Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber Erstes Kapitel.

Stellung der Welträthsel.

Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanschauungen. Monismus und Dualismus.

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Inhalt: Stand der menschlichen Kultur und Weltanschauung am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Fortschritte der Natur-Erkenntniß, der organischen und anorganischen Naturwissenschaft. Substanz-Gesetz und Entwickelungs-Gesetz. Fortschritte der Technik und der angewandten Chemie. Stillstand auf anderen Kultur-Gebieten: Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Anthropismus. Kosmologische Perspektive. Kosmologische Lehrsätze. Widerlegung des anthropistischen Größenwahns. Zahl der Welträthsel. Kritik der sieben 'Welträthsel. Wege zu ihrer Lösung. Thätigkeit der Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Philosophie und Naturwissenschaft. Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.

Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute stehen, bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele. Alle Gebildeten sind sich darüber einig, daß dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem Anfange unlösbar schienen. Nicht die überraschenden theoretischen Fortschritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß, sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwerthung in Technik, Industrie, Verkehr u. s. w. haben unserem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Konflikte entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und socialem Gebiete. Es erscheint daher nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Ueberzeugung nur durch muthiges Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.

Fortschritte der Natur-Erkenntniß

. Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er innerhalb unsers Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntniß des Kleinsten, wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben wir jetzt unschätzbare Einsichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Die verbesserten Methoden der mikroskopischen und biologischen Untersuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protisten eine "unsichtbare Lebenswelt" voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, sondern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen "Elementar-Organismus" kennen gelehrt, aus dessen socialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenso wie der des Menschen zusammengesetzt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der "befruchteten Eizelle". Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständniß für die physikalischen und chemischen, ebenso wie für die psychologischen Processe des Lebens eröffnet, jene geheimnisvollen Erscheinungen, für deren Erklärung man früher eine übernatürliche "Lebenskraft" oder ein "unsterbliches Seelenwesen" annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist durch die damit verknüpfte Cellular-Pathologie dem Arzte erst klar und verständlich geworden.

Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereich der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akustik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität, in der Mechanik und Wärmelehre die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und, was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische Wärme-Theorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusamenhängen, und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner zusammensetzen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewisen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von "Werden und Vergehen". Die Chemie hat uns mit einer Masse von neuen früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr siebzig) bestehen, und die zum Theil die größte praktische Bedeutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat uns gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die "chemische Basis des Lebens" darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen aber in theoretischer Bedeutung der Erkenntniß des gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanz-Gesetzes. Indem dieses "kosmologische Grundgesetz" die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträthsel zu deren Lösung führt.

Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Uebersicht über den jetzigen Stand unserer Natur-Erkenntniß und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Substanz-Gesetz ebenbürtig ist und welcher dasselbe ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von "Entwickelung" der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universun beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist, als eine ewige "Entwickelung der Substanz", dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind unseres 19. Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur "Frage aller Fragen" geschenkt, zu den großen Welträthsel von der "Stellung des Menschen in der Natur" und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande sind, die Herrschaft des Entwickelungs-Gesetzes - und zwar der "monistischen Genesis!" - im Gesammtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanz-Gesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen Naturphilosophen; sie leuchten uns deshalb als drei Sterne erster Größe unter allen anderen großen Männern unseres Jahrhunderts.

Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Natur-Erkenntniß entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im "Zeitalter des Verkehrs" stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittelst Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den technischen Fortschritten der Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serum-Therapie die Leider der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie sehr wir durch diese und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt haben, ist so allbekannt, dajß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.

Fortschritte der socialen Einrichtungen.

Während wir so heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktische Verwerthung zurückblicken, so bietet sich uns leider ein ganz anders und wenig erfreuliches Bild, wenn, wir nun andere, nicht minder wichtige Gebiete dieses modernen Kultur-Lebens in's Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir dan den Satz von Alfred Wallace unterschreiben: "Verglichen mit unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der administrativen Justiz, der National-Erziehung und unsere ganze sociale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei." Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in unser offentliches Leben hinein zu werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung vorhält.

