Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber

Zwanzigstes Kapitel

Lösung der Welträthsel.

Rückblick auf die Fortschritte der wissenschaftlichen Welterkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Beantwortung der Welträthsel durch die monistische Naturphilosophie.

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Inhalt: Rückblick auf die Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Lösung der Welträthsel. I. Fortschritte der Astronomie und Kosmologie. Physikalische und chemische Einheit des Universum. Metamorphose des Kosmos. Entwickelung der Planeten-Systeme. Analogie der phylogenetischen Processe auf der Erde und anderen Planeten. Organische Bewohner anderer Weltkörper. Periodischer Wechsel der Weltenbildung. II. Fortschritte der Geologie und Paläontologie. Neptunismus und Vulkanismus. Kontinuitäts-Lehre. III. Fortschritte der Physik und Chemie. IV. Fortschritte der Biologie. Zellen-Lehre und Descendenz-Theorie. V. Anthropologie. Ursprung des Menschen. Allgemeine Schlußbetrachtung.

Am Ende unserer philosophischen Studien über die Welträthsel angelangt, dürfen wir getrost zur Beantwortung der schwerwiegenden Frage schreiten: Wie weit ist uns deren Lösung gelungen? Welchen Werth besitzen die ungeheuren Fortschritte, welche das verflossene 19. Jahrhundert in der wahren Natur-Erkenntniß gemacht hat? Und welche Aussicht eröffnen sie uns für die Zukunft, für die weitere Entwickelung unserer Weltanschauung im 20. Jahrhundert, an dessen Schwelle wir stehen? Jeder unbefangene Denker, der die thatsächlichen Fortschritte unserer empirischen Kenntnisse und die einheitliche Klärung unseres philosophischen Verständnisses derselben einigermaßen übersehen kann, wird unsere Ansicht theilen: das 19. Jahrhundert hat größere Fortschritte in der Kenntniß der Natur und im Verständniß ihres Wesens herbeigeführt als alle früheren Jahrhunderte; es hat viele große "Welträthsel" gelöst, die an seinem Beginne für unlösbar galten; es hat uns neue Gebiete des Wissens und Erkennens entdeckt, von deren Existenz der Mensch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor Allem aber hat es uns das erhabene Ziel der monistischen Kosmologie klar vor Augen gestellt und den Weg gezeigt, auf welchem allein wir uns demselben nähern können, den Weg der exakten empirischen Erforschung der Thatsachen und der kritischen genetischen Erkenntniß iherer Ursachen. Das abstrakte große Gesetz der mechanischen Kausalität, für welches unser kosmologisches Grundgesetz, das Substanz-Gesetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck ist, beherrscht jetzt das Universum ebenso wie den Menschengeist; es ist der sichere unverrückbare Leitstern geworden, dessen klares Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erscheinungen den Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir einen flüchtigen Rückblick auf die erstaunlichen Fortschritte werfen, welche die Hauptzweige der Naturwissenschaft in diesem denkwürdigen Zeitraum gemacht haben.

I.

Fortschritte der Astronomie.

