdankt, die das, was gekommen ist, im vornhinein so g e w o l l t    aht, wie es gekommen ist, sondern wenn er geworden ist aus natürlichen, faßbaren Veranlassungen, so dürfen wir annehmen, daß das auch in der Vergangenheit so gewesen sei, und haben ein Recht zu sagen: die Natur, die wir sehen, besteht ohne Gott, und die Entwickelungen, die in dieser Natur sich abspielen, vollziehen sich ohne seinen Willen. Wir haben zweitens d i e   P f l i c h t ,   d i e   N a t u r   z u   e r f o r s c h e n   o h n e   j e d e   R ü c k s i c h t   a u f   e i n e   c h r i s t l i c h e   o d e r   h e i d n i s c h e   G o t t e s i d e e   , die Vorgänge in der Natur ohne jede Rücksicht auf den Gottesgedanken zu deuten, und die Frage, was "im Anfang" war, als unwissenschaftlich ablehnen, weil der Anfang jenseits der Grenzen liegt, innerhalb welcher Erfahrung und Gewißheit noch möglich sind.

Das war der Sinn des Begriffs "Entwickelung" b e v o r    es einen Keplerbund gab, und das sind die unerbittlichen Konsequenzen, die von jedem gezogen werden müssen, der den Entwickelungsgedanken anerkennt.

Diese klaren Sinn haben die Keplerbündler herumgedreht, weil sie die K o n s e q u e n z e n    nicht brauchen konnten, die sich aus den unserer Erfahrung zugänglichen Naturtatsachen ergeben. Sie haben das implizite in dem Begriff "Entwickelung" enthaltenen Wörtchen "natürlich" herausgeworfen und die Sache so zu deuten versucht, als ob "Entwickelung" nur der W e g    sei, auf dem der liebe Gott seine Schöpfertaten vollbringe: - "Schöpfung durch Entwickelung", heißt es bei Dennert! Entwickelungsvorgänge, Artwandlungen usw. sind demnach keine Naturereignisse mehr, die ihre natürlichen, u n s e r e r   E r f a h r u n g   z u g ä n g l i c h e n    Veranlassungen haben, sondern sind Kanäle, durch die der liebe Gott seine Absichten und Willensentschließungen in die Welt laufen läßt. Herr A. B. hätte das merken können. Und er hätte auch merken können, daß da nicht Naturerkenntnisse zum Ausbau einer Weltanschauung herangezogen werden, sonden daß man da Weltanschauungsideen in die Naturwissenschaft einzuschmuggeln sucht. Dennert drückt sich ja doch überall in der von Herrn A. B. zitierten Schrift deutlich aus. S. 36 ff. gibt er als sein Bekenntnis aus: "die Welt entstand allmählich unter göttlicher Leitung"; S. 40: "denn wenn es sich hier (im Deszendenzproblem) in der Tat um ein berechtigtes Problem der Naturwissenschaft handelt, so besteht die Notwendigkeit (!!), dasselbe mit dem Gottesglauben in Einklang zu bringen". Aber doch wohl nur im Hirn der Herren vom Keplerbund! . . . Oder S. 31: "Gott erhält aber die Welt in ihrem Bestand in der Weise, dajß von den einmal von ihm ins Dasein gerufenen Summen von Energien und Stoffen nichts vergeht und zu ihnen nichts hinzugeführt wird." Später sieht man dann aber, daß der Gott des Keplerbundes noch mehr kann; denn S. 53 heißt es: "wie das Violinspiel des Violinspielers ständig von dessen Wissen abhängig ist, so auch die Welt vom Willen Gottes, und wenn es nätig sein sollte, könnte sie jederzeit aus dem Willen Gottes neue Energie erhalten."

Und nach solchen Bekenntnissen behauptet dann Dr. Dennert noch , der Keplerbund treibe "freie und unbefangene Wissenschaft" (S. 80), beschwert sich (S. 73), wenn er sagt, der Keplerbund versuche es, die Naturwissenschaft "in die Krippe des christlichen Glaubens zu betten"! Nach solchen Auskünften, die er in "Weltbild und Weltanschauung" gefunden hat, glaubt Herr A. B. mich noch zur Ordnung rufen zu müssen, weil ich gesagt habe, die Keplerbündler seien bestrebt, den Entwickelungsgadanken in Verruf zu bringen. Ja, ja! -

Inzwischen war dem bedeutenden Zoologen Dr. Arnold Braß, dem "Gelehrten des Keplerbundes", das Mißgeschick passiert, daß ihm ein ehrlicher und mutiger Mann aus seinem eigenen Lager ein Zeugnis ausgestellt hatte, das späterhin von K e i b e l   , H e r t w i g    und R a b l    nur noch in einigen, allerdings höchst bedeutsamen Punkten ergänzt werden konnte. In der "Klingenthaler Zeitung" vom 10. Januar 1909 veröffentlichte Herr Schuldirektor F .   W .   V o r w e r k    den folgenden Brief, der seiner dokumentarischen Bedeutung wegen hier in aller Vollständigkeit wiedergegeben werden muß.

An Herrn Dr. B r a ß    in Godesberg a. Rh.

Hochgeehrter Herr Doktor! "Da es weder sicher noch geraten ist, etwas wider sein Gewissen zu tun," so gebietet mir mein wissenschaftliches Gewissen und das Verantwortlichkeitsgefühl gegen der hiesigen Einwohnerschaft, meine für Sie in der "Klingenthaler Zeitung" veröffentlichte Empfehlung, die von Ihnen allerdings unerbeten war, bedeutend einzuschränken, wenn nicht am liebsten für ganz ungeschehen zu erklären.

Vertrauend auf Ihren Ruf als Redner, Ihren Namen als Gelehrter und Vorkämpfer des Keplerbundes, glaubte ich der hiesigen Bevölkerung nichts Besseres empfehlen zu können, als Ihren Vortrag möglichst zahlreich zu besuchen. Ich selbst glaubte von Ihnen an Hand der Wissenschaft mit zwingender logischer Beweisführung bis zu dem Punkte wissenschaftlicher Erkennntnis geführt zu werden, von dem ab Dubois-Reymond erklärte: Ignoramus et ignorabimus. Denn nur auf diese Weise, mit voller wissenschaftlicher Wahrheit und Klarheit, absolut sicherer Beweisführung ist es möglich, die durch monistische, materialistische Volksredner irregeleiteten Geister wieser auf die Bahn religiösen Empfindens und Glaubens zurückzuführen. Was aber fand ich bei Ihnen? Um es vornweg zu nehmen, krankte Ihr Vortrag daran, daß ihm vollkommen ein leitender Gedanke und systematischer Aufbau an Hand einer klaren Disposition fehlte. Plan- und ziellos reihten Sie einzelne Tataschen aneinander, wobei bis zum Schlusse die Frage ungeläst blieb: Wozu das alles? Sie begannen Ihren Vortrag mit Fragen aus der kosmischen, anorganischen und organischen Welt, indem Sie bei der Anführung der Tatsachen immer die Schlußfrage stellten: Und so etwas soll zufällig sein? Gleichzeitig aber leugneten Sie, daß den Dingen an sich ein geistiger, seelischer Gedanke innewohne. Sie sprachen Atomen und Molekülen jede selbstständige Lebensform ab und stellten die Sache dar, als ob alles Leben in jedem einzelnen Falle von außen hineingetragen und bei jedem einzelnen Dinge aufs neue erzeugt und bewirkt würde. Sie glaubten damit dem Glauben an Gott einen Dienst zu erweisen, bedachten jedoch nicht, daß dieser Schöpfer uns ebenso allgewaltig und allweise erscheinen kann, wenn er von allem Anfang an seinen Geist in jedes einzelne Ding bis zum Atom und Molekül herab hineingelegt hat, und die Dinge nun durch diesen Geist gesetzmäßig sich entwickelt läßt. Die Summe dieser Zweckmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit, mit einem Worte dieses Lebens aller Dinge können wir getrosst als Gott bezeichnen, oder wenigstens als der fortwirkende und fortschaffende Geist Gottes. Wissen Sie nicht, daß die Atome und Moleküle rotieren, revolutionieren, den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen sind, wie das Weltall im großen, und all die Erscheinungen auf dem Gebiete der Elektrizität, des Magnetismus, der Wärme, des Lichtes und des Schalles dadurch erklärt werden könnten? Ja, daß sogar in den Kristallen eine Art Sorge für die Zukunft, zweckt ihrer Erhaltung, vorhanden ist? Sollten Sie nichts wisschen von den verwundeten Kristallen, die in einer gesättigten Lösung ihre Wunden vollständig wieder ausheilen? Kann man den Vorgang, daß sich Kristalle, Blätter, kurz alle Organe der Naturkörper derselben Art wieder in derselben Form gestalten, sich so denken, daß ein regierender Geist die einzelnen Moleküle, Atome und Zellen persönlich immer von außen aufs neue ordnet? Wäre es nicht eine viel größere und höhere Gottesvorstellung, wenn der allweise Schöpfer den Dingen diese Eigenschaften von Anbeginn gegeben hätte, und als Regent seine Schöpfung überwachte, ordnete, lenkte und leitete? Will nicht Leibniz ähnliche Gedanken in seiner Monadenlehre und Eduard Hartmann in seiner Philosophie des Unbewußten aussprechen? Warum wäre es dem Glauben an einen göttlichen Schöpfer zuwider, ihn als den ursprünglichen Schöpfer dieses Lebenstriebes und seiner Gesetzmäßigkeit anzusehen und ihn nicht immer wieder von neuem in die rein stoffliche Gestaltung der Natur eingreifen zu lassen?

Der nächste Teil Ihres Vortrages bestand in zusammenhangloser Vorführung biologischer Vorgänge, so scheiden naiv, daß ich Sie, geehrter Herr Doktor, versichere, daß die Besprechung dieser Vorgänge in unserer Volksschule oft tiefer und gründlicher erfolgt, als es hier geschah. Mit der an jedes Bild anschließenden Frage: Und das soll seelisches Leben sein? kann man nie eine Beweisführung logisch schließen und lockt damit keinen Hund vom Ofen. Ich achte den Unterschied zwischen Tier- und Menschenseele nur für einen graduellen, nicht substantiellen. Und warum soll es meschenunwürdig sein, anzunehmen, daß wir in der von Gott gewollten und geordneten Entwickelung die höchste Stufe erreicht haben, und der gütige Gott mit diesem Grade die religiösen, sittlichen und künstlerischen Gefühle, die aprioristischen Vorstellungen von Gott, Raum und Zeit verbunden hätte? Und dieser geistesschöpferische Vorgang wird uns ewig ein Rätsel bleiben, wird uns aber auch gleichzeitig von jedem Tiere trennen in alle Ewigkeit. Wenn Sie sagen, alles Handeln der Tiere würde von drei Trieben beeinflußt: Erhaltung der Art (Fortpflanzungsvorgänge), des Individuums (Ernährungsvorgänge) und Furcht, so muß ich den dritten von Ihnen angegebenen Lebenstrieb, die Furcht, als solchen leugnen. Die Furcht kann nur das Empfinden sein, daß eienr jener beiden Vorgänge, Ernährung oder Fortpflanzung von außen bedroht ist und gestört werden könnte. Liebe und Hunger sind die beiden alleinigen Erreger alles Handelns der Lebewesen, bei den Menschen gezügelt duch ethisch-religiöse Gefühle. Sie zeigten die niedrigsten Lebensformen, Amöben und Zellentiere als die ersten aller Lebewesen, während Sie später Versteinerung von Schnecken, Krebsen, Cochilien usw. aus der Urzeit unserer Erde vorführten, und damit, daß deren Form und ihr Organismus bis auf den heutigen Tag derselbe geblieben sei, beweisen wollten, die darwinistische Schule hatte mit ihrer Entwickelungslehre unrecht, weil diese Tiere, aus dem Anfang dieser Jahrmillionen stammend, doch auch einen ganz anderen Organismus besessen haben müßten. Als ob hier Jahrmillionen eine Rolle spielten und man von einem Anfang der Welt zahlenmäßig reden könnte! Und wie viele Millionen von Arten Lebewesen werden in der Entwickelungsreihe untergegangen sein, ohne daß wir eine Spur von ihnen wissen oder sie fossil besitzen. Ferner behaupten Sie, daß die Säugetiere mit all ihren komplizierten Organen aufgetreten seien, ohne ihre Art bis heute zu ändern. Leider hatten Sie das Bild nicht zur Hand. Sie meinen also, daß nach dem Untergange einer vorhergehenden organischen Welt ein neuer Schöpfungsakt eine neue Welt anderer Organismen hervorgebracht habe. Natürlich paßten eine große Anzahl von Arten der Urtiere, Saurier usw. mit ihren Einrichtungen und grosteken Formen nicht mehr zu den veränderten Verhältnissen klimatischer, orographischer Art, sie mußten also zugrunde gehen, um neuen Arten, zweckmäßiger eingerichteten Organismen Platz zu machen. Wie sind diese Arten entstanden? Sie müssen nach Ihrer Anschauung entweder einen neuen Schöpfungsakt annehmen, oder müssen die Entwickelungslehre, wenn auch in beschränktem Maße, anerkennen. Man sieht nicht ein, warum Tierformen vollständig verschwinden und neue entstehen müssen! Die Katastrophentheorie von Agassiz und Cuvier, daß zu bestimmten Zeiten und für jeden Ort besonders Lebewesen, die sich bei der weiteren Umbildung der Erde als unzweckmäßig erwiesen, vernichtet werden und Gott eine neue Schöpfung einleiten müßte, widerspricht doch geradezu in gefährlicher Weise unerer Anschauung von Gottes Allwissenheit und Güte. Sie wiesen ferner darauf hin, daß der Mensch allein das Gefühl für Kunst hätte, und er Kunstfertigkeit erwerben, erhöhen und vervollkommnen könne, während das Tier, nur Trieben folgend, bei all seinen Arbeiten immer dasselbe schaffe. Zugegeben! - Sie leugneten aber kurz darauf auch die Entwickelung der Kunstfertigkeit des Menschengeschlechtes, indem Sie bemerkten, in den Kunstformen und ihren Anwendungen seien wir nicht weiter, als die unentwickelten Völker vor Jahrtausenden gewesen wären, Sie betonten besonders, daß der Mensch und der menschliche Geist sich nicht entwickelt, sondern nur entfaltet hätte. Ich meine, der Mensch kann sich als Individuum erheben, verbessern, durchgeistigen, entwickeln, während es die Tiere zwar auch können, aber nur innerhalb der Entwickelung der Art.