Unsere Rechtspflege.

Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem "Fundamentum regnorum". Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntniß des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urtheilen lesen, über welche der "gesunde Menschenverstand" bedanklich das Haupt schüttelt; viele Entscheidungen erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen bei Behandlung dieses "Welträthsels" ganz davon a b, daß in vielen modernen Staaten - trotz der auf Papier gedruckten Verfassung - noch thatsächlich der Absolutismus herrscht, und daß viele "Männer des Rechts" nicht nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, sondern entsprechend dem "höheren Wunsche von maßgebender Stelle". Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urtheilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrthümer durch mangelhafte Vorbildung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen: werden sie ja doch gerade deshalb der Besetzung der verschiedensten Aemter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte "juristische Bildung" ist größtentheils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt ihrer Thätigkeit, den menschlichen Organismus, und seine wichtigste Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z. B. die wunderlichen Ansichen von "Willensfreiheit, Verantwortung" u. s. w., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juristen versicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der sich jeder Mensch entwickelt, lebendig sei, ebenso mit Leben begabt, wie der Embryo von zwei oder sieben oder neun Monaten, fand ich nur ungläubiges Lächeln. Den meisten Studirenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwickelungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurtheilung des Menschen-Wesens. Freilich bleibt dazu auch "keine Zeit"; diese wird leider nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch genommen, sowie das "veredelnde" Mensuren-Wesen; der Rest der kostbaren Studien-Zeit aber ist nothwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur-Staate befähigt.

Unsere Staatsordnung.

Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen, da die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann täglich fühlbar sind. Zum großen Theile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntniß der Menschen-Natur, die nur durch vergleichende Anthropologie und monistische Psychologie erworben werden kann, - ohne jene Kenntniß der socialen Verhältnisse, deren organische Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwickelungsgeschichte, die Zellen-Theorie und die Protistenkunde liefert. "Bau und Leben des socialen Körpers,", d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntniß von "Bau und Leben" der Personenfunda besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse unsere "Staatslenker" besäßen, und unsere "Volksvertreter", die mit ihnen zusammenwirken, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von sociologischen Irrthümern und von politischer Kannengießerei zu lesen sein, welche unsere Parlaments-Berichte und auch viele Regierungs-Erlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das Schlimmste freilich ist, wenn der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dann entstehen so traurige Bilder, wie sie uns leider jetzt am Schlusse des 19. Jahrhunderts der deutsche Reichstag vor Augen führt: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Centrums, unter des Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von der Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschen-Kenntniß der Staatsbürger auf eine bessere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? soll er theokratisch durch unvernünftige Glaubensätze und klerikale Willkür, oder soll der nomokratisch durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Hauptaufgabe ist, unsere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine zeitgemäße Schul-Reform geschehen.

Unsere Schule.

Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staatsordnung, entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Naturwissenschaft, die alle andern Wissenschaften so weit überflügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in unseren Schulen immer noch als Nebensache behandelt oder als Aschenbrödel in die Ecke gestellt. Dagegen erscheint unsren meisten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelalters übernommen ist; im Vordergrunde steht der grammatikalische Sport und die zeitraubende "gründliche Kenntniß" der klassischen Sprachen, sowie der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwickelungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Gedächtniß mit einer Unmasse von philosophischen und historischen Thatsachen überladen, die weder für die theoretische Bildung noch für das praktische Leben von Nutzen sind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältnisse der Universitäten entsprechen der heutigen Entwickelungstufe der monistischen Weltanschauung ebenso wenig, als die Unterrichts-Leitung in den Gymnasien und in den niederen Schulen.

Unsere Kirche.