Die Himmelskunde ist die älteste, ebenso wie die Menschenkunde die jüngste Naturwissenschaft. Ueber sich selbst und sein eigenes Wesen kam der Mensch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller Klarheit, während er in der Kenntniß des gestirnten Himmels, der Planeten-Bewegungen u. s. w. schon vor 4500 Jahren erstaunliche Kenntnisse besaß. Die alten Chinesen, Inder, Egypter und Chaldäer kannten im fernen Morgenlande schon damals die sphärische Astronomie genauer als die meisten "gebildeten" Christen des Abendlandes viertausend Jahre später. Schon im Jahre 2697 vor Chr. wurde in China eine Sonnenfinsterniß astronomisch berechnet und 1100 vor Chr. mittelst eines Gnomons die Schiefe der Ekliptik bestimmt, während Christus selbst (der "Sohn Gottes!") bekanntlich gar keine astronomischen Kenntnisse besaß, vielmehr Himmel und Erde, Natur und Mensch von dem beschränktesten geocentrischen und anthropocentrischen Standpunkte aus beurtheilte. Als größter Fortschritt der Astronomie wird allgemein und mit Recht das heliocentrische Weltsystem des Kopernikus betrachtet, dessen großartiges Werk: "De revolutionibus orbium coelestium" selbst die größte Revolution in den Köpfen der Menschen hervorrieft. Indem er das herrschende geocentrische Weltsystem des Ptolemäus stürzte, entzog er zugleich der reinen christlichen Weltanschauung den Boden, welche die Erde als Mittelpunkt der Welt und den Menschen als gottgleichen Beherrscher der Erde betrachtete. Es war daher nur folgerichtig, daß der christliche Klerus, an seiner Spitze der römische Papst die unschätzbare Entdeckung des Kopernikus auf's heftigste bekämpfte. Trotzdem brach sie sich bald vollständig Bahn, nachdem Kepler und Galilei darauf die wahre "Mechanik des Himmels" gegründet und Newton ihr durch seine Gravitations-Theorie die unerschütterliche mathematische Basis gegeben hatte (1686).

Ein weiterer gewaltiger und das ganze Universum umfassender Fortschritt war die Einführung der Entwickelungs-Idee in die Himmelskunde; er geschah 1755 durch den jugendlichen Kant, der in seiner kühnen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels nicht die "Verfassung", sondern auch den "mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton's Grundsätzen" abzuhandeln unternahm. Durch das großartige "Système du monde" von Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselben Vorstellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde dann 1766 diese neue "Mécanique céleste" so fest begründet, daß es scheinen konnte, unserem 19. Jahrhundert sei auf diesem größten Erkenntniß-Gebiete nichts wesenlich Neues von gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch bleibt ihm der Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und unseren Blick in's Universum unendlich erweitert zu haben. Durch die Erfindung der Photographie und Photometrie, vor Allen aber der Spektral-Analyse (durch Bunsen und Kirchhoff, 1860) wurden die Physik und Chemie in die Astronomie eingeführt und dadurch kosmologische Aufschlüsse von größter Tragweite gewonnen. Es ergab sich nun mit Sicherheit, daß die Materie im ganzen Weltall dieselbe ist, und daß deren physikalische und chemische Eigenschaften auf den fernsten Fixsternen nicht verschieden sind von denjenigen unserer Erde.

Die monistische Ueberzeugung von der physikalischen und chemischen Einheit des unendlichen Kosmos, die wir dadurch gewonnen haben, gehört sicherlich zu den werthvollsten allgemeinen Erkenntnissen, welche wir der Astrophysik verdanken, einem neuen, höchst interessanten Zweiger der Astronomie. Nicht minder wichtig ist die klare, mit Hülfe jener gewonnene Erkenntniß, daß auch dieselben Gesetze der mechanischen Entwickelung im unendlichen Universum ebenso überall herrschen wie auf unserer Erde; eine gewaltige, allumfassende Metamorphose des Kosmos vollzieht sich ebenso ununterbrochen in allen Theilen des unendlichen Universums wie in der geologischen Geschichte unserer Erde; ebenso in der Stammesgeschichte ihrer Bewohner wie in der Völkergeschichte und im Leben jedes einzelnen Menschen. In einem Theile des Kosmos erblicken wir mit unserem vervollkommneten Fernröhren gewaltige Nebelflecke, die aus glühenden, äußerst dünnen Gasmassen bestehen; wir deuten dieselben als Keime von Weltkörpern, die Milliarden von Meilen entfernt und im ersten Stadium der Entwickelung begriffen sind. Bei einem Theile dieser "Sternkeime" sind wahrscheinlich die chemischen Elemente noch nicht getrennt, sondern bei ungeheuer hoher Temperatur (nach vielen Millionen Graden berechnet!) im Urelement (Prothyl) vereinigt; ja vielleicht ist hier zum Theil die ursprüngliche "Substanz" noch nicht in "Masse und Aether" gesondert. In anderen Theilen des Universums begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung gluthflüssig geworden sind; wir können ihre Entwickelungsstufe annähernd aus ihrer verschiedenen Farbe bestimmen. Dann wieder sehen wir Sterne, die von Ringen und Monden umgeben sind wie unser Saturn; wir erkennen in dem leuchtenden Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der sich vom Mutter-Planeten ebenso abgelöst hat wie dieser letztere von der Sonne. (Vergl. Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der Natur, 1894.)