Ich nehme an, daß Sie durch mancherlei widrige Umstände nicht dazu kamen, Ihren Vortrag in der ursprünglichen Form zu halten; denn eine Beleidigung wäre es, anzunehmen, daß Sie diese Art des Gebotenen für die Bewohner entlegener Gegenden als für genügend erachteten. Die Schlußbemerkungen über die religiöse Basis der Völker, über die Ursachen ihres Unterganges, waren keine wissenschaftlichen Beweisführungen, sondern eine christlich-dogmatische Predigt, in der Sie auch noch religiös und christlich durcheinander warfen, dabei sogar übersahen, daß auch christliche und germanische Völker untergegangen sind, denen man die an Griechen und Römern gerügten Fehler durchaus nicht nachsagen kann: Goten, Burgunder usw. Und was sagen Sie zu dem Aufblühen des japanischen Volkes?

Hochgeehrter Herr Doktor! Sie werden mir diese Auslassungen gewiß nicht übelnehmen, wenn ich Sie versichere, daß der Gedanke, der Sie leitet, die Menge wieder zum Glauben an einen Gott und Vater zurückzuführen, auch mir innerstes Herzenbedürfnis ist. Ich habe diesen Brief nur deshalb geschrieben, weil ich die Art, wie Sie diesen Gedanken durch Ihre Vorträge verwirklichen wollen, als eine verfehlte erachte. Nicht e i n e    zweifelnde Seele haben Sie dadurch befriedigt; denn durch ihre Ausführung ist für oder wider die materialistisch-monistische Weltanschauung nicht das Geringste gesagt. Und doch waren ich und viele andere Zuhörer hingekommen als Wahrheits- und Gottessucher, denen Sie Hilfe bringen und bieten sollten in dieser schweren Zeit geistiger Not. Damit Gott befohlen!

Untersachsenberg-Georgenthal, den 7. Januar 1909.

F .   W .   V o r w e r k   , Schuldirektor.

Darauf bekam der Verfasser, Herr Schuldirektor V o r w e r k   , eine P o s t k a r t e    folgenden Inhalts: Sehr geehrter Herr! Finde ich den Brief in einer großen Tageszeitung, so werde ich seinen Erzeuger i n   e i n e r   W e i s e   z u   d e m ü t i g e n   w i s s e n   , daß ihm das Briefeschreiben vergehen soll.

Hochachtungsvoll gez. Dr. A .   B r a ß   

Die Drohung hatte zur Folge, daß Herr Schuldirektor Vorwerk seinen offenen Brief dem "Voigtländischen Anzeiger und Tageblatt" zur Veröffentlichung übergab. Wir rechen diesem Gegner die Hand; nicht deswegen, weil er gerade einem Herr Dr. Arnold Braß entgegengetreten ist, sondern um seiner inneren Wahrhaftigkeit willen und des Mutes, mit dem er sie in die Tat umgesetzt hat. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß die Antwort des Herrn Dr. Braß (in der Nr. 14 des "Voigtländischen Anzeigers") ihn weder gedemütigt, noch in seinem Urteil über diesen "Forscher und Verkünder der Wahrheit" irgendwie wankend gemacht hat.

An dem Aufruhr, der bis daher entstanden war, ließ sich der Keplerbund nicht genügen. Er hatte sein Kesseltreiben planmäßig eingerichtet; planmäßig setzte er es fort. Der Löwe von Jena m u ß t e    diesmal zur Strecke gebracht werden, j e t z t   o d e r   n i e    - sie wußten es. Darum hetzten sie weiter. Die "Direktoren des Keplerbundes", Professor Dr. Dennert und Direktor W. Teudt rechteten folgenden Brief an die " M ü n c h e n e r   A l l g e m e i n e   Z e i t u n g "   :

S e h r   g e e h r t e   R e d a k t i o n !   

In der Antwort von Prof. Dr. E. Haeckel auf die Angriffe von Dr. Braß ist ein Punkt, der noch schärfer als bisher hervorgehoben werden muß. Professor Haeckel gesteht bekanntlich ein, daß er "im Sinne von Dr. Braß Embryonenbilder gefälscht" hat, daß er also Bilder verstorbener Forscher nach den Befürfnissen seiner Hypothesen zurechtgestutzt und dann zum Teil sogar mit anderen Namen versehen hat. Er nahm also z. B. den Embryo des geschwänzten Makak (nach Selenka) den Schwanz ab und nannte ihn dann Gibbon.

Professor Haeckel behauptet, daß nach dieser von Dr. Braß gekennzeichneten und von Professor Haeckel eingestandenen Manier "Hunderte von Forschern" verfahren. - Damit greift er unseres Erachtens die Ehre der Wissenschaft auf das gröblichste an und bringt sie um jeden Kredit im Volke.

Unser zur "Förderung der Naturerkenntnis in der Gesamtheit unseres Volkes" gegründeter Bund hat ein außerordentliches Interesse, über das Vertrauen, welches unser Volk den heutigen Vertretern der Naturwissenschaft entgegenbringen darf, in völliger Klarheit zu sein. Wir halten die Folgen für unabsehbar und jedenfalls für überaus bedauerlich, wenn in den weitesten Kreisen unseres Volkes die Meinung sich festsetzen würde: die von den Naturforschern als Ergebnisse ihrer Wissenschaft dargebotenen bildlichen und schriftlichen Darstellungen konstruierte Machwerke, deren Wert durch den Haeckelschen Ausdruck "vergleichende Synthese" lediglich verschleiert wird.

Wir sind der festen Hoffnung, daß die deutschen Naturforscher Mittel und Wege finden werden, um sich gegten die schwere Anklage zu wehren, die in den Worten von Professor Haeckel liegt.

Aber wur unsererseits verlangen hiermit vor aller Öffentlichkeit, daß Professor Haeckel die Namen derjenigen Forscher nennt, welche sich bereits ähnliches haben zuschulden kommen lassen wie er selbst. Da hier ein eminentes öffentliches Interesse vorliegt, so verlangen wir, daß Professor Haeckel ohne alles Beiwerk klar und bestimmt Antwort gibt, und zwar noch lebende Forscher nennt, die sich verteidigen können.

Sollte er aber schweigen, so würde er damit beweisen, daß er den Ruf der Naturwissenschaft grundlos geschädigt hat.

Professor Dr. D e n n e r t   , Direktor W .   T e u d t   
Direktoren des Keplerbundes

Der Wunsch der Keplerbündler, daß sich die deutschgen Naturforscher zu den Streitfall äußern möchten, wurde alsbald erfüllt. Die "Deutsche Medizinische Wochenschrift" wandte sich an Professor F r a n z   K e i b e l    in Freiburg i. Br., eine Autorität auf dem Gebiete der Entwickelungsgeschichte, um ein unparteiisches Urteil zu erhalten. Keibel entsprach dem Ersuchen in Nr. 8 der "D. M. W." Er bespricht die Einzelfälle, in denen Haeckel schematisiert und konstruiert hat, wie folgt:

Sehen wir uns die Abbildungen in H a e c k e l s    Aufsatz über "Das Menschenproblem" an, wie wir sie auf Tafel II und III finden. Die Sandalenkeime des Schweines sind wohl nach meiner Normentafel zur Entwickelungsgeschichte des Schweines (Jena 1897) gegeben; sie sind sehr stark schematisiert und besonders die dritte Stufe weitgehend abgesondert. In der zweiten Reihe (Kaninchen) ist die erste Stufe jedenfalls unrichtig, sie ist die etwas abgeänderte Kopie der veralteten Figur 162 in K o e l l i k e r s    Handbuch von 1879. In der dritten Reihe (Mensch) ist die erste Stufe eine schlechte Kopie nach einem vom Grafen S p e e    beschriebenen Embryo. Jedenfalls ist die Abbildung wiederzuerkennen. Die zweite und dritte Stufe sind Phantasiegebilde, bei denen mehr doer weniger weitgehend Keime von Tarsius und Semnopithecus verwertet sind; die menschlichen Embryonen dieser Stadien - es sind solche bekannt - sehen ganz anders aus.

Von den neun Figuren der Tafel III sind die Figuren F1 und M1 wieder reine Phantasiegebilde; die Figur G1 ist der Figur 18 des von mir herausgegebenen Nachlasses von S e l e n k a    nachgebildet. Wie bei allen Figuren hat H a e c k e l    den Bauchstiel und Dottersack weggelassen, und hat hier, wie fast immer, die Entfernung, vielleicht kann man auch sagen, Unterdrückung dieser Gebilde insofern ungeschickt vorgenommen, als auch Teile des definitiven Körpers mit fortgenommen sind. H a e c k e l    hat die genannten Teile wohl weggelassen, um eine Vergleichung mit Anamnierkeimen zu erleichtern. Ich halte diese Zurechtsutzung nicht für glücklich, doch ließe sich darüber reden; jedenfalls wäre es aber gut, ausdrücklich auf solche Schematisierungen hinzuweisen. Die S e l e n k a   sch e   F i g u r   s t e l l e n   e i n e n   M a k a k e n   ( C e r c o c e b u s   c y n o m o l g u s )   d a r ;     H a e c k e l    bezeichnet seine danach hergestellte Abbildung als Gibbon. Die Figur FII ist einer Figur von mir (nicht von v a n   B e n e d e n   , wie B r a ß    auf der Tafel II und im Text seines Affenproblems [Leipzig 1908] S. 16 angibt) nachgebildet; außer der Entfernung des Nabelstranges ist das Schwanzende leicht verändert. Der Embryo, welchen ich (in H e r t w i g s    Handbuch, Bd. I, 2, S. 132, Fig. 58a) abgebildete habe, ist ein Embryo von Vespertilia murinus; H a e c k e l    bezeichnet ihn als einen Embryo einer anderen Fledermausart (Rhinolophus). Der Embryo GII wird als Gibbon bezeichnet, H a e c k e l    gibt aber in Wirklichkeit wieder die Nachbildung eines Makakenembryo (Cercocebus cynomolgus) und hat nur den Schwanz verkürzt (man vgl. S e l e n k a   , Menschenaffen, 5. Lieferung, herausgegeben von K e i b e l   , Wiesbaden 1903, S. 357, Fig. 28). Der Embryo MII ist wohl dem menschlichen Embryo nachgebildet, den H i s    im Atlas zu seiner Anatomie menschlicher Embryonen auf Tafel X (Normentafel), Fig. 12 und auf Tafel XIII, Fig. 5 gibt. H a e c k e l    hat die H i s   sch e   Z e i c h n u n g   s t a r k   a b g e ä n d e r t . 

   

N a c h   d e m   e b e n   A u s g e f ü h r t e n   i s t   a l s   f e s t g e s t e l l t   z u   b e t r a c h t e n ,   d a ß     H a e c k e l    in v i e l e n    Fällen Embryonen entweder frei erfunden oder Abbildungen anderer Autoren wesentlich abgeändert wiedergegeben hat, und zwar nicht nur dann, wenn es galt, Lücken durch Hypothesen auszufüllen, und auch ohne anzugeben, daß es sich um Schemata und hypothetische Formen handelt. Weiter ist festzustellen, daß in unseren guten Hand- und Lehrbüchern so nicht verfahren wird, und daß ein solches Verfahren als durchaus unwissenschaftlich zu bezeichnen ist. Mindestens für ebenso unzulässig halte ich es, in populären Darstellungen solche Bilder zu geben. B r a ß    hat also seine Vorwürfe zu Recht erhoben. " F ä l s c h u n g e n "   , wie B r a ß    es tut, möchte ich sie nicht nennen, weil H a e c k e l    zweifellos im guten Glauben gehandelt hat. Die Phantasie und der Fanatismus des Religionsgründers läßt i h n    die Dinge so sehen, wie er sie darstellt.

Mit dieser Feststellung ist nun aber die Sache nicht abgetan. B r a ß    wollte nicht allein sein und nicht in erster Linie H a e c k e l    als Menschen und Forscher treffen, sondern H a e c k e l    als einen der berühmtesten Vertreter der Deszendentheorie. Auch B r a ß    ist Fanatiker, nur hat er sehr viel weniger Temperament und Begabung. Er forscht und schreibt " i n   m a j o r e m   D e i   g l o r i a m "   . (Vgl. Ernst Haeckel als Biologe und die Wahrheit. Stuttgart 1906, S. 94.) Nach ihm hat - ich folge der Zusammenfassung des ihm doch gewiß wohlgesinnten " K e p l e r b u n d e s "    (Der Keplerbund 1909, Nr. 5, S. VII) - der Mensch von Anfang an nichts mit der Tierwelt gemein. Er ging von Anfang an aufrecht, war von Anfang an mit freischaffendem Geiste begabt, plötzlich tritt er, wie auch alle anderen Typen der Lebewesen, mit allen seinen charakteristischen, körperlichen und geistigen Eigenschaften hervor. Seine Entstehung können wir uns nur durch einen Schöpfungsakt erklären. Daß ein Naturforscher einen solchen Standpunkt einnehmen kann, ist mir vollkommen unverständlich. Wie soll ein " S c h ö p f u n g s a k t "    überhaupt irgend etwas wissenschaftlich " e r k l ä r e n "   ? Daß der Mensch von affenähnlichen Ahnen abstammt, ist, soweit solche Dinge überhaupt bewiesen werden können, bewiesen. Darüber sind keine Worte weiter zu verlieren. Zu diskutieren sind nur die E i n z e l h e i t e n    des Werdeganges, und da kann man in vielen Dingen allerdings verschiedener Meinung sein. Doch wird B r a ß    vielleicht durch Eingehen auf einige Einzelheiten am besten charakterisiert. Daß er auf der Tafel IV, Fig. 1 seines Affenproblems eine Abbildung B o n n e t    zuschreibt, welche er einer Arbeit von mir entnommen hat, mag hingehen; ebenso der schon erwähnte Irrtum mit dem Fledermausembryo, den er im Text und auf der Tafel fälschlich v a n     B e n e d e n    statt mir zuschreibt; in der Tafelerklärung läßt er ihn mich nach "Embryonen" zeichnen. Selbstverständlich habe ich jedes meiner Bilder nach einem bestimmten Embryo gezeichnet. Ich erwähne diese Dinge nur, um zu zeigen, daß auch B r a ß   , der sich seiner Sorgfalt und Gründlichkeit so viel rühmt, nicht ganz zuverlässig im Zitieren ist. Schlimmer ist, daß er auch im Tatsächlichen auf unsicherer Grundlage steht. B r a ß    weiß nicht, daß beim Menschen ein Primitivstreifen und eine Primitivrinne einwandfrei nachgewiesen sind. Über die Frage des embryonalen Schwanzes des Menschen kennt er die vorliegenden Tatsachen offenbar auch nicht. Daß der Urwirbel (besser Ursegment), welchen B r a ß    bei der H i s   sch e n   Z e i c h n u n g   ( T a f e l   I V ,   F i g .   3   s e i n e s   A f f e n p r o b l e m s )   a l s   d e n   3 3 .   b e z e i c h n e t ,   n c i h t   d e r   3 3 .   i s t ,   s o n d e r n   e i n e   h ö h e r e   O r d n u n g s z a h l   h a t ,   i s t   z w e i f e l l o s .   D i e   a m   w e i t e s t e n   k o p f w ä r t s   g e l e g e n e n   U r s e g m e n t e   s i n d   n u r   i m   O b e r f l ä c h e n b i l d e   n i c h t   z u   e r k e n n e n   g e w e s e n .   S o l c h e r   U r s e g m e n t e   s i n d ,   w i e   m a n   i n   d e r   N o r m e n t a f e l   z u r   E n t w i c k e l u n g s g e s c h i c h t e   d e s   M e n s c h e n   v o n   m i r   u n d     E l z e    (Jena 1908) nachschlagen kann, beim Menschen bis zu 43 (Tabelle 27) nachgewiesen; auch früher waren schon höhere Zahlen bekannt, als die der menschlichen Wirbel, denen die Urwirbel übrigens durchaus nicht ohne weiters entsprechen. Auch entwickelungsgeschichtliche "Entdeckungen" berichtet uns B r a ß   . Er beschreibt die Entwickelung der Blutgefäße und des Herzens in durchaus "origineller" Weise. So weit ich urteilen kann, entspricht die Darstellung den Tatsachen nicht. B r a ß    gibt sie als ganz sicher und verfällt also hier in denselben Fehler, welchen er mit Recht an H a e c k e l    hart rügt - gewiß optima fide. Ob man mit dem Zeichenstift oder mit dem Wort falsche Darstellungen gibt, das ist doch nur ein gradueller, kein prinzipieller Unterschied.

So können wir denn sagen: Prophete rechts, Prophete links. H a e c k e l    wie B r a ß    verkennen in gleicher Weise das Wesen und die Tragweite naturwissenschaftlicher Forschung. Die Naturwissenschaft hat nichts über Wert und Zweck auszusagen; sie hat Tatsachen festzustellen und die kausale Verknüpfung von Tatsachen. Den Wert der Wahrheit setzt sie voraus, ohne ihn mit ihren Methoden beweisen zu können. -

Die Keplerbündler wollten aber mehr als bloß das Urteil eines einzigen Naturforschers. S i e   v e r s c h i c k t e n   e i n   R u n d s c h r e i b e n    an die deutschen Embryologen und Anatomen, um diese zu bewegen, über Haeckel Gericht zu halten. Die Antwort der also Provozierten war die folgende, Mitte Februar veröffentlichte

E r k l ä r u n g   

Die unterzeichneten Professoren der Anatomie und Zoologie, Direktoren anatomischer und zoologischer Institute und naturhistorischer Museen usw. erklären hiermit, daß sie zwar die von Haeckel in einigen Fällen geübte Art des Schematisierens nicht gutheißen, daß sie aber im Interesse der Wissenschaft und der Freiheit der Lehre den von Braß und dem "Keplerbund" gegen Haeckel geführten Kampf aufs schärfste verurteilen. Sie erklären ferner, daß der Entwickelungsgedanke, wie er in der Deszendenztheorie zum Ausdruck kommt, durch einige unzutreffend wiedergegebene Embryonenbilder keinen Abbruch erleiden kann.

Dietrich B a r f u r t h   , Rostock. Robert B o n n e t   , Bonn. Theodor B o v e r i   , Würzburg, Karl C h u n   , Leipzig. K. E c k s t e i n   , Eberswalde. Ernst E h l e r s   , Göttungen, K. E s c h e r i c h   , Tharandt. Paul F l e c h s i g   , Leipzig. Max F ü r b r i n g e r   , Heidelberg. Leo G e r l a c h   , Erlangen. Alex. G o e t t e   ,Straßburg i. E. Ludwig v .   G r a f f   , Graz. Karl G r o b b e n   , Wien, Johann Karl H a s s e   , Breslau. Berthold H a t s c h e k   , Wien. Karl H e i d e r   , Innsbruck. Richard H e r t w i g   , München. Ferdinand H o c h s t e t t e r   , Wien. Moritz H o l l   , Graz. Erich K a l l i u s   , Greifswald. E. B. K l u n z i n g e r   , Stuttgart. G. v .   K o c h   , Darmstadt. Julius K o l l m a n n   , Basel. Eugen K o r s c h e l t   , Marburg. Karl K r a e p e l i n   , Hamburg. Willy K ü k e n t h a l   , Breslau. Arnold L a n g   , Zürich. Friedrich M e r k e l   , Göttingen. Siegfried M o l l i e r   , München. Georg P f e f f e r   , Hamburg. Ludwig P l a t e   , Jena. Karl R a b l   , Leipzig. Heinrich R e i c h e n b a c h   , Frankfurt a. M. L. R h u m b l e r   , Hann.-Münden. F. R ö m e r   , Frankfurt a. M. Johannes R ü c k e r t   , München. Georg R u g e   , Zürich. H. S c h a u i n s l a n d   , Bremen. Gustav S c h w a l b e   , Straßburg i. E. Frank Eilhard S c h u l z e    Berlin. August W e i s m a n n   , Freiburg i. B. Rober W i e d e r s h e i m   , Freiburng i. B. Emil Z u c k e r k a n d l   , Wien.

Von den Kommentaren, die diese Erklärung in der Keplerbundpresse fand, sie hier die des "Reich" vom 25. Februar wiedergegeben:

Abgesehen von diesem Zugeständnis, auf das es in der vorliegenden Angelegenheit sachlich a l l e i n    ankommt, macht alelrdings die Erklärung einen überaus seltsamen Eindruck, und wir wundern uns, daß dazu eine so große Zahl gelehrter Herren, darunter Namen von bisher gutem Klang (- "von bisher gutem Klang" ist gut! -) wie Waldyer, Chun, Boveri u. a., ihr Einverständnis erklären konnten. Da ist es zunächst der Kunstgriff, durch das "zwar", "aber" die Aufmerksamkeit des Lesers von der Hauptsache, worauf es ankommt, abzulenken auf etwas anderes, was doch auf jeden Fall nur Begleiterscheinung ist, wie man die Sache auch ansehen mag. Hier bieten uns die Herren das Schauspiel eines Richters, der mit zweierlei Maß mißt, dessen unverkennbares Bemühen es ist, den Schuldigen, der sein Freund ist, milde zu behandeln, den Kläger aber, der nicht sein Freund ist, durch erbarmungsloses Draufschlagen mundtot zu machen. Geradezu unerhört wird diese Ungerechtigkeit, wenn man weiß, was die Herren doch auch wissen müssten, daß Haeckel es mit seinem Vorwurfe "bewußt dreister Unwahrheit" z u e r s t    gewesen ist (vor Erscheinen der Broschüre!), der den Streit auf das persönliche Gebiet geleitet hat, daß Braß also doch in Notwehr gehandelt hat (- dazu mag das "Reich" die Feststellung S. 6 nachlesen -). Wir fragen: Warum verschweigen die Herren Unterzeichner bei Haeckel das, was sie bei Braß aufs schärfste verurteilen? Wir erhoffen Antwort auf diese Frage, wenn wir ihnen nicht einen solchen Grad parteilicher Befangenheit zumessen sollen, die ernsten Männern nicht ansteht. Und nun kommt noch etwas besonders Schönes: Die Herren verschmähen es nicht, entgegen jeder Logik und entgegen den in der dieser Sache vorliegenden Verhältnissen ihren Spruch "im Namen der Wissenschaft und der Freiheit der Lehre" zu geben. Das ist hier nicht nur eine gänzlich deplazierte Phrase, sondern geradezu eine Irreführung der ununterrichteten Leser. Denn sowohl Dr. Braß als auch der Keplerbund sind entschiedenste Vertreter der Freiheit der Wissenschaft. (!) Wir erwarten vom Keplerbund, der hier ebenfalls durchaus unsachlicher Weise angegriffen ist, noch eine Würdigung dieser Erklärung. Unsererseits wollen wir nur noch hinzufügen, daß unser Volk Herrn Dr. Braß und, sowei er beteiligt ist, dem Keplerbund zu allergrößtem Dank verpflichtet ist, nicht nur wegen der Beseitigung der Autorität Haeckels, dessen Wissenschaft auf so windigen Stützen steht, sondern auch, weil durch diese Sache ein Schlaglicht geworfen ist auf den in den Krreisen der Zoologen, Anatomen usw. offenbar herrschenden Brauch, Unangenehmes zu verschweigen. Erst die Erkenntnis des Übels kann zu seiner Übewindung führen. -e-

Eine Anzahl Mitglieder des Keplerbundes erklärte im "Reich" vom 9. März:

1. Wir mißbilligen zwar den Ton, den Braß gegen Haeckel in seiner letzten Broschüre anschlägt, die Gerechtigkeit erfordert aber die Feststellung der Tatsache, daß Braß durch Haeckels maßlose, dem Erscheinen der Broschüre voraufgegangenen persönlichen Beleidigungen ("unehrlicher Rabulist", "bewußte dreiste Unwahrheit" u. dgl.) gereizt und zu seinem Stil geradezu provoziert worden ist. (- Man vergleiche zu dieser Verdrehung die Feststellung S. 6. -) Wir hätten es daher im Interesse der Aufklärung der Angelegenheit gern gesehen, wenn die 46 Unterzeichner der Erklärung diese Tatsache berücksichtigt und dadurch deutlich und bestimmt ihre Objektivität zu erkennen gegeben hätten.

2. Wir verstehen nicht, inwiefern die Freiheit der Lehre die Verurteilung des von " B r a ß    und dem Keplerbung" gegen H a e c k e l    geführten Kampfes nötig machte. E s   s t e h t   a b s o l u t   f e s t ,   d a ß   B r a ß   s e i n e m   G e g n e r   e i n e   n i c h t   g u t   z u   h e i ß e n d e   M e t h o d e   n a c h g e w i e s e n   h a t .    Darin liegt ein Verdienst, aber keine Gefährdung der Lehrfreiheit. Nach unserer Ansicht hat sich Braß nicht gegen die "Lehrfreiheit", sondern lediglich gegen den guten Geschmack vergangen, als er eine ihm richtig erscheinende Tatsache in geschmackloser Form öffentlich feststellte. Vollends unverständlich ist die Berufung auf die Lehrfreiheit dem Keplerbunde gegenüber, da dieser selbst laut § 2 seiner Statuten auf dem Boden der Freiheit der Forschung steht.

3. Auch wir gebenzu, daß die Deszendenztheorie durch einige unzutreffend wiedergegebene Embryonenbilder keine Abbruch erleiden kann. Wir haben aber ausdrücklich herver, daß der Keplerbund die Descendenztheorie überhaupt nicht bekämpft (cf. Koelsch, S. 37f.). Im Gegenteil ist seitens mehrerer unserer Redner wiederholt erklärt worden, daß auch sie an dem Entwickelungsgedanken festhalten. Wenn ein Gelehrter des Keplerbundes (- cg. dem Brief von Schuldirektor Vorwerk, weiterhin Keibel, Hertzwig und Rabl -) wie Dr. B r a ß   , auf Grund eigener Forschungen zu einen entgegengesetzten Standpunkt gelangt und diesen öffentlich vertritt, so beweist das nur, wie ernst es geade dem Keplerbunde um die Lehrfreiheit ist, und daß dieser nicht daran denkt, auf seine Anhänger irgendwelchen Gewissenszwang auszuüben. (- Hier werden die Herren direkt humoristisch. -)

4. Wir stellen fest, daß im Gegensatz zu H a e c k e l   , welcher seine "Art des Schematisierens" für zulässig hält, die 46 Unterzeichner der eingangs erwähnten Erklärung sie ausdrücklich " n i c h t   g u t h e i ß e n "   . Daß diese wichtige Tatsache nicht rein äußerlich durch Sperrdruck in der Veröffentlichung hervorgehoben wurde, wie dies bei der Verurteilung des Keplerbundes geschah, kann ihren Wert keineswegs erabsetzen.

Professor A. B e r b e r i c h   , Astronom, Tempelhof. B u s c h , Oberlehrer. R. G r i e s e b a c h   , Regierungs-Präsident und Kammerpräsident a. D. Dr. Karl. H a u s e r   , L. K n y   , Dr. phil., Profesosor der Botanik an der Universität und der Landw. Hochschule. G. J. K r o n e r   , Redakteur. Professor Dr. Fr. K r ä n z l i n   . Professor Dr. Karl K ü n z e l   , Friedenau. Dr. A. L a s s o n   , Professor an der Universität. Professor Dr. L e n s c h   . R. M e i ß n e r   , Arzt. Professor Dr. N ü t z e l   . Dr. Joh. R i e m   , Astronom. Dr. med. Fritz S a c h s   . Walter S t a h l b e r g   . Dr. V o g e l   , Geheimer Regierungsrat, Friedenau. Dr. Max Z a c h a r i a s   , Oberlehrer. Professor Dr. Z e i t s c h e l   . Dr. Paul Z ü h l k e   , Oberlehrer.

Was Dr. Braß selbst zu der Erklärung zu sagen hatte, kann jedermann, wenn er Lust hat, in der Nr. 49 der Unterhaltungsbeilage zur "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" nachlesen. H i e r   v e r w e i g e r e   i c h   s e i n e m   G e s c h w ä t z   d e n   R a u m .

Später, im März, erschien in der "Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" die folgende Erklärung:

Die unterzeichneten Hochschullehrer und Direktoren usw. wissenschaftlicher Institute, Mitglieder und Nichtmitglieder des Keplerbundes, haben einer durch die Zeitungen gegangenen, von einer Anzahl Zoologen und Anatomen unterzeichneten Kundgebung gegenüber folgendes zu erklären:

1. Wir sind mit dem Keplerbund durchaus einverstanden, wenn er es sich zur Aufgabe gemacht hat, in positiver Arbeit unter Beachtung der für die Naturwissenschaft geltenden Grenzen für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in unserem Volke zu wirden. Der Keplerbund steht dabei auf dem Boden einer absolut freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Es muß daher als eine I r r e f ü h r u n g   d e r   ö f f e n t l i c h e n   M e i n u n g    bezeichent werden, wenn die Unterzeichner jener Erklärung "im Interesse der Wissenschaft und Freiheit der Lehre" eine angeblich vom Keplerbund gegen Haeckel geführten Kampf "auf das schärfste verurteilen". Der Keplerbund als solcher hat überhaupt diesen Kampf gegen Haeckel nicht eröffnet; wenn einzelne seiner Mitglieder mit dem Jenenser Gelehrten in persönliche Fehde geradten sind, so war das deren Sache. Übrigens aber waren sie überwiegend der a n g e g r i f f e n e   T e i l .   .

2. Wir sind ebenso mit dem Keplerbund durchaus einverstanden, wenn er es für E h r e n s a c h e    erklärt, dafür einzutreten, daß auch fernerhin in der deutschen Wissenschaft u n v e r b r ü c h l i c h e   W a h r h e i t s l i e b e    und s t r e n g   ste r     W a h r h e i t s s i n n    als u n b e d i n g t e   E r f o r d e r n i s s e    gelten. Wer diese Grundlagen wissenschaftlicher Forschung und Lehre verletzt, verdient eine scharfe Zurückweisung. Mögen über das, was W a h r h e i t    sei, die Meinungen im einzelnen noch so wiet auseinander gehen, über das, was W a h r h a f t i g k e i t    ist, müssen wir alle einig sein; sonst verliert die Wissenschaft den Boden unter den Füßen. W i e   w ü r d e   m a n   e s   n e n n e n ,   w e n n   e i n   G e s c h i c h t s f o r s c h e r ,   u m   e i n e   L i e b l i n g s m e i n u n g   d u r c h z u s e t z e n ,   B u c h s t a b e n   e i n e r   I n s c h r i f t   m i t   a n d e r e n   v e r t a u s c h e n   w o l l t e ?   D i e   g e r i n g e   G e i s s e n s c h a f t i g k e i t   H a e c k e l s    bei seiner Popularisierung naturwissenschaftlicher Tatsachen und naturphilosophischer Ideen ist nicht nur von Dr. Braß, sondern von v e r s c h i e d e n e n   S e i t e n   f e s t g e s t e l l t    worden. Wir erinnern vor allen Dingen an Wilh. His, der bereits 1875 in seinem klassischen Buche "Unsere Körperform" unnachsichtlich die w i l l k ü r l i c h e n   A b ä n d e r u n g e n    brandmarkte, die Haeckel mit den von ihm benutzten Beweisstücken wissenschaftlicher Forschung vorgenommen hatte. Einer l a x e n   A u f f a s s u n g   , welche solche Änderungen von Zeichnungen anderer Forscher, wie sie in Haeckels Schriften durch Rütimeyer, His und Braß aufgedeckt wurden, für belanglos erklärt, können wir nicht zustimmen.

3. Der Kampf gegen die von Haeckel beliebte Methode der Wissenschaft hat nicht das geringste mit der Entwicklungslehre zu tun, die unter uns die entschiedensten Vertreter zählt. Wenn es daher in jener Erklärung heißt, "daß der Entwicklungsgedanke, wie er in der Deszendenztheorie zum Ausdrucke kommt, durch einige unzutreffend wiedergegebene Embryonenbilder keinen Abbruch erleiden kann", so ist dies vollkommen selbstverständlich, erweckt aber im Zusammenhange der ganzen Erklärung die irrige Vorstellung, daß der Keplerbund als solcher die Entwicklungslehre bekämpfe. Eine derartige Behauptung wäre Verleumdung.

Schließlich bitten wir unsere Kollegen an den deutschen Hochschulen, dem Keplerbunde eine gerechte Beurteilung auf Grund seiner eigenen Veröffentlichungen zuteil werden zu lassen. Es ist ein schweres Unrecht, sich zu seinem Richter aufzuwerfen, wenn man über seine Ziele nicht oder falsch unterrichtet ist.

Prof. A. Berberich, Observator am Königl. astron. Recheninstitut, Berlin; Geh. Bergrat Dr. G. Berendt, Professor der Geologie, Berlin; Geh. Bergrat Prof. Dr. Beyschlag, Direktor der Königl. geol. Landesanstalt, Berlin; Geh. Bergrat Dr. W. Branca, Professor der Geologie und Paläontologie, Berlin; Prof. Dr. W. Bruhns (Straßburg); Prof. Dr. Bücking (Straßburg); Prof. Dr. Classen (Hamburg); Dr. Esser, Direktor des Botanischen Gartens, Köln; Prof. Dr. Forster (Bern); Prof. Dr. med. Göbell (Kiel); Prof. Dr. P. Gruner (Bern); Prof. Dr. mit Gysi (Zürich), Prof. Dr. O. Hamann (Berlin); Prof. Dr. E. Hartwig, Direktor der Remeis-Sternwarte, Bamberg; Prof. Dr. P. Holdefleisz (Halle); Dr. F. Knauer-Klausen (Wien); Geh. Rat Prof. Dr. Kny (Berlin); Prof. Dr. med. Kocher (Bern); Hofrat Prof. Dr. med. H. Lossen (Heidelberg); Prof.Dr. S. v. Nathusius (Jena); Prof. Dr. med. Niehans (Bern); Geh. Rat Prof. Dr. J. Reinke (Kiel); Dr. J. Riem, Observator an dem Königlichen astronomischen Recheninstitut, Berlin; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. med. Seeligmüller (Halle); Geh. Rat. Prof. Dr. Valentiner (Heidelberg).

Den genannten Naturforschern und Ärtzten schließen sich an:

Geh. Baurat Prof. Dr. Baumeister (Karlsruhe); Geh. Justizrat Prof. Dr. Bierling (Greifswald); Prof. Dr. Keppelmann (Münster); Geh. Rat Prof. Dr. Lasson (Berlin); Prof. Dr. Lindner (Leipzig); Prof. Dr. Rade (Marburg); Geh. Rat Prof. Dr. Rein (Bonn); Geh. Rat Prof. Dr. V. Schultze (Greifswald); Prof. Dr. R. Seeberg (Berlin); Prof. Dr. Teichmüller (Karlsruhe); Geh. Justizrat Prof. Dr. Zorn (Bonn).

Zu dieser " E r k l ä r u n g "    sind sofort folgende Bemerkungen zu machen:

F ü r   d i e    fachmännische Beurteilung d e s   E m b r y o n e n s t r e i t e s   k o m m e n   d i e   h i e r   u n t e r z e i c h n e t e n   H o c h s c h u l l e h r e r   u n d   D i r e k t o r e n  usw. w i s s e n s c h a f t l i c h e r   I n s t i t u t e    durchaus nicht in Betracht. Astronomen, Geologen, Mineralogen, Botaniker, Chirurgen, Justizräte und Philosophen haben hier durchaus nicht dasselbe Gewicht wie Zoologen, Anatomen und Embryologen. Das sei den Veranstaltern dieser Erklärung gesagt, die den 46 "Professoren der Anatomie und Zoologie, Direktoren usw. anatomischer und zoologischer Institute und naturhistorischer Museen" in leicht durchschaubarer Taktik eine Reihe anderer "Hochschullehrer und Direktoren usw. wissenschaftlicher Institute" gegenüberstellen wollten.

Dies zunächst. Sodann zum Prinzipiellen: Unverbrüchliche Wahrheitsliebe und strengster Wahrheitssinn gelten auch für uns als unbedingte Erfordernisse; und darum erklären wir hier: P u n k t   1   d i e s e r   E r k l ä r u n g ,   d e r   p r i n z i p i e l l   w i c h t i g s t e   P u n k t ,   e r h ä l t   n i c h t   W a h r h e i t ,   s o n d e r n   e t w a s   a n d e r e s .    Es ist nicht wahr, daß der Keplerbund auf dem Boden einer absolut freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre steht. Es ist dies so lange nicht wahr, als ein Dr. Eberhard Dennert der wissenschaftliche Direktor des Keplerbundes ist, ein Dr. Dennert, welcher der wissenschafltichen Forschung vor dem Gottesglauben ein Halt! gebieten möchte, ein Dr. Dennert, der das Christentum "naturwissenschaftliche orientieren" will, dem also, mit deutlichen Worten gesagt, die Naturwissenschaft ein M i t t e l    ist, gerade gut genug, den wankenden christlichen Glauben zu stützen. *)

[*) Für die "absolut freie wissenschaftliche Forschung und Lehre" des Begründers und wissenschaftlichen Direktors des Keplerbundes, Dr. Eberhard Dennerts, seien hier noch einige Leitsätze aus dessen Buch "Bibel und Naturwissenschaft" (Kielmann, Stuttgart) angeführt:

18. Die Grundwahrheiten des Schöpfungsberichtes der Genesis sind: D i e   W e l t   i s t   a u f   G e h e i ß   e i n e s   p e r s ö n l i c h e n ,   a u ß e r w e l t l i c h e n   G o t t e s    entstanden und sie stellt eine geordnete Harmonie dar.

41. Gibt es einen persönlichen Gott, so hat er auch einen freien Willen und kann demnach in das Naturgeschehen eingreifen.

44. Wie der Künstler die von ihm gespielte Melodie auf Wunsch in eine andere überführen kann, nicht gegen, sondern gerade mit Hilfe der akustischen Gesetze, so kann auch Gott die Naturkräfte benutzen, um Gebete zu erhören.

Der Keplerbund beseitigte Herrn Dr. Eberhard Dennert und verbanne den Dennertschen Geist aus seiner Arbeit, aber völlig, gründlich, ohne Hinterlist; so wollen wir an seine Ehrlichkeit in Sachen der Naturwissenschaft glauben. B e v o r   d i e s e   R e i n i g u n g   n i c h t   v o r g e n o m m e n   i s t ,   g l a u b e n   w i r   n i c h t   d a r a n ,   u n d   n i e m a n d   k a n n   d a r a n   g l a u b e n ,   d e r   d i e   Z i e l e   k e n n t ,   d i e   d e m   K e p l e r b u n d   v o n   s e i n e m   B e g r ü n d e r   u n d   w i s s e n s c h a f t l i c h e n   L e i t e r   D r .   E b e r h a r d   D e n n e r t   v o r g e s c h r i e b e n   s i n d .    Timeo Danaes et dona ferentes!

Unwahl ist ferner in der Erklärung, der Keplerbund als solcher habe diesen Kampf gegen Haeckel nicht eröffnet. Der Keplerbund ist mit der kundgegebenen Absicht begründet worden, Ernst Haeckel und seine Lehre zu bekämpfen, und die Redner des Keplerbundes, Dennert und Braß, waren es in der Tat, die diesen Kampf gegen Haeckel eröffnet haben.

Unwahr ist ferner, daß diese einzelnen Mitglieder des Keplerbundes überwiegend der a n g e g r i f f e n e   T e i l    gewesen seien. Ich will zur Entschuldigung der hier unterzeichneten Hochschullehrer usw. annehmen, daß sie die gehässigen Angriffe, die Dr. Dennert seit Jahren, Dr. Braß seit zwei oder drei Jahren, gegen Haeckel gerichtet haben, nicht kennen. Aber ist es nicht ein schweres Unrecht, in einem solchen Streit ein so bestimmtes Urteil abzugeben, ohne die Akten des Streites genau zu kennen?

Über die M e t h o d e    Haeckels ist im Schlußwort nachzulesen, was unverbrüchliche Wahrheitsliebe und strengster Wahrheitssinn darüber zu sagen haben. Nur muß ich auch hier schon bemerken, daß selbst die hier unterzeichneten Hochschullehrer usw. in gewissem Sinne sich haben düpieren lassen von dem Veranstalter der Erklärung: e s   i s t   d e m   K e p l e r b u n d   i m   G r u n d e   s e i n e s   H e r z e n s   n i c h t   u m   d i e   M e t h o d e   z u   t u n ,   s o n d e r n   u m   d i e   p h i l o s o p h i s c h e n   K o n s e q u e n z e n ,   d i e   H a e c k e l   a u s   d e r   E n t w i c k e l u n g s l e h r e ,   s p e z i e l l   a u s   d e m   t i e r i s c h e n   U r s p r u n g   d e s   M e n s c h e n   g e z o g e n   h a t .    Der Keplerbund mit seinem Begründer und wissenschaftlichen Direktor Dr. Eberhard Dennert an der Spitze mag dies leugnen, wenn er den Mut dazu hat.

Inzwischen waren noch mehrere wichtige Dokumente des Embryonenstreites veröffentlicht worden, die dem Streit allmählich eine andere Wendung gaben.

Die in Nur. 81 der "M. N. N." wiedergebene Erklärugn der Anatomen und Zoologen usw. veranlaßte den Direktor der Bayerischen Handelsbank W. Frhrn. v .   P e c h m a n n    in München als Mitglied des K e p l e r b u n d e s   z u   e i n e m     o f f e n e n   B r i e f    an den Mitunterzeichner jener Erklärung, Geheimrat Dr. R i c h a r d   H e r t w i g   , Professor der Zoologie an der Universität München. Freiherr v. Pechmann schrieb u. a. ("M. N. N." vom 25 Februar 1909):

Mein hochverehrter Herr Geheimrat!

Als einer der wenigen, welche sich bis jetzt hier in München dem Keplerbunde angeschlossen haben - es werden aber, ich hoffe es, mit der Zeit mehr werden -, fühle ich mich verpflichtet und berechtigt, auf die öffentliche "Erklärung" einer großen Zahl von Anatomen und Zoologen, die zu meinem Schmerze auch Ihre Unterschrift trägt, das Folgende öffentlich zu erwidern:

Es war mir oft genug vergönnt, auf dem Felde der Politik, eng verbunden, Schulter an Schulter, mit Ihnen zu kämpfen; sos lassen Sie uns zur Abwechslung auch einmal, auf anderem Felde, die Klingen miteinander kreuzen: auch dies mit Freudigkeit, da einer vom andern weiß, wie ehrlich er´s mit der Wahrheit, wie gut und treu er´s mit unserem Volke meint.

1. Die "Erklärung" wendet sich gegen Dr. Braß und gegen den Keplerbund. Es steht mir nicht zu, für Dr. Braß das Wort zu nehmen, von dessen Schriften ich auch noch keine gelesen habe; ich trete nur für den Keplerbund ein, ohne daß ich damit Dr. Braß preisgeben will.

2. Ernst Haeckel ist in seiner öffentlichen Wirksamkeit zweierlei, Zoolog und Naturphilosoph; ich habe es hier nur mit dem zweiten zu tun.

3. Als Popularphilosoph hat Haeckel wohl mehr als irgendein Lebender getan, um in die weitesten Kreise der Bildung, der Halbbildung und der Unbildung das Dogma zu tragen, daß christlicher Glaube und jede Art von Gottesglauben durch die Ergebnisse der Naturwissenschaft überwunden, wissenschaftlich als unhaltbar erwiesen seien. Er ist der Ehrenpräsident des Monistenbundes, der sich zu diesem Dogma bekennt und von hier aus allen Gottesglauben nicht ohne Fanatismus bekämpft.

4. Dieses Dogma ist falsch. Das wissen wir beide, und zur Ehre der deutschen Wissenschaft, für die kein Herz wärmer schlagen kann als das meinige, nehme ich an, daß auch die meisten der anderen Unterzeichner Ihrer "Erklärung" wissen, daß und warum es falsch isst, wenn auch nicht alle wissen werden, daß z. B. kein Geringerer als Pasteur bekannt hat: "Ich bete während meiner Arbeit im Laboratorium." Wie weit Charles Darwin es von sich gewiesen hätte und ausdrücklich es von sich gewiesen hat, sich zu einem solchen Dogma zu bekennen, wissen Sie besser als ich.

5. Ich gehe nicht auf die Wirkungen ein, welche die Verbreitung dieses Dogmas gehabt hat und haben wird. Sie sind für die Wissenschaft, bei der wir für heute bleiben wollen, vielleicht belanglos; für sie genügt, daß es falsch ist.

Um so nachdrücklicher bitte ich Sie, sich die Methoden zu vergegenwärtigen, deren sich Haeckel bedient. Sie liegen vor aller Augen und sind von den berufendsten Gelehrten in einer Weise beleuchtet worden, die für Haeckel als Popularphilosophen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als vernichtend ist. Ich erinnere, um nur von denen zu sprechen, die ich selbst genau kenne und zu beurteilen vermag, an Loofs, an Adickes und Pausen und Chwolson. Haeckels Methoden heißen Dilettantismus (gesteigert bis zu unverzeihlicher Ignoranz), Dogmatismus, Fanatismus, und sie verbinden sich mit einem in der deutschen Wissenschaft unerhörten Mangel an Fähigkeit, der Wahrheit die Ehre zu geben, aber auch mit einer gleich unerhörten Skrupellosigkeit an Verdächtigung und Beschimpfung.

6. Daß ein solcher Popularphilosoph bekämpft wird, ist natürlich und in der Ordnung; und wenn gegenüber der Propaganda des Haeckelschen Monistenbundes diejenigen, die das Grunddogma dieses Bundes für praktisch verderblich, wie für wissenschaftlich falsch halten, zu wirksamer Bekämpfung sich unter dem ehrwürdigen Namen des großen und frommen Kepler zu einem Gegenbunde zusammenschließen, so wird dies nicht mißbilligt, geschweige "aufs schärfste verurteilt" werden können, es müßte denn sein, daß die Art, wie sie den Kampf führen wollen, nicht besser wäre, als die des Herrn Haeckel und seines Monistenbundes.

7. Wie führt der Keplerbund den Kampf? Ich habe mich darüber im Juni vorigen Jahres,unabhängig von den Gründern und Leitern des Bundes, aber in voller, nachträglich bestätigter Übereinstimmung mit ihnen folgendermaßen ausgesprochen:

". . . Dem ebenso gefährlichen wie haltlosen Dogma von der angeblichen Unvereinbarkeit einer christlichen Weltanschauung mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, soll entgegengetreten weden: nicht durch Negation, sondern in positiver Arbeit, indem der praktische Beweis geführt wird, daß man auf der Höhe der Naturerkenntnis unserer Tage stehen, und daß man es unternehmen kann, ihre Errungenschaften unverkürzt und unverschleiert zum Gemeingut der allgemeinen Bildung zu machen, ohne darum die Grundlagen des christlichen Gottesglaubens aufzugeben, und sich den widerchristlichen Dogmen der Haeckelschen Afterphilosophie zu unterwerfen."

8. Und nun bitte ich Sie, mein hochverehrter, lieber Herr Geheimrat, mir zu sagen, ob Sie wirklich Grund und Recht haben, den so geführten Kampf unseres Keplerbundes gegen Haeckel "aufs schärfste zu verurteilen", vollends "im Interesse der Wissenschaft und der Freiheit der Lehre" diesen notwendigen und gerechten Kampf "aufs schärfste zu verurteilen".

Wenn Sie diese Frage bejahen wollen, bitte ich weiter, mir zweierlei zu saben: Erstens, wo, wann und wie irgend etwas geschehen ist, was auch nur im entferntesten darauf schließen ließe, daß der Keplerbund gesonnen, oder daß sein Unternehmen geeignet wäre, der "Freiheit der Lehre" zu nahe zu treten (vielleicht werfen Sie auch, ehe Sie diese Frage beantworten, einen Blick in die Liste der Mitglieder). Und zweitens, ob Sie ernstlich der Meinung sind, daß es dem Interesse der Wissenschaft mehr dient, wenn Haeckel ihre Autorität mißbraucht, um jenseits ihrer Grenzen schlechte Philosophie als echte Wissenschaft in Kurs zu setzen, als wenn der Keplerbund sich bemühen will, die Errungenschaften der Naturwissenschaft "unverkürzt und unverschleiert zum Gemeingut der allgemeinen Bildung zu machen".

Ich unterdrücke die Bemerkung, wie sonderbar es anmutet, wenn im Falle einer zweifellos festgestellten Fälschung nicht der Fälscher, sondern der, der sie festgestellt hat, von den Fachgenossen "aufs schäfste verurteilt", und wenn mit einem Euphemismus, der mich lebhaft an das famose "corriger la fortune" in Lessings Minna von Barnhelm erinnert, die Fälschung von W. Roux in der Beilage der "Münchener Neuesten Nachrichten" vom 16. Februar "nicht gebilligt", von dem Urheber der "Erklärung" aber als eine nicht gut zu heißende "Art des Schematisierens" beschönigt wird. Ich gehe darauf nicht weiter ein; denn ich kann hier nur von Eindrücken eines Laien sprechen.

Aber ich bin optimistisch genug, zu glauben und zu hoffen, daß die beiden ersten Fragen von Ihnen und von Ihren Herren Kollegen werden verneint werden, weil sie verneint werden müssen, und daß die ganze "Erklärung" zurückgenommen werden wird " i n   I n t e r e s s e   d e r   W i s s e n s c h a f t "   .

Treten Sie dem Keplerbunde bei!

In alter aufrichtiger Verehrung

ganz der Ihrige

W. Freiherr v. Pechmann.

Professor Richard Hertwig antwortete diesem arroganten Vertreter kurz und bündig, treffend und genügend, wie folgt:

Sehr geehrter Herr Baron!

Auf Ihren offenen Brief habe ich nur wenige Wort zu erwidern.

Die öffentliche Erklärung, auf welche Sie sich beziehen, und welche die meisten aller Fachvertreter für Zoologie und Anatomie in Deutschland unterschrieben haben, ist eine Antwort auf eine Provokation des Keplerbundes. In zwei Rundschreiben, welche seine Vertreter versandt haben, wurden uns Fragen vorgelegt, welche offenbar den Zweck hatten, in dem Streit Braß contra Haeckel gegen letzteren eine Art Ostrazismus herbeizuführen. Wenn ich der Aufforderung, die Erklärung der Fachvertreter mit zu unterzeichnen, nachgekommen bin, so geschah es, um meiner Entrüstung über dieses Verfahren Ausdruck zu geben. Meine Entrüstung war um so lebhafter, als ich dem Namen Braß zum erstenmal wieder begegnete, nachdem die wissenschaftliche Tätigkeit des Mannes auf dem Gebiete der Zoologie vor 25 Jahren mit einem Mißerfolg ihr verdientes Ende gefunden hatte, als ich anderseits weiß, wie sehr die Zoologie der Genialität Haeckels trotz der begangenen Fehler zum Danke verpflichtet ist.

Unsere Erklärung richtet sich, was eigentlich überflüssig ist zu betonen, gegen das Verfahren des Keplerbundes nur insoweit sich derselbe in einen zoologischen Streit eingemischt hat. Ich habe daher keine Veranlassung, auf den Teil Ihres Briefes einzugehen, welche sich auf den Kampf der Weltanschauungen bezieht. Nur muß ich Ihnen das Recht absprechen, in meinem Namen ein Urteil abzugeben, wie es an einer Stelle Ihres Briefes geschehen ist. Unsere Anschauungen gehen so weit auseinander, daß wir uns nur auf dem Boden der Toleranz begegnen können.

München, 23 Februar 1909

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr ganz ergebendster

Professor Richard Hertwig.

Endlich nahm auch noch Professor R a b l    (Leipzig) das Wort. In der "Frankfurter Zeitung" vom 5. März schrieb er über "unsere Erklärung":

Wie zu erwarten war, hat die von einer großen Zahl von Zoologen und Anatomen veröffentlichte " E r k l ä r u n g "    zum Streitfall H a e c k e l - K e p l e r b u n d    zahlreiche Gegenkundgebungen hervorgerufen. Dabei wurde in die "Erklärung" vieles hineingelegt, was in ihr nicht enthalten ist. Wenn z. B. von einigen Anhängern des Keplerbundes der Monismus mit in die Debatte gezogen wird, so kann darin nur das Bestreben erblickt werden, den Kampf auf ein Gebiet zu verlegen, das den Unterzeichnern der "Erklärung" ferne lag. Der Keplerbund hat die scharfe Verurteilung, die die "Erklärung" gegen ihn ausspricht, selbst verschuldet; hat er es doch für zweckmäßig erachtet, in der Streitsache B r a ß - H a e c k e l    das Wort zu ergreifen und in zwei, an die Zoologen und Anatomen gerichteten Zuschriften den Versuch zu machen, gegen Haeckel - wie R i c h a r d   H e r t w i g    sich treffend ausdrückte - "eine Art Ostrazismus herbeizuführen".

Vielleicht ist es mir als einem derjenigen, die die Anregung zu der "Erklärung" der Zoologen gegeben haben, gestattet, eine kurze Erläuterung zu derselben zu geben. Zum Schlusse sollen dann ein paar Worte zur Charakterisierung des Vorgehens Braß´ folgen.

Unsere "Erklärung" zerfällt in drei Teile. Im e r s t e n    wird der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß es sich in den von Braß angeführten Fällen um ein zu weit gehendes S c h e m a t s i e r e n   , nicht aber um Fälschung und Betrug handelt. Die milde Form, in welche der damit verbundene Vorwurf gegen Haeckel gekleidet ist, wurde von der großen Wertschätzung diktiert, die die Zoologen und Anatomen Haeckel gegenüber empfinden. Sie wissen es sehr wohl zu würdigen, wieviel sie Haeckel verdanken, und wissen auch, daß die wenigen minderwertigen Schemata gegenüber den zahlreichen vorzüglichen, die Haeckel entworfen hat und die ein Gemeingut der Wissenschaft geworden sind, kaum in Betracht kommen.

Der z w e i t e    Teil wendet sich gegen Braß und den Keplerbund. Wenn darin ausdrücklich betont wird, daß der Protests "im Interesse der W i s s e n s c h a f t    und der F r e i h e i t    der Lehre" erhoben wird, so hat dies zunächst in der Stellung den Grund, die Braß der Wissenschaft und ihren Vertretern gegenüber einnimmt. Er schreibt: "Es ist ein Zeichen der Zeit, daß sich von den deutschen Zoologen und Anatomen, welche an unseren Hochschulen lehren, meines Wissens kein einziger veranlaßt fühlt, einen christlichen Standpunkt offen einzunehmen." Der Geist, der aus diesen Worten spricht ist bezeichnend für die Motive, die Braß im Kampfe gegen Haeckel leiten. Dem gegenüber mußte mit aller Entschiedenheit betont werden, daß die Worte "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" nicht zu einer Phrase herabsinken dürfen. Man man noch darüber geteilter Meinung sein, ob dem religiösen Bekenntnisse der Lehrer an den Volks- und Mittelschulen die Bedeutung beizumessen sei, die ihm heute tatsächlich eingeräumt wird, so kann doch darüber, daß an den H o c h s c h u l e n    der naturwissenschaftliche Unterricht frei von jedem religiösen, konfessionellen oder kirchlichen Einschlag sein muß, kein freidenkender Naturforscher im Zweifel sein. Der Keplerbund aber hat in seinen an die Zoologen und Anatomen gerichteten Zuschriften, wenn auch nicht dem Wortlaute nach, so doch für jeden deutlich erkennbar, für Braß Stellung genommen, er hat dessen Vorgehen gut geheißen und hat sich dadurch zu seinem Mitschuldigen gemacht.

Die Schärfe, mit der "Erklärung" dieses Vorgehen verurteilt, wurde noch durch die durchaus unwürdige und unwissenschaftliche F o r m    veranlaßt, in die Braß seine Vorwürfe kleidete. Schon das Titelblatt der Braßschen Schrift, das vom Verfasser selbst gezeichnet ist, scheint lediglich darauf berechnet zu sein, Aufsehen zu erregen und die Neugierde zu fesseln: und gewiß muß sich jeder, der auch nur wenige Seiten oder Zeilen der Schrift liest, von der Art, in der ein Mann wie Braß einem trotz all seiner Fehler so hervorragenden und verdienstvollen Forscher wie Haeckel entgegenzutreten wagt, aufs tiefste beleidigt und abgestoßen fühlen. Wahrlich, der Keplerbund hat nicht klug und gut daran getan, in einem solchen Mann einen Bundesgenossen zu erblicken.

Der d r i t t e    Teil der "Errklärung" ist ganz allgemeiner Art. Er erschein notwendig, weil Braß in seiner Schrift mit aller Entschiedenheit gegen die D e s z e n d e n z t h e o r i e    Stellung nimmt. Da ber der Name Haeckels aufs innigste mit dem D a r w i n s    und der Deszendenztheorie verknüpft ist, so war zu besorgen, daß die Meinung Platz greifen könnte, der Entwickelungsgedanke habe durch den Nachweis einiger unzutreffender Schemata an Beweiskraft verloren.

Mit diesen Bemerkungen, die wohl im Sinne aller oder doch der meisten Unterzeichner liegen dürften, will ich die Erläuterung zu unserer "Erklärung" schließen und nur noch ein paar Worte zur näheren Charakterisierung des Vorgehens B r a ß ´    sagen.

R i c h a r d   H e r t w i g    schreibt in seiner Antwort auf den offenen Brief des Freiherrn v .   P e c h m a n n   , daß die wissenschaftliche Tätigkeit Braß´ "auf dem Gebiete der Zoologie vor 25 Jahren mit einem Mißerfolg ihr verdientes Ende gefunden" habe. Ich kann dieser Bemerkung noch hinzufügen, daß auch die späteren Arbeiten Braß´, soweit sie mir bekannt sind, vor allem seine Atlanten der Anatomie, Histologie und Entwickelungsgeschichte der Wissenschaft nicht zur Zierde gereichen. Vor seinem A t l a s    der E n t w i c k e l u n g s g e s c h i c h t e    mußte ich seinerzeit (1890) geradzu meine Schüler warnen.

Angesichts des jetzigen Kampfes ist es nicht ohne Interesse, daß sich Braß in diesem Atlas d i e s e l b e n   F e h l e r    zuschulden kommen ließ, die er jetzt bei Haeckel so scharf brandmarkt und als Ausdruck bewußter Fälschung und raffinierten Betruges hinstellt. So bringt er auf Tafel II, Fig. 6 ein Bild des menschlichen E m b r y o    nach K ö l l i k e r   . Das Bild ist eine sehr ungenaue und fehlerhafte Kopie aus Köllikers "Entwickelungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere" (1879); das Original ist hier auf S. 313 (Fig. 233) und 470 (Fig. 291) zu finden. Nach Kölliker war der Embryo 13 mm lang, nach Braß 6 mm; bei Kölliker hat der Embryo nur zwei Kiemenbögen (Mandibular- und Hyoidbogen), bei Braß drei; ja es ist soger der dritte so groß, wie der zweiter, also größer, als ihn jemals ein Embryologe gesehen hat. Braß hat einfach das hinter dem zweiten Kiemenbogen der Köllikerschen Zeichnung gelegene dunkle Feld hell gehalten und scharf begrenzt, und so hat er einen dritten Kiemenbogen in die Zeichnung hineinkonstruiert, obwohl bei Kölliker ein solcher nur in der Ventral- nicht aber in der Seitenansicht, um die es sich hier handelt, zu sehen ist. Aber noch mehr! Kölliker bezeichnet ausdrücklich den Wulst hinter dem Herzen als Leberanlage; Braß macht daraus einen Teil des Herzens und schreibt, daß dieses drei Vorwölbungen unterscheiden lassse. Dieser e i n e    Fehler allein würde genügen, um zu zeigen, daß Braß auf embryologischen Gebiete durchaus L a i e    ist und daß ihm jedes eigene Urteil fehlt. Freilich sollte ein Laie keinen embryologischen Atlas herausgeben. Andere Fehler der Zeichnung und Beschreibung will ihm nicht weiter anrechnen; daß z. B. ein Embryo von 13 bzw. 6 mm Länge noch kein "Steißbein" besitzt, dürfte sogar Braß wissen.

Das ist übrigens keineswegs die einzige freie Kopie im Braßschen Atlas. Auch die Figuren 12, 15, 16, 17, 22 sind wohl sicher dem Köllikerschen Handbuch entnommen, wenn auch der Text darüber schweigt. Vielleicht schweigt er, weil die poetische Lizenz, mit der sie gezeichnet sind, eine allzu große war.

Daß Braß auch seit dem Erscheinen seines Atlas in der Embryologie keine Fortschritte gemacht hat, beweisen die zahlreichen Fehler, denen man in seiner neuesten Schrift über das " A f f e n p r o b l e m "    auf Schritt und Tritt begegnet. Schon K e i b e l    hat eine ganze Reihe von solchen aufgeführt, und es wäre mir Leichtes, die Liste noch bedeutend zu vermehren. Geht doch die Unwissenheit Braß´ so weit, daß er einmal bei einem Hühnerembryo den zweiten Kiemenbogen (Hyoidbogen) für den ersten hält.

Braß sucht zu zeigen, daß Haeckel durch seine Embryonenbilder die Leser täuschen und irreführen wollte. Ganz dasselbe könnte man auch von Braß sagen. Er bezieht z. B. den nach Kölliker kopierten Embryo auf einen Embryo T h o m s o n s   . Da aber ein Embryo von 13 mm in der Seitenansicht nichts von einem dritten Kiemenbogen zeigt, mußte er den Embryo für jünger ausgeben, und er setzte daher seine Länge auf 6 mm herab; und da der Embryo Thomsons in der Seitenansicht vier Kiemenbogen zeigt, mußte der Embryo Köllikers, um sich an ihn einigermaßen anreihen zu lassen, zum mindesten drei zeigen.

Indessen bin ich überzeugt, daß Braß die Absicht eines Betruges ebenso ferne lag wie Haeckel. Jeder weiß, wie leicht es selbst dem besten Zeichner passieren kann, daß eine Kopie nicht ganz dem Original gleicht. Bei Braß trugen Unwissenheit und Oberflächlichkeit die Schuld an den fehlerhaften Zeichnungen, bei Haeckel allzu lebhafte Phantasie, die ihn die sonst üblichen Grenzen des Schematisierens überschreiten ließ. Von Fälschung und Betrug aber kann nie und nimmer die Rede sein; davon könnte nur gesprochen werden, wenn absolut naturgetreue Abbildungen zu a n d e r e n   S c h l ü s s e n    führten, als die Haeckelschen Schemata. Dies ist aber nicht der Fall. Im Laufe der letzten dreißig Jahre sind viele Tausende von Embryonen der verschiedensten Wirbeltiere durch meine Hände gegangen, und ich erkläre, daß sich Haeckels phylogenetische Deduktionen durch absolut n a t u r g e t r e u e    Bilder weit b e s s e r    und überzeugender beweisen ließen, als durch seine eigenen Schemata.

Professor Rabl schließt seine Ausführungen mit den Worten: Wenn der Keplerbund die Auffassung vertritt, Haeckel habe gegen "die oberste Pflicht wissenschaftlicher Forschung, die Wahrhaftigkeit," verstoßen, so ist dagegen zu bemerken, daß die Zoologen und Anatomen, die ihre Unterschrift unter die "Erklärung" gesetzt haben, wohl besser zu beurteilen wissen werden, was Haeckel für die Wissenschaft bedeutet, als der Keplerbund. Die Behauptung aber, der Passus der "Erklärung", der von dem Entwickelungsgedanken spricht, bezwecke eine Irreführung der "öffentlichen Meinung gegen den Keplerbund", richtet sich selbst. Ist doch in dem ganzen Satze, der diesen Passus enthält, vom Keplerbund überhaupt nicht die Rede. Wenn also von einer "Irreführung" gesprochen werden dürfte, so wäre sie nicht auf unserer, sondern auf Seite des Keplerbundes zu suchen.

Gegenüber einer Erwiderung des Herrn Dr. Braß in der "Frankfurter Zeitung" Nr. 89 vom 30. März, die von Rabl zwei Tage später (2. April, Abendblatt) kurz und scharf berichtigt und zurückgewiesen wird, bemerkt dieser zum Schluß: "Ich hatte die Ansicht ausgesprochen, daß bei Braß Unwissenheit und Oberflächlichkeit die Schuld an den fehlerhaften Zeichnungen trugen. Den Vorwurf der Unwissenheit aber muß ich, insofern die erwähnte Figur in Frage kommt, fallen lassen. Denn Braß selbst gibt zu, die Zeichnung Köllikers - freilich ohne dies zu erwähnen - w i s s e n s c h a f t l i c h   g e ä n d e r t    zu haben, ein Verfahren, das er bei Haeckel als wissenschaftliche Fälschung bezeichnet. - Und nun setze ich, ohne weiteren Kommentar die Worte Braß´ aus seiner Schrift gegen Haeckel (S. 39) hierher: "Wer also wissen will, ob mich der schwerste Vorwurf, der einem Forscher gemacht werden kann, u n w a h r   z u   s e i n   , trifft, den bitte ich, meine Tafelmaske zur Beurteilung hervorziehen zu wollen." -


Kehren wir nach dieser Vertiefung in Spezialitäten zum Generellen und Prinzipiellen zurück.

Professor F o r e l    ergriff dazu das Wort in Nr. 8 vom 20. Februar der "Münchener Allgemeinen Zeitung". Er schreibt:

In Nr. 2 vom 9. Januar 1909 der "Allgemeinen Zeitung" wird Haeckel von Professor Dennert (von dem Mann, der vom Sterbelager des Darwinismus spricht!) derart behandelt, daß es mir die Feder in die Hand drückt. Dies um so mehr, als heute eine wahre Hetze gegen den verdienstvollen, genialen Zoologen inszeniert wird. Eine solche Hetze einem Mann in seinem Alter gegenüber ist nicht schön. Wir wollen einräumen, daß die letzten Arbeiten Haeckels nicht mehr auf der Höhe der früheren stehen - er gibt es selber zu - und daß er einen Fehler begingt, sich auf das Gebiet metaphysischer Weltanschauungen zu begeben. Selbst früher war er auch oft zu apodiktisch und zu vorschnell im Verallgemeinern. Sein gewaltiges Verdienst im Aufbau der Deszendenzlehre durch seine geniale Verwertung der Tatsachen der Embryologie und der vergleichenden Anatomie, sowie durch die intuitive Erkenntnis des biogenetischen Grundgesetzes (des Verhältnisses derr Ontogenie zur Phylogenie), seinen weit voraussehenden Blick wird aber die Geschichte der Naturforschung stets hochhalten, von seiner Gasträatheorie, seinen Kalkschwämmen usw. nicht zu reden.

Wie pharisäische, paragraphenfeste Staatsanwälte werfen ihm seine Gegner "Fälschungen" vor. Mit diesem großen Wort meinen sie ihn umzubringen. Hätte Haeckel heute noch seine frühere Feder, so würde er ihnen die gleiche Abfuhr zuteil werden lassen, die er früher den schulmeisterlichen Angriffen Virchows erteilte. Leider het er sich jetzt mit Scheltworten schlecht verteidigt. Haeckels Phantasie hat eben im Schematisieren und Abbilden oft nicht das richtige Maß eingehalten. Wie dem Tartarin de Tarascon hat ihm die blendende Sonne seiner Phantasie Streiche gespielt. Tartarin glaubte in Schanghai gewesen zu sein, nachdem er viel davon gelesen hatte, und Haeckel übersah aus gleichen Gründen kleinere Unterschiede gewisser Embryone, so daß ihn die Gleichheit der Figuren nicht störte. Solche Streiche spielt eben die Phantasie. Das sind keine bewußten, beabsichtigten Lügen oder Fälschungen, sondern sprudelnde Synthesen der Einbildungskraft. Nur eine engherzige, rabulistische Wortklauberei, eine Advokaten- und Journalistentechnik kann für Haeckel daraus ein Kapitalverbrechen konstruieren. Man könte mit besseren Recht Sokrates und Plato wegen Homosexualität, Salomo wegen seiner 500 Frauen und seiner Konkubinen und andere mehr auf ähnliche Weise moralisch zu vernichten suchen

Forel fügt dem einen seiner temperamentvollen Aufsätze bei "Über den wissenschaftlichen Geist", den er im September 1899 in der "Revue des Revues" veröffentlicht hatte. Der vortreffliche Aufsatz schließt mit den Worten:

Ich kenne einen "Gelehrten", dessen Lebensaufgabe darin bestand, Naturgegenstände mit peinlichster Geduld und Exaktheit abzubilden. Keine Nebensache, kein zufälliger Riß wurde übersehen; das Unnötige und Belanglose wurde mit ebensoviel Liebe wie die Hauptsache abgemalt. Er vergaß zu überlegen, besaß keine Spur von Phantasie, verbesserte keine Methode, und so blieb seine Lebensarbeit nahezu wert- und nutzlos, er fand wenig Neues.

Unfähig, eigene Gedanken zu bilden, beschäftigen sich gewisse Vielwisser ihr ganzes Leben hindurch damit, diejenigen anderer zu kritisieren und herunterzureißen. Eine vielleicht noch schlimmere Varietät arbeitet nur daran, sich die Ideen anderer anzueignen und in etwas modifzierter Form, allfällig mit neuen griechischen Namen als eigene Produkte zum besten zu geben.

Andere, übrigens sehr nützliche Gelehrte, die auch kein selbstständiges Denkvermögen besitzen, haben doch eine Hälfte des "wissenschaftlichen Geistes". Sie nehmen die oft unreifen Resultate und Gedanken, die sie von den wissenschaftlichen Genies erhalten haben, unter die Lupe und verstehen es vorzüglich, dieselben durchzusieben, das Richtige vom Falschen, das Bewiesene vom Roman und von den gewagten Hypothesen zu trennen. So liefern sie dann ein vorzügliches Lehrbuch, eine erstklassige Hochschullehre, die zwar nicht frei von Dogmatismus ist, aber doch manche Jahre hindurch sehr nützlich ist und gelten kann.

Eine schreckliche Sippe ist die der eitlen Streber, deren einzige Zwangsvorstellung darin besteht, durch eine geniale Hypothese oder Entdeckung berühmt zu werden, während ihnen jede Spur von Genie fehlt. Das sind gewöhnlich die Leute mit "einer Idee oder Hypothese".

Es gibt jedoch solche, die mehrere Hypothesen aufstellen. Ihre ebenso künstlichen wie gesuchten hypothetischen Spekulationen sind nicht das Produkt einer wirklichen Phantasie, sondern das einer leidenschaftlichen Eitelkeit. Auf ihre wissenschaftliche Sterilität brauche ich nicht hinzuweisen, mögen sie auch mit noch so schönen Namen, wie "Dominanten" oder dergleichen, geschmückt werden.

Der wissenschaftliche Forscher, also derjenige, der wirklich Positives leistet, muß somit eine fruchtbare Phantasie besitzen, die sich jedoch beständig mittels der Methode des wissenschaftlichen Zweifels und mit Hilfe eines logischen und klaren Geistes, selbst kritisiert. Die Geduld und die ausdauernde Arbeit müssen ihrerseits bei den Forschungen und Beobachtungen wie bei den Experimenten fortwährend von den Kombinationen der Tanzfee Phantasie geleitet werden. Darin liegt das Ideal des wissenschaftlichen Geistes.

Es gibt aber gar viele solche Genies, bei welchen die Tanzfee Phantasie keinem Kommando gehorschen will. Sie springt und schweift von der Sache ab, bildet strahlende Feuerwerke, die die Menschen blenden, suggerieren und in Erstaunen versetzen, indem sie die peinlichen Regeln der wissenschaftlichen Forschung in Ihrer genialen Intuition oft mit Füßen tritt. Diese Art Gelehrten bringen die Pedanten der Wissenschaft in Wut und wirken auf dieselben wie eine Beethovensche Sonate auf Katzen. Es ist begreiflich; sie stören da plötzlich die fertigen Dogmen der Lehrbücher, die vorgefaßten Meinungen, die von der Zunft angenommene und auswendig gelernten Systeme, und nichts kann die Mittelmäßigkeiten so sehr in den Harnisch bringen wie derartige ungebetene und unerwartete Störungen. Deshalb rächen sich jene an den ihnen so hingeworfenen Reichtümern, indem sie sie begeifern und mit Kot bewerfen. Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu!

Wir müssen ihnen doch dankbar sein, diesen Poeten der Wissenschaft! Gibt man sich die Mühe, gerecht zu sein und genauer hinzusehen, so haben sie dieselbe hundertmal mehr befruchtet als die Tatsachenklauber, die sehr oft nur Wortklauber sind. Und läßt sie ihre Phantasie auch zahlreiche Irrtümer begehen, so ist das Unglück nicht groß, denn die Legion der korrigierenden Schulmeister wirft sich sofort auf diese Beute, um alle Übertreibungen zu beseitigen, während die kühnen Intuitionen zum Gemeingut künftiger Generationen werden. -

" D i e   B e d e u t u n g   d e r   H a e c k e l s c h e n   ´ F ä l s c h u n g e n ´   i m   L e b e n s w e r k e   d e s   G e l e h r t e n "    erörtert H. R. in einen sehr lesenswerten Aufsatz im "Freien Wort" (2. Aprilheft 1909), aus dem folgende Partie hier wiedergegeben sei:

"Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande", - an dies Wort des Evangelisten erinnert mich die unwürdige Hetze auf den greisen Jenenser Gelehrten, die, vor allem vom Keplerbund protegiert und geleitet, in diesen Tagen mit erneuter Heftigkeit eingesetzt hat; angesichts des Entrüstungsdusels und der Massensuggestion, die hier erfolgreich organisiert wurden, hält man sich fast für berechtigt, jenes Wort zu ändern und zu sagen: "Der Prophet gilt vor allem nichts im deutschen Vaterlande."

Gewiß, es hat eine Reaktion eingesetzt und die verständnislosen Hasser in ihre Schranken zurückgewiesen: aber dei Erklärung, mit der deutsche Anatomen und Zoologen der Wahrheit die Ehre gaben und über Haeckels Fehlern seine unsterblichen Verdienste nicht vergaßen, und der offene Brief, in dem Professor R i c h a r d   H e r t w i g    dem Keplerbund gegenüber mit der ernsten Zurückhaltung und Sachlichkeit des Gelehrten zugleich für seine Überzeugung und Haeckels Genialität eintrat, sagen wohl dem Kenner von Haeckels Persönlichkeit und Lebenswerk genug, nicht aber dem Fernstehenden.

Gerade der fernstehenden Masse der Gebildeten aber sollte Haeckel in diesen Tagen als ein Mann verdächtigt und gebrandmarkt werden, dessen wissenschaftliche und menschliche Ehre befleckt ist, der die Meinung der Massen durch Fälschungen, die sie nicht als solche erkennen kann, leichtfertig oder gar absichtlich irreführt. Auch hier liegt die Wurzel der großen Ungerechtigkeit, wie so oft, in der maßlosen Übertreibung und Betonung einer Einzelheit, einer einzelnen Tatsache, eines einzelnen Fehlers, in jener vom Fürsten Bülow in einer denkwürdigen Reichstagsrede mit Recht gegeißelten Neigung des deutschen Volkes zur Überkritik.

Und je mehr diese Überkritik zur Nationaleigenschaft wird, um so mehr vermißt man die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit. Um einem Manne wie Haeckel gerecht zu werden, muß man sich schon die Mühe nehmen und sich fragen, welche Bedeutung derartige gewaltsam ans Licht gezogene Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, mit denen die ganze Persönlichkeit verdächtigt werden soll, in ihrem gesamten Lebenswerk beanspruchen können. Unter den Zahllosen, die ich in den letzten Wochen Ernst H a e c k e l    und seine Weltanschauung lästern hörte, war nicht einer, der seine eigentliche Bedeutung, seine Persönlichkeit, sein Lebenswerk wirklich kannte; wer die "Welträtsel" gelesen hatte, der glaubte auch den Gelehrten schon in seinem Innersten zu kennen, und hielt sich für berechtigt, getrost mitzuschimpfen.

Und doch weiß gerade der, der Haeckel und seine Werke wirklich kennt, daß seine gewaltige Bedeutung, um derentwillen erheute von den namhaftesten Zoologen und Anatomen Deutschlands und Österreichs in Schutz genommen wird, auf rein naturwissenschaftlichem, nicht auf naturphilosophischem Gebiete liegt.

Es ist hier nicht der Platz, auf die fachwissenschaftlichen Werke Haeckels, dei allein eine kleine Bibliothek ausmachen, einzugehen: aberr das Standardwerk seines Lebens, die Grundlage, auf der die wissenschaftliche Überzeugung der Gegenwart beruht, müssen wir uns in seiner Bedeutung kurz vor Augen führen; denn aus ihm erhellt der Einfluß Haeckels auf die Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart: es ist dies das epochemachende Werk, das eine Umwälzung im Denken der naturwissenschaftlichen Kreise begründete, seine im Jahre 1899 "Generelle Morphologie". * [Die "Generelle Morphologie" war seit langem vergriffen; 1906 hat Professor Haeckel die Partien von bleibendem Wert in einem Band "Die Prinzipien der G. M. neu herausgegeben.]

Wer dieses Werki mit offenem Auge und Herzen liest, der fühlt und erkennt, daß sich die geniale Idee von der Einheit und dem einheitlichen Werden der Natur, der Grundgedanke des ganzen Werkes, dem Geiste des Gelehrten durch sein schauendes Künstlerauge intuitiv offenbarte; daß er hier eine innerlich e r s c h a u t e    Idee nur in wissenschaftliche Form prägte; daß die weltzerstückelnde Analyse der damaligen Gelehrtenzunft nie zu diesem Ergebnis hätte führen, diese Analyse, die glaubte, daß man mit allen Teilen auch das Ganze in Händen hätte, der die künstlerische Anschauungsform der Einheit fremt war; und weil es sich für Haeckel hier um eine künstlerische Offenbarung, nicht um des Ergebnis wissenschaftlicher Kleinarbeit handelte, darum fühlt er sich mit Recht Goethe geistesverwandt, der ja auch von der Kunst her zur Natur gekommen war, und, sie mit dem Auge des Künstlers durchschauend, in ihrer Einheit erkannte und tief durchdrang.

Die epochemachende Bedeutung der Generellen Morphologie für die Wissenschaft lag also darin, daß Haeckel in ihr die Einheit der gesamten Welt der formverschiedenen Organismen durch die Kontinuität ihrer Entwicklungskette nachwies und zeigte, wie diese Formen sich im Kampfe ums Dasein unter den bestimmenden Bedingungen der Vererbung und Anpassung entwickelt hatten; er knüpfte dabei an Lamarck und Goethe, vor allem aber an Darwin an, der sieben Jahre früher mit seiner Deszendenzlehre hervorgetreten war; sie vor allem baute Haeckel in dieser allgemeinen Formenlehre der Organismen in genialster Weise aus, und es ist sein gewaltiges Verdienst, daß der Entwicklungsgedanke im Bereiche der allgemeinen Anatomie Geltung gewann. Die Größe dieser wissenschaftlichen Tat ist heute schwer zu bewerten, da wir uns den Standpunkt der damaligen Anatomie und Biologie überhaupt kaum vorzustellen vermögen und nicht ermessen können, welche geistigen Hemmungen dieser Gedanke zu überwinden hatte. Die Anatomie vor allem brüstete sich als "exakte Empirie", die alles bis ins Kleinste zerlegte und beschrieb und stolz darauf war, auf jede verbindende Denktätigkeit zu verzichgten; denn für sie war nur das "wissenschaftliche", was ad oculos demonstriert werden kennte, und so hätte für diese extrem empirisch-konservative Gelehrtenzunft der Entwicklungsgedanke erst in dem Augenblick Geltung erhalten können, wo man alle Übergangsformen wirklich und handgreiflich im Laboratorium gehabt hätte. So mußte diese Gelehrsamkeit auch dualistisch - im wissenschaftlichen Sinne - sein, denn sie mußte die organischen Einzelerscheinungen der Natur als Schöpfungen nehmen, da es für sie eine Verbindung durch Übergangsformen, eine Entwicklung nicht gab, und selbst der bescheidenste Denkschluß als unexekte, unempirische, philosophisch verdächtige Methode der Spekulation verpönt war.

Zum Glück haben Haeckel uns eine großen Vorgänger auf den nie eintretenden Moment, wo man alle Übergangsformen in Händen gehabt hätte, um auch die Blinden zu lehren, nicht gewartet; das Vorhandene genügte für sie, um geistig die bestehenden Lücken zu überbrücken; darin gerade bestand ja die wissenschaftliche Tat, mit der sie ihrer Zeit vorauseilten; und so haben sie im Dienste der Menschheit den Prozeß vollzogen, der immer dem Gelehrtengenie vorbehalten bleibt: durch Verwertung des von der wissenschaftlichen Arbeitsbiene, dem Durchschnittsgelehrten, gesammelten Materials, die kritische Erkenntnis der Menschheit ein Stück weiter zu bringen. In ihnen erlangte das Kausalbedürfnis der nach Erkenntnis ringenden Menschheit eine Spannung, die endlich die noch vorhandenen Lücken zu überspringen gestattete; früher oder später mußte das ja kommen; aber heute muß wahrlich mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß der Träger des genialen Gedankens nur ein Genie sein konnte; und Haeckel erfüllte seine wissenschaftliche Mission in dem Bewußtsein, daß aller wissenschaftliche Fortschritt nicht mehr und nicht weniger als die Ordnung neuer Gebiete und ihrer Erscheinungen nach den Gesetzen des menschlichen Geistes und Erkennen nichts anderes ist als das Hineintragen der menschlichen Anschauungsformen in die Außenwelt.

Haeckels Tat bedeutete also eine Revolution in den Grundanschauungen der gesamten Anatomie, Ersetzung von wissenschaftlichem Dualismus durch Monismus; der monistische Entwicklungsgedanke ermöglichte ja überhaupt erst eine allgemeine Formenlehre der Organismen, wie sie Haeckel in der Generellen Morphologie zum erstenmal in Angriff nahm; in schweren Kämpfen vollzog sich die Befreiung der Geister, aber der entliche Sieg des monistischen Entwicklungsgedankens konnte keinen Augenblick zweifelhaft sein; als Methode hat er sich im ganzen Gebiete der Biologie, und weit über ihre Grenzen hinaus, als fruchtbarstes Prinzip wissenschaftlicher Untersuchung erwiesen, und heute - das ist der Dank des Vaterlandes an seinen Propheten - ist er so sehr Gemeingut aller Gebildeten, daß sie das Verdienst und die Kämpfe dessen, der ihm in schwerem Ringen zum Sieg verhalf, längst vergessen haben und erstaunt fragen, wie man wegen einer so selbstverständlichen Sache so viel Aufhebens machen könne. Der Bildungsphilister verwechselt je stets Produzieren mit Rezipieren; wenn er ein Werk beim Lesen eben zur Not versteht, dann meint er , er habe seinen Inhalt schon vorher in sich gehabt.

Was Haeckel nach dem epochemachenden Werk der Generellen Morphologie an fachwissenschaftlichen Werken noch schrieb - es sind das viele umfangreiche Werke allgemein anatomischen Inhalts und zoologische Monographien -, war alles dem inneren Ausbau der grundlegenden Gedanken der Generellen Morphologie gewidmet, mit der er bei dem damaligen Stande der Wissenschaft nur ein rohes Gerüste des wissenschaftlichen Riesenbaues einer allgemeinen Formenlehre der Organismen hatte aufrichten können. In zahllosen Einzelforschungen häuft er Beweis auf Beweis für die Richtigkeit des monistischen Entwicklungsgedankens, ergänzt und berichtigt auf Grund reichen Tatsachenmaterials seine hypothetisch aufgestellte und bis zum "homo sapiens" fortgeführte Genealogie der Organismen, überall von der Wechselwirkung der Vererbrung und Anpassung im Kampf ums Dasein ausgehend, überall sie bestätigt findend.

Von den Monographien sei hier nur auf die der Radiolarien hingewiesen; sie sei besonders denen empfohlen, die in Haeckel nur den populären Naturphilosophen sehen, weil sie die gewaltige Fülle der exakten Einzelforschungen nicht kennen, die eben in jenen Monographien vor allem niedergelegt ist; eine ganze Welt von eigenartigen Organismen lehrt uns Haeckel in seinen Radiolarien kennen, dier er hauptsächclich in dem heute der Vergangenheit angehörenden Messina studierte; wer sich in dieses Werk vertieft hat, weiß nicht, ob er mehr den Scharfblick des Gelehrten oder das liebevoll schauende Auge des Künstlers bewundern soll, das uns unbekannte Welten von Formenreichtum und Formschönheit erschließt.

Von den zahlreichen populärwissenschaftlichen Werken sei nur die "Anthropogenie" erwähnt, wo Haeckel in zwei Bänden, der individuellen (Ontogenie) und der Stammes- (Phylogenie) Entwicklungsgeschichte des Menschen unsere Ahnenreihe bis zu ihren ersten Anfängen in ihrer Kontinuität nachweist, und eine geniale Begründung des erst von ihm prägnant formulierten biogenetischen Grundgesetzes gibt; es zeigt bekanntlich, wie embryonale Entwicklung des einzelnen Individuums in gedrängter Form die Stufen der Stammesentwicklung erkennen läßt und scheinbar gegen diese Idee sprechende Entwicklungsabweichungen sich cenogenetisch erklären lassen. *) [Professor D. X. fragt in der M. A. Z.: "Weshalb führt Haeckel niemals die Quellen für seine Bildern an?" - Kannte Professor Tartüffe die "Anthropogenie" nicht, worin das wissenschaftliche Material für die Keimes- und Stammesgeschichte des Menschen zusammengetragen ist und Hunderte von Abbildungen mit der Bezeichnung ihrer Herkunft wiedergegeben sind? Weist Haeckel nicht immer und immer wieder auf seine "Anthropogenie" hin? Wie kann man ihn also auf Grund eines einzigen Vortrags mit seinen paar Abbildungen im ganzen verurteilen? Ist es nicht Pflicht eines rechtschaffenen, unbestochenen Richters, des ganze Werk eines Mannes kennen zu lernen, um den Geist eines Bruchstücks richtig zu kennzeichnen? Die Keplerbündler scheinen dieses Pflicht nicht zu kennen. H. S.]

Man hat Haeckel zum Hauptvorworf gemacht, daß er breite Schichten des Volkes vom christlich-dogmatischen Glauben zu einer monistischen Weltanschauung führt, die, wenn sie auch ethische Ziele hat, doch eine Lockerung des sittlichen Verantwortungsgefühls zeitigen soll. Es ist bei solchen volkspsychologischen Strömungen schwer, Ursache und Wirkung zu bestimmen, zumal für den Zeitgenossen; aber man darf wohl als ziemlich sicher annehmen, daß Haeckel keinen wirklich gläubigen Dogmatiker abspenstig gemacht hat, daß seine Anhängerschaft vielmehr die Masse jener darstellt, die der dogmatische Kirchenglaube innerlich nicht mehr befriedigte; sie waren als Einzelmenschen nicht fähig, ihre eigne Welt sich zu erbauen; darum konnten sie aus der Frage der Weltanschauung eine Vereinsangelegenheit machen und waren reif, der mehr vernunftmäßigen, im Monistenbund schon fertig organisierten Weltanschauung als Suchende sich zuzuwenden. Man muß zugeben, der Monistenbund, mit seienr weiteren Anhängerschaft, stellte heute schon eine kulturelle Macht dar; soll man es bedauern, daß in ihm sich um den greisen Gelehrten die Massen als kompakte Einheit schlossen, die für die Kirche doch schon verloren und nur deshalb nicht ausgetreten waren, weil ihrem Weltanschauungshunger niemant etwas Zusagendes hatte bieten können? Ich glaube, das ist nicht zu bedauern, auch von denen nicht, deren differenzierterem Gefühl dieser Kompromiß zwischen Wissenschaft und sittlichen Ideal nicht zusagt. Denn in einer Zeit, wo die krasseste Reaktion triumphiert und die ultramontane Macht in einem Kampf, der noch nicht als Verzweiflungskampf erwiesen ist, gegen moderne Wissenschaft und freie Forschung wütet, kann man einer Bewegung nur freuen, die ein Gegengewicht gegen jene dunklen Mächte mittelalterlichen Religionsfanatismus bietet; man darf auch nicht vergessen, daß man in einem Staatsgebilde, das verfassungsmäßig dem einzelnen das Recht garantiert, auf seine Fasson selig zu werden, toleranterweise niemand deshalb beschimpfen darf, weil er von diesem Recht Gebrauch und für seine Überzeugung Schule macht. Auch einem Ernst Haeckel sollte man dieses Recht unbestritten lassen.

Seit Jahren umbranden den greisen Jeneser Gelehrten die Woges des Tageskampfes; er steht unerschütert, ungebeugt, mit dem Ernst des Mannes, der sich keine Illusionen über das Jenseits macht, aufrecht das Haupt - wie Wahrmund sagte -, was immer auch kommen mag, den Blick in die dämmernde Zukunft gerichtet.

Und er hat wie jeder, für den Glaubenswerte zu Illusionen wurden, viel verloren, viel aufgegeben, und das schwerere Teil erwählt, sich selbst zu behaupten ohne die Stütze des Glaubens, die kein Schwacher entbehren kann; es kann das nicht ernst genug betont werden; denn unter den vielen Gläubigen, die ihn bekämpfen, antworten die meisten auf die Frage, warum sie glauben: "Weil es ohne Glauben nicht geht, weil wir ihn brauchen", und sie scheinen dabei zu übersehen, daß ihnen gerade das Heiligste zur Zweckmäßigkeitsfrage wurde. Auf wessen Seite ist da mehr Idealismus? Mehr menschlicher Mut?

Es gab in Deutschland eine Zeit - und das war eine Epoche höchster geistiger Fruchtbarkeit -, die weit aufgeklärter war als die Gegenwart; sie war darum nicht unsittlicher; sie war deshalb möglich, weil sie mehr Persönlichkeiten hatte, weil in den Massen der Gebildeten mehr Lebenskünstlertum steckte; man konnte das Leben künstlerisch-edel genießend, ertragen, ohne seinen Sinn auf Dogmen zu bauen, ohne einen sicheren Wechsel auf das Jenseits zu fordern; dieser feinere Geist des Individualismus ist uns heute abhanden gekommen und hat dem Schlagwort - Individualismus Platz gemacht, der keine Innerlichkeit und Größe hat und selbst zum Schema wird; vielleicht muß sonach die monistische Bewegung, die Haeckel geschaffen hat, die unter Bejahung christlicher Ethik die Befreiung vom Dogma anstrebt, als Kulturepoche des Überganges betrachtet werden, ohne die eine Rückkehr zu jenem feineren Individualismus und Lebenskünstlertum nicht möglich ist; dann dürften wir Haeckel nur dankbar sein; denn dann hätte er nur den Boden in den Massen der Gebildeten bereitet, auf dem in größerer Zahl sich wieder Persönlichkeiten entfalten können, die, in freier, nicht durch die Drohungen der Religion erzwungener Sittlichkeit, die K u n s t s    des Lebens wieder zu üben imstande sind.

Es mag jeder selbst beurteilen, welche Bedeutung gegenüber dem Lebenwerk und der ragenden Persönlichkeit Haeckels die "gefälschten" Affenschwänze und ähnliche Dinge beanspruchen können; ich weiß nicht, ob Haeckel uns ganz genau die Wahrheit sagte, mit der Bemerkung, sie seien der Anschaulichkeit zuliebe konstruiert worden, damit das Wesentliche besser hervortritt; mich interessiert diese Fragen ganz und gar nicht; ich will mich auch gar nicht daran erinnern, daß er oft in Schriften und Erwiderungen die parlamentarische Form nicht wahrte, und nicht immer tolerant gegen die religiöse Überzeugung anderer war, obwohl ich das alles ganz genau weiß, und auch weiß, daß ihn die Intoleranz seiner gehässigen Gegner wohl entschuldigt, aber nicht freispricht.

Bloß daran will ich mich erinnern, daß in Haeckel eine gewaltige Persönlichkeit nach dem Lichte der Wahrheit ringt und auf dem Wege zu ihr, der nie erreichbaren, die Menschheit ein gutes Stück weitergeführt hat; daß er ab und zu auf Seitenwege geriet, kann nicht befremden; dies Los teilt er mit allen Großen, und man darf ihm nicht zur Last legen, daß er den Kampf gegen Aber- und Wunderglauben nicht in der dichterischen, für den Bildungsphilister weniger faßbaren, und darum weniger anstößigen Form, wie ein Goethe, führen konnte; und doch streitet gerade der rücksichtslos kämpfende Haeckel im Geiste Goethes; denn eben Goethe erkannte klar die Notwendigkeit zielbewußt kämpfenden Handelns gegenüber der fanatischen und doch plumpen, durch das Schwergewicht ihrer geistigen Trägheit beharrenden Intoleranz des Bildungsphilisters; seine eigenen Worte lassen darüber keinen Zweifel:

"Sollte man zu jener scheinbar gerechten, aber parteisüchtigen grundfalschen Maxime stimmen, welche dreist fordert: Wahre Toleranz müsse auch gegen Intoleranz tolerant sein? Keineswegs! Intoleranz ist immer handelnd und wirkend; ihr kann auch nur durch intolerantes Handeln und Wirken gesteuert werden." -





Vorbemerkung..........................................................................................Schlußwort



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erstellt von Christoph Sommer am 20.01.2000