Den Gipfel des Gegensatzes gegen die moderne Bildung und gegen deren Grundlagen, die vorgeschrittene Natur-Erkenntniß, erreicht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in Bezug auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des krassesten Aberglaubens nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Rechts einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19. Kapitel) vollkommen harmoniren, und neben humanistischen Erörterungen, die wir durchaus billigen, Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforschung direkt widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Aerzte und Philosophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen ebenso wie unseren Philologen, unseren Politikern ebenso wie unseren Juristen an jener unentbehrlichen Naturkenntniß, welche sich auf die monistische Entwickelungslehre gründet, und welche bereits in den festen Besitzstand unserer modernen Wissenschaft übergegangen ist.

Konflikt zwischen Vernunft und Dogma.

Aus diesen bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegensätzen ergeben sich für unser modernes Kultur-Leben schwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeschrittenen Wissenschaft, verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittelst der Vernunft auf eine jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen sträuben sich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in Betreff der wichtigsten Probleme in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese "höhere Offenbarung" beugen solle. Das ist der Fall in weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz. Die Beweggründe dieser letzteren beruhen zum größten Theile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben, sondern theils auf Unkenntniß der realen Thatsachen, theils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wissenschaft ist die gefährlichste nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden letzteren Mächte kämpfen selbst Götter dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.

Anthropismus.

Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die "Vermenschlichung". Unter diesem Begriffe verstehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrthümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein principiell von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungs-Kreises ergiebt sich, daß derselbe eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropocentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrthum unterscheiden" I Das anthropocentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens - oder in weiterer Fassung der ganzen Welt - sei. Da dieser Irrthum dem menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Theil der Kulturwelt. - II Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei genannten, sowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers oder "Maschinen-Ingenieurs" und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. "Gott der Herr" als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde." Die ältere naive Mythologie ist reiner Homotheismus und verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger vorstellbar ist die neuere mystische Theosophie, welche den persönlichen Gott als "unsichtbares" - eigentlich gasförmiges! - Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt; sie gelangt dadurch zu dem paradoxen Begriff eines "gasförmigen Wirbelthieres". - III. Das anthropolatrische Dogma ergiebt sich aus dieser Vergleichung der menschlichen und göttlichen Seelenthätigkeit von selbst; es führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen Organismus, zum "anthropistischen Größenwahn". Daraus folgt wieder der hochgeschätzte "Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der Seele", sowie das dualistische Dogma von der Doppelnatur des Menschen, dessen "unsterbliche Seele" den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt. Indem nun diese drei anthropistischen Dogmen mannigfach ausgebildet und der wechselnden Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt wurden, erlangten sie im Laufe der Zeit eine außerordentliche Bedeutung und wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrthümer. Die anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Natur-Erkenntniß; sie wird zunächst schon durch deren kosmologische Perspektive widerlegt.

Kosmologische Perspektive.

Nicht allein die drei anthropistischen Dogmen, sondern auch viele andere Anschauungen der dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion offenbaren ihre Unhaltbarkeit, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive unsers Monismus kritisch betrachten. Wir verstehen darunter jene umfasende Anschauung des Weltganzen, welche wir vom höchsten erklommenen Standpunkt der monistischen Naturerkenntniß gewonnen haben. Da überzeugen wir uns von folgenden wichtigen, nach unserer Ansicht jetzt größtenteils bewiesenen "kosmologischen Lehrsätzen".

1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Aether vertheilt sind, unterliegen sämmtlich dem Substanz-Gesetz; während in einem Theile des Universum die rotirenden Weltkörper langsam ihrer Rückbildung und ihrem Untergang entgegen gehen, erfolgt in einem andern Theile des Weltraums Neubildung und Fortentwickelung. 5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungs-Prozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8. Unter den verschiedenen Thier-Stämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Processes auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbelthiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendste Zweig des Wirbelthier-Stammes hat sich erst spät (während der Trias-Periode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klasse der Säugethiere entwickelt. 10. Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die Ordnung der Herrenthiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiär-Zeit (von mindestens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niedersten Zottenthieren (Prochoriaten) entstanden ist. 11. Das jüngste und vollkommenste Aestchen des Primaten-Zweiges ist der Mensch, der erst gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von Menschen-Affen hervorgegangen ist. 12. Demnach ist die sogenannte "Weltgeschichte" - d. h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte des Menschen abgespielt hat, eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planeten-Systems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen organischen Natur.