Von vielen "Fixsteren", deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annahmen, daß sie Sonnen sind, ähnlich denjenigen unseres eigenen Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuthen, daß sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen Entwickelungsstufe wie unsere Erde befinden, d. h. in einem Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche zwischen dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenstoff auch hier, wie auf der Erde mit anderen Elementen sehr verwickelte Verbindungen eingeht, und daß aus seinen stickstoffhaltigen Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare "lebendige Substanz", die wir als alleinigen Eigenthümer des organischen Lebens kennen. Die Moneren (z. B. Chromaceen und Bakterien), die nur aus solchem primitiven Protoplasma bestehen, und die durch Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen Nitrokarbonaten entstanden, können denselben Entwickelungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen Planeten eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber - ebensowohl der plasmodomen Pflanzenzellen wie der plasmophagen Thierzellen - berechtigt uns zu dem Schlusse, daß auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen ähnlich wie auf unserer Erde abspielt - immer natürlich die gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das Wasser tropfbar-flüssig bleibt; für glühend-flüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht, ist organisches Leben in gleicher Weise ganz unmöglich.

Die Aehnlichkeit der Phylogenie,

die Analogie der stammesgeschichtlichen Entwickelung, die wir demnach bei vielen Sternen auf gleicher biogenetischer Entwickelungs-Stufe annehmen dürfen, bietet natürlich der konstruktiven Phantasie ein weites Feld für farbenreiche Spekulationen. Ein Lieblings-Gegenstand derselben ist seit alter Zeit die Frage, ob auch Menschen oder uns ähnliche, vielleicht höher entwickelte Organismen auf anderen Sternen wohnen? Unter vielen Schriften, welche diese offene Frage zu beantworten suchen, haben neuerdings namentlich diejenigen des Pariser Astronomen Camille Flammarion eine weite Verbreitung erlangt; sie zeichnen sich ebenso durch reiche Phantasie und lebendige Darstellung aus, wie durch bedauerliche Mangel an Kritik und an biologischen Kenntnissen. Soweit wir gegenwärtig zur Beantwortung dieser Frage befähigt scheinen, können wir uns etwa Folgendes vorstellen: I. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auf einigen Planeten unseres Systems (Mars und Venus) und vielen Planeten anderer Sonnen-Systeme der biogenetische Prozeß sich ähnlich wie auf unserer Erde abspielt; zuerst entstanden durch Archigonie einfache Moneren und aus diesen einzellige Protisten (zunächst plasmodome Urpflanzen, später plasmophage Urthiere). II. Es ist sehr wahrscheinlich, daß aus diesen einzelligen Protisten sich im weiteren Verlauf der Entwickelung zunächst sociale Zellvereie bildeten (Cönobien), später gewebebildende Pflanzen und Thiere (Metaphyten und Metazoen). II. Es ist auch fernerhin wahrscheinlich, daß im Pflanzenreiche zunächst Thallophyten entstanden (Algen und Pilze), später Diaphyten (Moose und Farne), zuletzt Anthophyten (gymnosperme und angiosperme Blumenpflanzen). IV Es ist ebenso wahrscheinlich, daß auch im Thierreiche der biogenetische Proceß einen ähnlichen Verlauf nahm, daß aus Blastäaden (Katallakten) sich zunächst Gasträaden entwickelten, und aus diesen Niederthieren (Cölenterien) später Oberthiere (Cölomarien). V. Dagegen ist es sehr fraglich, ob die einzelnen Stämme dieser höheren Thiere (und ebenso der höheren Pflanzen) einen ähnlichen Entwickelungsgang auf anderen Planeten durchlaufen wie auf unserer Erde. IV. Insbesondere ist es ganz unsicher, ob Wirbelthiere auch außerhalb der Erde existiren, und ob aus deren phyletischer Metamorphose sich im Laufe von vielen Millionen Jahre ebenso Säugethiere und an deren Spitze der Mensch entwickelt haben wie auf unserer Erde; es müßten dann Millionen von Transformationen sich dort ganz ebenso wie hier wiederholt haben. VII. Dagegen ist es viel wahrscheinlicher, daß auf anderen Planeten sich andere Typen von höheren Pflanzen und Thieren entwickelt haben, die unserer Erde fremd sind, vielleicht auch aus einem höheren Tierstamme, der den Wirbelthieren an Bildungsfähigkeit überlegen ist, höhere Wesen, die uns irdische Menschen an Intelligenz und Denkvermögen weit übertreffen. VIII. Die Möglichkeit, daß wir Menschen mit solchen Bewohnern anderer Planeten jemals in direkten Verkehr treten können, erscheint ausgeschlossen durch die weite Entfernung unserer Erde von anderen Weltkörpern und die Abwesenheit der unentbehrlichen atmosphärischen Luft in dem weiten, nur von Aether erfüllten Zwischenraum.

Während nun viele Sterne sich wahrscheinlich in einem ähnlichen biogenetischen Entwickelungs-Stadium befinden wie unsere Erde (seit mindestens hundert Millionen Jahren!), sind andere schon weiter vorgeschritten und gehen im "planetarischen Greisenalter" ihrem Ende entgegen, demselben Ende, das auch unseser Erde sicher bevorsteht. Durch Ausstrahlung der Wärme in den kalten Weltraum wird die Temperatur allmählich so herabgesetzt, daß alles tropfbar flüssige Wasser zu Eis erstarrt; damit hört die Möglichkeit organischen Lebens auf. Zugleich zieht sich die Masse der rotirenden Weltkörper immer stärker zusammen; ihre Umlaufsgeschwindigkeit ändert sich langsam. Die Bahnen der kreisenden Planeten werden immer enger, ebenso diejenigen der sie umgebenden Monde. Zuletzt stürzen die Monde in die Planeten und diese in die Sonnen, aus denen sie geboren sind. Durch diesen Zusammenstoß werden wieder ungeheure Wärme-Mengen erzeugt. Die zerstäubte Masse der zerstoßenen kollidirten Weltkörper vertheilt sich frei im unendlichen Weltraum, und das ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt von Neuem.

Das großartige Bild, welches so vor unseren geistigen Augen die moderne Astrophysik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Entstehen und Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodischen Wechsel der verschiedenen kosmogenetischen Zustände, welche wir im Universum neben einander beobachten. Während an einem Orte des unendlichen Weltraums aus einem diffusen Nebelfleck ein neuer Weltkeim sich entwickelt, hat ein anderer an einem weit entfernten Orte sich bereits zu einem rotirenden Balle von gluthflüssiger Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an seinem Äquator Ringe abgeschleudert, die sich zu Planeten ballen; ein vierter ist schon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten sich mit sekundären Trabanten umgeben haben, den Monden u. s. w. u. s. w. Und dazwischen treiben sich im Weltraum Milliarden von kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und Sternschnuppen, die als scheinbar gesetzlose Vagabunden die Bahn der größeren kreuzen, und von denen täglich ein großer Theil in die letzteren hineinstürzt. Dabei ändern sich beständig langsam die Umlaufs-Zeiten und die Bahnen der jagenden Weltkörper. Die erkalteten Monde stürzen in ihre Planeten, wie diese in ihre Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht schon erstarrt, stoßen mit ungeheurer Kraft auf einander und zerstäuben in nebelartige Massen. Dabei entwickeln sie so kolossale Wärmemengen, daß der Nebelfleck wieder glühend wird, und nun wiederholt sich das alte Spiel von Neuem. In diesem Perpetuum mobile bleibt aber die unendliche Substanz des Universum, die Summe ihrer Materie und Energie ewig unverändert, und ewig wiederholt sich in der unendlichen Zeit der periodische Wechsel der Weltbildung, die in sich selbst zurücklaufende Metamorphose des Kosmos. Allgewaltig herrscht das Substanz-Gesetz.

II.

Fortschritte der Geologie.

Viel später als der Himmel wurde die Erde und ihre Entstehung Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Die zahlreichen Kosmogenien alter und neuer Zeit wollten zwar über die Entstehung der Erde ebensogut Auskunft geben wie über diejenige des Himmels; allein das mythologische Gewand, in welches sie sich sämmtlich hüllten, verrieht sofort ihren Ursprung aus der dichtenden Phantasie. Unter all den zahlreichen Schöpfungssagen, von denen uns die Religions- und Kultur-Geschichte Kunde giebt, gewann eine einzige bald allen übrigen den Rang ab, die Schöpfungsgeschichte des Moses, wie sie im ersten Buche des Pentateuch (Genesis) erzählt wird. Sie entstand nach dem Tode des Moses (wahrscheinlich erst 800 Jahre später); ihre Quellen sind aber größtentheils viel älter und auf assyrische, babylonische und indische Sagen zurückzuführen. Den größten Einfluß gewann diese jüdische Schöpfungssage dadurch, daß sie in das christliche Glaubensbekenntniß hinübergenommen und als "Wort Gottes" geheiligt wurde. Zwar hatten schon 500 Jahre vor Christus die griechischen Naturphilosophen die natürliche Entstehung der Erde auf dieselbe Weise wie die der anderen Weltkörper erklärt. Auch hatte schon damals Xenophanes von Kolophon die Versteinerungen, die später so große Bedeutungen erlangten, in ihrer wahren Natur erkannt; der große Maler Leonardo da Vinci hatte im 15. Jahrhundert ebenfalls diese Petrefakten für die fossilen Ueberreste von Thieren erklärt, die in früheren Zeiten der Erdgeschichte gelebt hatten. Allein die Autorität der Bibel, insbesondere der Mythus von der Sündfluth, verhinderte jeden weiteren Fortschritt der wahren Erkenntniß und sorgte dafür, daß die mosaischen Schöpfungssagen noch bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Geltung blieben. In den Kreisen der orthodoxen Theologen besitzen sie dieselbe noch bis auf den heutigen Tag. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen unabhängig davon wissenschaftliche Forschungen über den Bau der Erdrinde, und wurden daraus Schlüsse auf ihre Entstehung abgeleitet. Der Begründer der Geognosie, Werner in Freiburg, ließ alle Gesteine aus dem Wasser entstehen, während Voigt und Hutton (1788) richtig erkannten, daß nur die sedimentären, Petrefakten führenden Gesteine diesen Ursprung haben, die vulkanischen und plutonischen Gebirgsmassen dagegen durch Erstarrung feurigflüssiger Massen entstanden sind.

Der heftige Kampf, welcher zwichen jener neptunistischen und dieser plutonistischen Schule entstand, dauerte noch während der ersten drei Decennien des 19. Jahrhunderts fort; er wurde erst geschlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das Princip des Aktualismus begründet und Charles Lyell dasselbe mit größtem Erfolge für die ganze natürliche Entwickelung der Erde durchgeführt hatte. Durch seine "Principien der Geologie" (1830) wurde die überaus wichtige Lehre von der Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur Anerkennung gebracht, gegenüber der Katastrophentheorie von Cuvier. Die Paläontologie, welche der Letztere durch sein Werk über die fossilen Knochen (1812) begründet hatte, wurde nun bald zur wichtigsten Hülfswissenschaft der Geologie, und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich dieselbe so weit entwickelt, daß die Haupt-Perioden in der Geschichte der Erde und ihrer Bewohner festgelegt waren. Die dünne Rindenschicht der Erde war nun mit Sicherheit als die Erstarrungs-Kruste des feurigflüssigen Planeten erkannt, dessen langsame Abkühlung und Zusammenziehung sich ununterbrochen fortsetzt. Die Faltung der erstarrenden Rinde, die "Reaktion des feurig-flüssigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche", und vor Allem die ununterbrochene geologische Thätigkeit des Wassers sind die natürlich wirkenden Ursachen, welche tagtäglich an der langsamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge arbeiten.

Drei überaus wichtige Ereignisse von allgemeiner Bedeutung verdanken wir den glänzenden Fortschritten der Erdgeschichte. Erstens wurden damit aus der Erdgeschichte alle Wunder ausgeschlosen, alle übernatürlichen Ursachen beim Aufbau der Gebirge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde unser Begriff von der Länge der unheuren Zeiträume, die seit deren Bildung verflossen sind, erstaunlich erweitert. Wir wissen jetzt, daß die ungeheuren Gebirgsmassen der paläozoischen, mesozoischen und cänozoischen Formationen nicht viele Jahrtausende, sondern viele Jahrmillionen (weit über hundert!) zu ihrem Aufbau brauchten. Drittens wissen wir jetzt, daß alle die zahlreichen, in diesen Formationen eingeschlossenen Versteinerungen nicht wunderbare "Naturspiele" sind, wie man noch vor 150 Jahren glaubte, sondern die versteinerten Ueberreste von Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte wirklich lebten, und welche durch langsame Umwandlung aus vorhergegangenen Ahnenreihen entstanden sind.

III.

Fortschritte der Physik und Chemie.

Die zahllosen, wichtigen Entdeckungen, welche diese fundamentalen Wissenschaften im 19. Jahrhundert gemacht haben, sind so allbekannt, und ihre praktische Anwendung in allen Zweigen des menschlichen Kulturlebens liegt so klar vor Aller Augen, daß wir hier nicht Einzelnes hervorzuheben brauchen. Allen voran hat die Anwendung der Dampfkraft und Elektrizität dem 19. Jahrhundert den charakteristischen "Maschinen-Stempel" aufgedrückt. Aber nicht minder werthvoll sind die kolossalen Fortschritte der anorganischen und organischen Chemie. Alle Gebiete unserer modernen Kultur, Medicin und Technologie, Industrie und Landwirthschaft, Bergbau und Forstwirthschaft, Landtransport und Wasserverkehr, sind bekanntlich im Laufe des 19. Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - dadurch so gefördert worden, daß unsere Großväter aus dem 18. Jahrhundert sich in dieser fremden Welt nicht auskennen würden. Aber werthvoller und tiefgreifender noch ist die ungeheure theoretische Erweiterung unserer Natur-Erkenntniß, welche wir der Begründung des Substanz-Gesetzes verdanken. Nachdem Lavoisier (1789) das Gesetz von der Erhaltung der Materie aufgestellt und Dalton (1808) mittelst desselben die Atom-Theorie neu begründet hatte, war der modernen Chemie die Bahn eröffnet, auf der sie in rapidem Siegeslauf eine früher nicht geahnte Bedeutung gewann. Dasselbe gilt für die Physik betreffend das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Die Entdeckung desselben durch Robert Mayer (1842) und Hermann Helmholtz (1847) bedeutet auch für diese Wissenschaft eine neue Periode fruchtbarster Entwickelung; denn nun erst war die Physik im Stande, die universelle Einheit der Naturkräfte zu begreifen und das ewige Spiel der unzähligen Naturprozesse, bei welchen in jedem Augenblick eine Kraft in die andere umgesetzt werden kann.

IV.

Fortschritte der Biologie.

Die großartigen und für unsere ganze Weltanschauung bedeutsamen Entdeckungen, welche die Astronomie und Geologie im 19. Jahrhundert gemacht haben, werden noch weit übertroffen von denjenigen der Biologie; ja wir dürfen sagen, daß von den zahlreichen Zweigen, in welchen diese umfassende Wissenschaft vom organischen Leben sich neuerdings entfaltet hat, der größere Theil überhaupt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Wie wir im ersten Abschnitte gesehen haben, sind innerhalb desselben alle Zweige der Anatomie und Physiologie, der Botanik und Zoologie, Ontogenie und Phylogenie, durch unzählige Entdeckungen und Erfindungen so sehr bereichert worden, daß der heutige Zustand unseres biologischen Wissens denjenigen vor hundert Jahren um das Vielfache übertrifft. Das gilt zunächst quantitativ von dem kolossalen Wachsthum unseres positiven Wissens auf allen jenen Gebieten und ihren einzelnen Theilen. Es gilt aber ebenso und noch mehr qualitativ von der Vertiefung unseres Verständnisses der biologischen Erscheinungen, von unserer Erkenntniß ihrer bewirkenden Ursachen. Hier hat vor allen Anderen Charles Darwin (1859) die Palme des Sieges errungen; er hat durch seine Selektions-Theorie das große Welträthsel von der "organischen Schöpfung" gelöst, von der natürlichen Entstehung der unzähligen Lebensformen durch allmähliche Umbildung. Zwar hatte schon fünfzig Jahre früher der große Lamarck (1809) erkannt, daß der Weg dieser Transformation auf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung beruhe; allein es fehlte ihm damals noch das Selektions-Princip, und es fehlte ihm vor Allem die tiefe Einsicht in das wahre Wesen der Organisation, welche erst später durch die Begründung der Entwickelungsgeschichte und der Zellentheorie gewonnen wurde. Indem wir allgemein die Ergebnisse dieser und anderer Disciplinen zusammenfassen und in der Stammesgeschichte der Organismen den Schlüssel zu ihrem einheitlichen Verständniß fanden, gelangten wir zur Begründung jener monistischen Biologie, deren Principien ich (1866) in meiner "Generellen Morphologie" festzulegen versucht habe. (Vergl. meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte", X. Aufl. 1902, und Carus Sterne: "Werden und Vergehen", IV. Aufl. 1900).

V.

Fortschritte der Anthropologie.

Allen anderen Wissenschaften voran steht in gewissem Sinne die wahre Menschenkunde, die wirklich vernünftige Anthropologie. Das Wort des alten Weisen: "Mensch, erkenne dich selbst" (Homo, nosce to ipsum) und das andere berühmte Wort: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" sind ja von Alters her anerkannt und angewendet. Und dennoch hat diese Wissenschaft - im weitesten Sinne genommen - länger als alle anderen in den Ketten der Tradition und des Aberglaubens geschmachtet. Wir haben im ersten Abschnitt gesehen, wie langsam und spät sich erst die Kenntniß vom menschlichen Organismus entwickelt hat. Einer ihrer wichtigsten Zweige, die Keimesgeschichte, wurde erst 1828 (durch Baer) und ein anderer, nicht minder wichtiger, die Zellenlehre, erst 1838 (durch Schwann) sicher begründet. Noch später aber wurde die "Frage aller Fragen" gelöst, das gewaltige Räthsel vom "Ursprung des Menschen". Obgleich Lamarck schon (1809) den einzigen Weg zur richtigen Lösung desselben gezeigt und "die Abstammung des Menschen vom Affen" behauptet hatte, gelang es doch Darwin erst fünfzig Jahre später, diese Behauptung sicher zu begründen, und erst 1863 stellte Huxley in seinen "Zeugnisssen für die Stellung des Menschen in der Natur" die gewichtigsten Beweise dafür zusammen. Ich selbst habe sodann in meiner Anthropogenie (1874) den ersten Versuch gemacht, die ganze Reihe der Ahnen, durch welche sich unser Geschlecht im Laufe vieler Jahrmillionen aus dem Thierreich langsam entwickelt hat, im historischen Zusammenhang darzustellen.


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Copyright 1997. Kurt Stüber