Nichts scheint mit geeigneter als diese großartige kosmologische Perspektive, um von vornherein den richtigen Maßstab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur Lösung der großen, uns umgebenden Welträthsel einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die maßgebende "Stellung des Menschen in der Natur" klar bewiesen, sondern auch der herrschende anthropistische Größenwahn" widerlegt, die Anmaßung, mit der der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Theil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eitlen Menschen hat ihn dazu verführt, sich als "Ebenbild Gottes" zu betrachten, für seine vergängliche Person ein "ewiges Leben" in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte "Freiheit des Willens" besitzt. Der lächerliche Cäsaren-Wahn des Caligula ist eine spezielle Form dieser hochmüthigen Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn aufgeben und die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen, können wir zur Lösung der "Welträthsel" gelangen). (Vergl. Anm. 1, S. 156).

Zahl der Welträthsel.

Der ungebildete Kulturmensch ist noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträthseln umgeben. Je weiter die Kultur fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre Zahl beschränkt. die monistische Philosophie wird schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträthsel anerkennen, das "Substanz-Problem". Immerhin kann es aber zweckmäßig erscheinen, auch eine gewisse Zahl von schwierigsten Problemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibnitz-Sitzung der Berliner Akadamie der Wissenschaft hielt, unterscheidet er "Sieben Welträthsel" und führt dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie und Kraft, II. der Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des Lebens, IV die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entstehen der einfachen Sinnenempfindungen und des Bewußtseins, VI. das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträthseln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transscendent und unlösbar (das erste, zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten "Welträthsels", welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.

Da mein Monismus sich von demjenigen des Berliner Rhetors wesentlich unterscheidet, da aber andererseits seine Auffassung der "sieben Welträthsel" großen Beifall in weiten Kreisen gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vornheren zu denselben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner Ansicht werden die drei "transscendenten" Räthsel (I, II, V) durch unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind durch unsere moderne Entwickelungslehre endgültig gelöst; das siebente und letzte Welträthsel, die Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Lösung der Welträthsel.

Die Mittel und Wege, welche wir zur Lösung der großen Welträthsel einzuschlagen haben, sind keine anderen als diejenigen der reinen wissenschafltichen Erkenntniß überhaupt, also erstens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnes-Organe, in zweiter die "inneren Sinnesherde" unserer Großhirnrinde thätig sind. Die mikroskopischen Elementar-Organe der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbaren Organe unsers Geisteslebens erhalten haben, wedern dann durch andere Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Assoziation zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die nach meiner Überzeugung gleich wertvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zusammenhängenden Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Thätigkeit der Phantasie, schließlich das Bewußtsein, das Denken und Philosophieren, sind ebenso Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft.

Vernunft, Gemüth und Offenbarung.

Durch die Vernunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenniß und zur Lösung der Welträthsel gelangen. Die Vernunft ist das höchste Gut des Menschen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Thieren wesentlich unterscheidet. Allerdings hat sie aber diesen hohen Werth erst durch die fortschreitende Kultur und Geistesbildung, durch die Entwickelung der Wissenschaft erhalten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind ebenso wenig (oder ebenso viel) "vernünftig" als die nächstverwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. s. w.). Nun ist aber in weiten Kreisen noch heute die Ansicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja sogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offenbarung. Diesem gefährlichen Irrthum müssen wir von vornherein entschieden entgegentreten. Das Gemüth hat mir der Erkenntniß der Wahrheit gar nichts zu thun. Was wir "Gemüth" nennen und hochschätzen, ist eine verwickelte Thätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten anderen Thätigkeiten des Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane u. s. w. Die Erkenntniß der Wahrheit fördern allen diese Gemüths-Zustände und Gemüths-Bewegungen in keiner Weise; im Gegentheil stören sie oft die allen dazu befähigte Vernunft und schädigen sie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein "Welträthsel" ist durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöst oder auch nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der sogenannten "Offenbarung" und den angeblichen, dadurch erreichen "Glaubenswahrheiten"; diese beruhen sämmtlich auf bewußter oder unbewußter Täuschung, wie wir im 16. Kapitel sehen werden.

Philosophie und Naturwissenschaft.

Als einen der erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträthsel müssen wir es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen, dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken - oder Empirie und Spekulation - als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden sind. Die Philosophen haben allmählich eingesehen, daß die reine Spekulation, wie sie z. B. Plato und Hegel zur ideaeln Welt-Konstruktion benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht ausreicht. Und ebenso haben sich anderseits die Naturforscher überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie sie z.B.Baco und Will zur Grundlage der realen Weltanschauung erhoben, für deren Vollendung allein ungenügend ist. Denn die zwei großen Erkenntniß-Wege, die sinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, sind zwei verschiedene Gehirn-Funktionen; die erstere wird durch die Sinnesorgane und die centralen Sinnesherde, die großen "Associations-Centren der Großhirnrinde" vermittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10). Erst durch die vereinigte Thätigkeit beider entsteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt es auch heute noch manche Philosophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruiren wollen, und welche die empirische Naturerkenntniß schon deshalb verschmähen, weil sie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderseits behaupten auch heute noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft das "thatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der einzelnen Natur-Erscheinungen sei"; das "Zeitalter der Philosophie" sei vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten (Virchow 1893). Diese einseitige Ueberschätzung der Empirie ist ein ebenso gefährlicher Irrthum wie jene entgegengesetzte der Spekulation. Beide Erkenntniß-Wege sind sich gegenseitig unentbehrlich. Die größten Triumphe der modernen Naturforschung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Substanz-Gesetz, sind philosophische Thaten, aber nicht Ergebnisse der einen Spekulation, sondern der vorausgegangenen, ausgedehntesten und gründlichsten Empirie.

Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unser größter idealistischer Dichter, Schiller, den beiden streitenden Heeren, den Philosophen und Naturforschern zu:

"Feindschaft sei zwischen Euch!

"Noch kommt das Bündniß zu frühe!

"Wenn Ihr im Suchen Euch trennt,

"Wird erst die Wahrheit erkannt!"

Seitdem hat sich das Verhältniß zum Glück gründlich geändert; indem beide Heere auf verschiedenen Wegen nach demselben höchsten Ziele strebten, haben sie sich in demselben zusammengefunden und nähern sich im gemeinsamen Bunde immer mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir sind jetzt am Ende des Jahrhunderts zu jener monistischen Erkenntniß-Methode zurückgekehrt, welche schon an dessen Anfang von unserm größten realistischen Dichter, Goethe, als die einzig naturgemäße anerkannt war.

Dualismus und Monismus.

Alle verschiedenen Richtungen der Philosophie lassen sich, vom heutigen Standpunkte der Naturwissenschaft beurtheilt, in zwei entgegengesetzte Reihen bringen, einerseits die dualistische oder zwiespältige, anderseits die monistische oder einheitliche Weltanschauung. Gewöhnlich ist die erstere mit teleologischen und idealistischen Dogmen verknüpft, die letztere mit mechanistischen und realistischen Grundbegriffen. Der Dualismus (im weitesten Sinne!) zerlegt das Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenübersteht. Der Monismus hingegen (ebenfalls im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die "Gott und Natur" zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden. Der extramundane "persönliche" Gott des Dualismus führt nothwendig zum Theismus; hingegen der intramundane Gott des Monismus zum Pantheismus.

Materialismus und Spiritualismus.

Sehr häufig werden auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus verwechselt. Da diese und andere ähnliche Begriffs-Verwirrungen höchst nachtheilig wirken und zahlreiche Irrthümer veranlassen, wollen wir zur Vermeidung allen Mißverständnisse nur kurz noch Folgendes bemerken: I. Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings von Ostwald als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immatierellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Ueberzeugung, daß "die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann". Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz. (Vergl. Kapitel 12.)


Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber