Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber

Siebentes Kapitel

Stufenleiter der Seele.

Monistische Studien über vergleichende Psychologie. Die psychologische Skala. Psychoplasma und Nervensystem. Instinkt und Vernunft.

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Inhalt: Psychologische Einheit der organischen Natur. Materielle Basis der Psyche: Psychoplasma. Skale der Empfindungen. Skala der Bewegungen. Skala der Reflexe. Einfache und zusammengesetzte Reflexe. Reflexthat und Bewußtsein. Skala der Vorstellungen. Unbewußte und bewußte Vorstellungen. Skala des Gedächtnisses. Unbewußtes und bewußtes Gedächtniß. Associon der Vorstellungen. Instinkte. Primäre und sekundäre Instinkte. Skala der Vernunft. Sprache. Gemüthsbewegungen und Leidenschaften. Wille. Freiheit des Willens.

Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hülfe der Entwickelungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche, hat uns zu der Ueberzeugung geführt, daß das organische Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften sich entwickelt, aus den physiologischen Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich subjektive und introspektive Zergliederung der höchstentwickelten Philosophen-Seele sein, sondern die objektive und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von niederen thierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Skale zu unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Decennien unseres Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden, vor Allem in dem ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl. S. 46). Wir beschränken uns hier auf die kurze Besprechung einiger der allgemeinsten Fragen, welche uns die Erkenntniß jener Stufenleiter vorlegt.

Materielle Basis der Psyche.

Alle Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Theil des letzteren, der als der unentbehrliche Träger der Psyche erscheint, als Psychoplasma bezeichnet (als "Seelesubstanz" im monistischen Sinne), d. h. wir erblicken darin kein besonderes "Wesen", sondern wir betrachten die Psyche als Kollektiv-Begriff für die gesammten psychischen Funktionen des Plasma. "Seele" ist in diesem Sinne ebenso eine physiologische Abstraktion wie der Begriff "Stoffwechsel" oder "Zeugung". Beim Menschen und den höheren Thieren ist das Psychoplasma, zufolge der fortgeschrittenen Arbeitstheilung der Organe und Gewebe, ein differenzirter Bestandtheil des Nervensystems, das Neuroplasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der Nervenfasern. Bei den niederen Thieren dagegen, die noch keine gesonderten Nerven und Sinnesorgane besitzen, ist das Psychoplasma noch nicht zur selbstständigen Differenzirung gelangt, ebenso wie bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protisten endlich ist das Psychoplasma entweder identisch mit den ganzen lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem Theile desselben. In allen Fällen, ebenso auf dieser niedersten wie auf jener höchsten Stufe der psychologischen Skala, ist eine gewisse chemische Zusammensetzung des Psychoplasma und eine gewisse physikalische Beschaffenheit desselben unentbehrlich, wenn die "Seele" fungiren oder arbeiten soll. Das gilt ebenso von der elementaren Seelenthätigkeit der plasmatischen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen wie von den zusammengesetzten Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren Thieren und an ihrer Spitze dem Menschen. Die Arbeit des Psychoplasma, die wir "Seele" nennen, ist stets mit Stoffwechsel verknüpft.

Skala der Empfindungen.

Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewisse Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwerkraft und Elektricität, mechanische Processe und chemische Vorgänge in der Umgebung wirken als "Reize" auf das empfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden wir folgende fünf Grade:

I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagirt auf die einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Theile der unvollkommensten Thiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Theile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzirung specifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigenthümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. die "specifische Energie" dieser höheren Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centralisation oder Integration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Associon der früheren isolirten oder lokalisirten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewußt bleiben, so bei vielen niederen und höheren Thieren. V. Auf der fünften Stufe entwickelt sich durch Spiegelung der Empfindungen in einem Central-Theile des Nervensystems die höchste psychische Funktion, die bewußte Empfindung; so beim Menschen und den höheren Wirbelthieren, wahrscheinlich auch bei einem Theile der höheren wirbellosen Thiere, besonders der Gliederthiere.

Skala der Bewegungen.

Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme sind spontan beweglich, im Gegensatze zu den starren und unbeweglichen Anorganen (Krystallen), d. h. es finden im lebendigen Psychoplasma Lageveränderungen statt, welche in dessen chemischer Konstitution selbst begründet sind. Diese aktiven vitalen Bewegungen sind zum Theil direkt durch Beobachtung wahrzunehmen, zum anderen Theil aber nur indirekt aus ihren Wirkungen zu erschließen. Wir unterscheiden fünf Abstufungen derselben.

I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens, bei Chromaceen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene Wachstums-Bewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinsam zukommen. Dieselben geschehen gewöhnlich so langsam, daß man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden Körpers. II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen sich kriechend oder schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung einer schleimigen Masse. III. Andere, im Wasser schwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a., stegen auf und nieder, indem sie ihr specifisches Gewicht verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder Ausstoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, besonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Papilionaceen, führen Bewegungen von Blättern oder anderen Theilen mittelst Turgor-Wechsels aus, d. h. sie verändern die Spannung des Protoplasmas und damit auch dessen Druck auf die umschließende elastische Zellenwand. V. Die wichtigsten von allen organischen Bewegungen sind die Kontraktions-Erscheinungen, d. h. Gestalts-veränderungen der Körper-Oberfläche, welche mit gegenseitigen Lage-Verschiebungen ihrer Theilchen verbunden sind; sie verlaufen stets mit zwei verschiedenen Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktions-Phase (Zusammenziehung) und der Expansions-Phase (Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasma-Kontraktion werden unterschieden Va: die amöboiden Bewegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen u. s. w.); Vb: die ähnlichen Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und Wimperbewegung) bei Infusiorien, Spermien, Flimmer-Epithel-Zellen, und endlich Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Thieren).

Skala der Reflexe

(reflektorische Erscheinungen, Reflex-Bewegungen u. s. w ). Die elementare Seelenthätigkeit, welche durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung entsteht, nennen wir (im weitesten Sinne!) Reflex oder reflektive Funktion (reflektorische Leistung), besser Reflexthat. Die Bewegung - gleichviel welcher Art - erscheint hier als die unmittelbare Folge des Reizes, welchen die Empfindung hervorgerufen hat; man hat sie daher auch im einfachsten Falle (bei Protisten) kurz als "Reizbewegung" bezeichnet. Alles lebende Plasma besitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede physikalische oder chemische Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter Umständen auf das Psychoplasma als Reiz wirken und eine Bewegung hervorrufen oder "auslösen". Wir werden später sehen, wie der wichtige physikalische Begriff der Auslösung die einfachsten organischen Reflexthaten unmittelbar anschließt an ähnliche mechanische Bewegungs-Vorgänge in der anorganischen Natur (z. B. bei der Explosion von Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir unterscheiden in der Skala der Reflexe folgende sieben Stufen:

I. Auf der untersten Stufe der Organisation, bei den niedersten Protisten, lösen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme, Elektricität u. s. w.) im indifferenten Protoplasma nur jene unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachsthums und Stoffwechsels aus, welche allen Organismen gemeinsam sind. Dasselbe gilt auch für die meisten Pflanzen.

II. Bei vielen frei beweglichen Protisten (besonders Amöben, Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers äußere Bewegungen desselben hervor, die sich in der Gestaltsveränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung, Pseudopoden-Bildung, Ausstrecken und Einziehen von Scheinfüßchen); diese unbestimmten, veränderlichen Fortsätze des Plasma sind keine beständigen Organe. In gleicher Weise äußert sich die allgemeine organische Reizbarkeit als indifferenter Reflex auch bei den empfindlichen "Sinnpflanzen" und den niedersten Metazoen; bei diesen vielzelligen Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer zusammenhängen.

III. Viele Protisten, namenlich höher entwickelte Protozoen, sondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Organelle einfachster Art: sensible Tast-Organe und motorische Bewegungs-Organe; beide Werkzeuge sind direkte äußere Fortsätze des Protoplasma; der Reiz, welcher die ersteren trifft, wird unmittelbar durch das Psychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zusammenziehung. Besonders klar ist diese Erscheinung zu beobachten und auch experimentell festzustellen bei vielen festsitzenden Infusorien (z. B. Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den Ciliaten). Der schwächste Reiz, welcher die sehr empfindlichen Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt sofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen festgehefteten Ende. Man bezeichnet diese Erscheinung als "einfachen Reflexbogen".

IV. An diese Vorgänge im einzelligen Organismus der Infusorien schließt sich unmittelbar der interessante Mechanismus der Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen Körper vieler niederen Metazoen finden, besonders bei Nesselthieren (Polypen, Korallen). jede einzelne "Neuromuskel-Zelle" ist ein "einzelliges Reflex-Organ"; sie besitzt an der Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Theil, an dem entgegengesetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht sich zusammen, sobald der erstere gereizt wird.

V. Bei anderen Nesselthieren, namentlich bei den frei schwimmenden Medusen - welche den festsitzenden Polypen nächst verwandt sind - zerfällt die einfache Neuromuskel-Zelle in zwei verschiedene, aber durch einen Faden noch zusammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (inder Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in diesem zweizelligen Reflex-Organ ist die erstere das Elementar-Organ der Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die Verbindungsbrücke des Psychoplasma-Fadens leitet den Reiz von der ersteren zur letztere hinüber.

VI. Der wichtigste Fortschritt in der stufenweisen Ausbildung des Reflex-Mechanismus ist die Sonderung von drei Zellen; an die Stelle der eben genannten einfachen Verbindungsbrücke tritt eine selbstständige dritte Zelle, die Seelenzelle oder Ganglienzelle; damit erscheint zugleich eine neue psychische Funktion, die unbewußte "Vorstellung", deren Sitz eben diese centrale Zelle ist. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinneszelle zunächst auf diese vermittelnde Vorstellungs-Zelle oder Seelenzelle übertragen und erst von dieser als Befehl zur Bewegung an die motorische Muskelzelle abgegeben. Diese "dreizelligen Reflexorgane" sind überwiegend bei der großen Mehrzahl der wirbellosen Thiere entwickelt.

VII. An die Stelle dieser Einrichtung tritt bei den meisten Wirbelthieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle nicht eine, sondern zwei verschiedene Seelenzellen eingeschaltet werden. Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächst centripetal auf die Empfindungszelle übertragen (die sensible Seelenzelle), von dieser auf die Willenszelle (die motorische Seelenzelle) und von dieser letzteren erst auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche solche Reflex-Organe sich verbinden und neue Seelenzellen eingeschaltet werden, entsteht der kompizirte Reflex-Mechanismus des Menschen und der höheren Wirbelthiere.

Einfache und zusammengesetzte Reflexe.

Der wichtige Unterschied, den wir in morphologischer und physiologischer Hinsicht zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen) machen, gilt auch für deren Seelenthätigkeit, für die Reflexthat. Bei den einzelligen Protisten (ebenso den plasmodomen Urpflanzen, Protophyten, wie den plasmaphagen Urthieren, Protozoen) läuft der ganze physiologische Proceß des Reflexes innerhalb des Protoplasma einer einzigen Zelle ab; die "Zellseele" derselben erscheint noch als eine einheitliche Funktion des Psychoplasma, deren einzelne Phasen sich erst mit der Differenzierung besonderer Organe zu sondern beginnen. Schon bei den cönobionten Protisten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carchesium), beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zusammengesetzte Reflexthat. Die zahlreichen socialen Zellen, welche diese Zellvereine oder Coenobien zusammensetzen, stehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch fadenförmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinsamer Kontraktion veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere. Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz isolirt neben einander stehen, sind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zellmembranen durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und psychologischen Zusammenhang erhalten. So erklärt es sich, daß die Erschütterung der empfindlichen Wurzel von Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verursacht, sofort den Reiz auf alle Zelle des Pflanzenstockes überträgt und ihre zarten Fiederblätter zum Zusammenlegen, die Blattstiele zum Herabsinken veranlaßt.

Reflexthat und Bewußtsein.

Ein wichtiger und allgemeiner Charakter aller Reflex-Erscheinungen ist der Mangel des Bewußtseins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel auseinandersetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtsein nur beim Menschen und den höheren Thieren an, dagegen nicht bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protisten; demnach sind bei diesen letzteren alle Reiz-Bewegungen als Reflexe aufzufassen, d. h. also überhaupt alle Bewegungen, soweit sie nicht spontan und durch innere Ursachen veranlaßt sind (impulsive und automatische Bewegungen). Anders verhält es sich bei den höheren Thieren, bei denen ein centralisirtes Nervensysten und vollkommene Sinnesorgane entwickelt sind. Hier hat sich aus der psychischen Reflex-Thätigkeit allmählich das Bewußtsein entwickelt, und nunmehr treten die bewußten Willenshandlungen in Gegensatz zu den daneben noch fortbestehenden Reflex-Handlungen. Wir müssen aber hier, ebenso wie bei den Instinkten, zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen trennen, die primären und die sekundären Reflexe. Primäre Reflexe sind solche, die phyletisch niemals bewußt gewesen sind, also die urspründliche Natur (durch Vererbung von niederen Thier-Ahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe dagegen sind solche, die bei den Voreltern bewußte Willenshandlungen waren, aber später durch Gewohnheit oder Ausfall des Bewußtseins zu unbewußten geworden sind. Eine scharfe Grenze ist hier - wie überall - zwischen bewußten und unbewußten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.

Skala der Vorstellungen.

(Dokesen) Aeltere Psychologen (z. B. Herbart) haben die "Vorstellung" als das seelische Grundphänomen betrachtet, aus dem alle übrigen abzuleiten seien. Die moderne vergleichende Psychologie acceptirt diese Anschauung, soweit es sich um den Begriff der unbewußten Vorstellung handelt; dagegen erblickt sie in der bewußten Vorstellung eine sekundäre Erscheinung des Seelenlebens, welche bei den Pflanzen und den niederen Thieren noch ganz fehlt und nur bei den höheren Thieren zur Ausbildung gelangt. Unter den zahlreichen widersprechenden Definitionen, welche die Psychologen vom Begriffe der "Vorstellung" (Dokesis) gegeben haben, halten wir diejenige für die zweckmäßigste, welche darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt, welches durch die Empfindung uns übermittelt ist. ("Idee" im gewissen Sinne). Wir unterscheiden in der aufsteigenden Stufenleiter der Vorstellungs-Funktion die folgenden vier Hauptstufen:

I. Cellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des Psychoplasma; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtniß reproducirt werden. Bei mehr als viertausend Radiolarien-Arten, welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Species durch eine besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses specifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des "plastischen Distanz-Gefühls", wie ich in meiner Psychologie der Radiolarien gezeigt habe (1887, S. 121).

II Histonale Vorstellung. Schon bei den Cönobien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-Armes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später spontan reproducirt werden kann, so müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonal-Vorstellung annehmen, gebunden an das Psychoplasma der associirten Gewebe-Zellen.

III. Unbewußte Vorstellung der Ganglien-Zellen. Diese dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser Seelenthätigkeit im Thierreich; sie erscheint als eine Lokalisation des Vorstellens auf bestimmte "Seelenzellen". Im einfachsten Falle erscheint sie daher bei der Reflexthat erst auf der sechsten Stufe der Entwickelung, wenn das dreizellige Reflex-Organ gebildet ist; der Sitz der Vorstellung ist dann die mittlere Seelenzelle, welche zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle eingeschaltet ist. Mit der aufsteigenden Entwickelung des Centralnervensystems im Thierreich, seiner zunehmenden Differenzirung und Integration erhebt sich auch die Ausbildung dieser unbewußten Vorstellungen zu immer höheren Stufen.

IV. Bewußte Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den höchsten Entwickelungsstufen der thierischen Organisation entwickelt sich das Bewußtsein als eine besondere Funktion eines bestimmten Central-Organs des Nervensystems. Indem die Vorstellungen bewußte werden, und indem besondere Gehirntheile sich zur Associon der bewußten Vorstellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten psychischen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Ueberlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren, unbewußten und den jüngeren, bewußten Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den ersteren polyphyletisch entstanden sind; denn wir finden bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen des Wirbelthier-Stammes (Mensch, Säugethiere, ein Theil der niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten Vertretern anderer Thierstämme (Ameisen und andere Insekten, Spinnen und höhere Krebse unter den Gliederthieren, Cephalopoden unter den Weichthieren).

Skala des Gedächtnisses.

Eng verknüpft mit der Stufenleiter in der Entwickelung der Vorstellungen ist diejenige des Gedächtnisses; diese höchst wichtige Funktion des Psychoplasma - die Bedingung aller fortschreitenden Seelenentwickelung - ist ja im Wesentlichen Reproduktion von Vorstellungen. Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen geworden waren, werden durch das Gedächtniß neu belebt; sie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand über. Die latente "Spannkraft" im Psychoplasma verwandelt sich in aktive "lebendige Kraft". Entsprechend den vier Stufen der Vorstellung können wir auch beim Gedächtniß vier Hauptstufen der aufsteigenden Entwickelung unterscheiden.

I.

Cellular Gedächtniß.

Schon vor dreißig Jahren hat Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung "das Gedächtniß als eine allgemeine Funktion der organisirten Materie" bezeichnet und die hohe Bedeutung dieser Seelenthätigkeit hervorgehoben, "der wir fast Alles verdanken, was wir sind und haben" (1870). Ich habe später (1876) diesen Gedanken weiter ausgeführt und in seiner fruchtbaren Anwendung auf die Entwickelungslehre zu begründen versucht, in meiner Abhandlung über "Die Perigenesis der Plastibule oder die Wellenzeugung der Lebenstheilchen; ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungs-Vorgänge". Ich habe dort das "unbewußte Gedächtniß" als eine allgemeine, höchst wichtige Funktion aller Plastidule nachzuweisen gesucht, d. h. jener hypothetischen Molekeln oder Molekel-Gruppen, welche von Naegeli als Micellen, von Anderen als Bioplasten u. s. w. bezeichnet worden sind. Nur die lebendigen Plastidule, als die individuellen Molekeln des aktiven Plasma, sind reproduktiv und besitzen somit Gedächtniß; das ist der Hauptunterschied der organischen Natur von der anorganischen. Man kann sagen: "Die Erblichkeit ist das Gedächtniß der Plastidule, hingegen die Variabilität ist die Fassungskraft der Plastidule" (a. a. O. S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protisten setzt sich zusammen aus dem molekularen Gedächtnis der Plastidule aller Micellen, aus welchem ihr lebendiger Zellenleib sich aufbaut. Für die erstaunlichen Leistungen des unbewußten Gedächtnisses bei diesen einzelligen Protisten ist wohl keine Thatsache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regelmäßige Bildung ihrer komplicirten Schutzapparate, der Schalen und Skelette; besonders der Diatomeen und Cosmarieen unter den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von interessanten Beispielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten vererbt sich die specifische Skelettform relativ konstant und bezeugt die Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtnisses.

II.

Histonal-Gedächtnis.

Ebenso interessante Beweise für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Gedächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Thiere (Spongien u. s. w.). Diese zweite Stufe erscheint als Reproduktion der Histonal-Vorstellungen, jener Associon von Cellular-Vorstellungen, die schon mit der Bildung von Cönobien bei den socialen Protisten beginnt.

III. Gleicher Weise ist die dritte Stufe, das "unbewußte Gedächtniß" derjenigen Thiere, die bereits ein Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden "unbewußten Vorstellungen" zu betrachten, welche in gewissen Ganglien-Zellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Thieren ist wohl alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menschen und den höheren Thieren, denen wir Bewußtsein zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtnisses ungleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten; davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen u. s. w., täglich vollziehen.

IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Thieren vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene "innere Spiegelung", als die höchste Blüthe derselben psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren niederen thierischen Vorfahren sich als unbewußte Vorgänge in den Ganglien-Zellen abspielen.

Associon der Vorstellungen.

Die Verkettung der Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Association der Ideen (oder kürzer Associon) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Skala von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Auch sie ist wieder ursprünglich und ganz überwiegend unbewußt ("Instinkt"); nur bei den höheren Thierklassen wird sie allmählich bewußt ("Vernunft"). Die psychischen Erzeugnisse dieser "Ideen-Associon" sind äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt eine sehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Entwickelung von den einfachsten unbewußten Associonen der niedersten Protisten bis zu den vollkommensten bewußten Ideen-Verkettungen des Kulturmenschen hinauf. Auch die Einheit des Bewußtseins bei letzteren wird als das höchste Ergebniß derselben erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben wird um so vollkommener, je mehr sich die normale Associon unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieselben durch die "Kritik der reinen Vernunft" geordnet werden. Im Traume, wo diese Kritik fehlt, erfolgt oft die Associon der reproducirten Vorstellungen in der konfusesten Form. Aber auch im Schaffen der dichterischen Phantasie, welche durch mannigfaltige Verkettung vorhandener Vorstellungen ganz neue Gruppen derselben producirt, ebenso in den Hallucinationen u. s. w. werden dieselben oft ganz naturwidrig geordnet und erscheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen unvernünftig. Ganz besonders gilt dies von den übernatürlichen "Gestalten des Glaubens", dem Geisterspuk des Spiritismus und Okkultismus und den Phantasiebildern der transscendenten dualistischen Philosophie; aber gerage diese abnormen Associonen des "Glaubens" und der angeblichen "Offenbarung" werden vielfach als die werthvollsten "Geistesgüter" des Menschen hochgeschätzt (vergl. Kapitel 16).

Instinkte.

Die veraltete Psychologie des Mittelalters, die allerdings auch heute noch viele Anhänger besitzt, betrachtete das Seelenleben des Menschen und der Thiere als gänzlich verschiedene Erscheinungen; sie leitete das erstere von der "Vernunft", das letztere von dem "Instinkte" ab. Der traditionellen Schöpfungsgeschichte entsprechend nahm man an, daß jeder Thier-Art bei ihrer Schöpfung eine bestimmte, unbewußte Seelen-Qualität vom Schöpfer eingepflanzt sei, und daß dieser "Naturtrieb" (Instinctus) einer jeden Species ebenso unveränderlich sei wie deren körperliche Organisation. Nachdem schon Lamarck (1809) bei Begründung seiner Descendenz-Theorie diesen Irrthum als unhaltbar erwiesen, wurde er durch Darwin (1959) vollständig widerlegt; er bewies an der Hand seiner Selektions-Theorie folgende wichtige Lehrsätze: I. Die Instinkte der Species sind individuell verschieden und ebenso der Abänderung durch Anpassung unterworfen wie die morphologischen Merkmale der Körperbildung. II. Diese Variationen (großenteils durch veränderte Gewohnheiten entstanden) werden durch Vererbung theilweise auf die Nachkommen übertragen und im Laufe der Generationen gehäuft und befestigt. III. Die Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche) trifft unter diesen erblichen Veränderungen der Seelenthätigkeit eine Auswahl, sie erhält die zweckmäßigsten und entfernt die weniger passenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Divergenz des psychischen Charakters führt so im Laufe der Generations-Folgen ebenso zur Entstehung neur Instinkte, wie die Divergenz des morphologischen Charakters zur Entstehung neuer Species. Diese Instinkt-Theorie Darwin's ist jetzt von den meisten Biologen angenommen; John Romanes hat dieselbe in seinem ausgezeichneten Werke über "Die geistige Entwickelung im Thierreiche" (1885) so eingehend behandelt und so wesentlich erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweisen kann. Ich will nur kurz bemerken, daß nach meiner Ansicht Instinkte bei allen Organismen vorkommen, bei sämmtlichen Protisten und Pflanzen ebenso wie bei sämmtlichen Thieren und Menschen; sie treten aber bei letzteren um so mehr zurück, je mehr sich auf ihre Kosten die Vernunft entwickelt.

Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinkt-Formen die primären und sekundären zu unterscheiden; primäre Instinkte sind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens innewohnten und unbewußte waren, vor Allem die Triebe der Selbsterhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fortpflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der Vernunft entstanden; bei höheren Thieren sind sie später, wie beim Menschen, Gegenstände des Bewußtseins geworden. Umgekehrt verhält es sich mit den sekundären Instinkten; diese sind ursprünglich durch intelligente Anpassung entstanden, durch verständiges Nachdenken und Schließen, sowie zweckmäßiges bewußtes Handeln; allmählich sind sie so zur Gewohnheit geworden, daß diese "altera natura" unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als "angeboren" erscheint. Das ursprünglich mit diesen besonderen Instinkten der höheren Thiere und des Menschen verknüpfte Bewußtsein und Nachdenken ist im Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie bei der "abgekürzten Vererbung"). Die unbewußten zweckmäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunsttriebe) erscheinen jetzt als angeborne Instinkte. So ist auch die Entstehung der angeborenen "Erkenntnisse a priori" beim Menschen zu erklären, welche ursprünglich bei seinen Voreltern a posteriori sich empirisch entwickelt hatten.

Skala der Vernunft.

In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Thiere unbekannten psychologischen Betrachtungen, welche nur im Menschen eine "wahre Seele" anerkennen, wird auch ihm allein als höchstes Gut die "Vernunft" und das Bewußtsein zugeschrieben. Auch diser triviale Irrthum (der übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern spukt) ist durch die vergleichende Psychologie der letzten vierzig Jahre gründlich widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menschen nächststehenden Säugethiere) besitzen ebenso gut Vernunft wie der Mensch selbst, und innerhalb der Thierreihe ist ebenso eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft C zu verfolgen wie innerhalb der Menschen-Reihe. Der Unterschied zwischen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer als die graduelle Differenz zwischen der Vernunft dieser letztere und der "vernünftigsten" Säugethiere, der Menschenaffen (Anthropomorpha) und selbst der Papstaffen (Papiomorpha), der Hunde und Elephanten. Auch dieser wichtige Satz ist durch gründliche kritische Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend bewiesen. Wir gehen daher auf denselben hier nicht näher ein, ebenso wenig als auf den Unterschied zwischen Vernunft (Ratio) und Verstand (Intellectus); über diese Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Psychologie, geben die angesehendsten Philosophen die widersprechendsten Definitionen. Im Allgemeinen kann man sagen, daß die Fähigkeit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen gemeinsam ist, beim Verstande den engeren Kreis der konkreten, näher liegenden Associonen umfaßt, bei der Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abstrakten, umfassenderen Associons-Gruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und Instinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchsten Thiere hinaufführt, geht der Verstand der letzteren voraus. Wichtig ist für unsere allgemeine psychologische Betrachtung vor Allem die Thatsache, daß auch diese höchstentwickelten Seelenthätigkeiten den Gesetzen der Vererbung und Anpassung unterliegen, ebenso wie ihre Organe; als solche "Denkorgane" sind beim Menschen und den höheren Säugethieren durch Flechsig (1894), diejenigen Theile der Großhirnrinde nachgewiesen, welche zwischen den vier inneren Sinnesherden liegen (vergl. Kapitel 10 und 11)

Sprache.

Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe, von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über die Thiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niedersten zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache ist ebenso wenig als Vernunft ein ausschließliches Eigenthum des Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein gemeinsamer Vorzug aller höheren socialen Thiere, mindestens aller Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in Gesellschaften und Heerden vereinigt leben; sie ist ihnen nothwendig zur Verständigung, zur Mittheilung ihrer Vorstellungen. Diese kann nun entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geschehen, oder durch Töne, welche bestimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Gesang der Singvögel und der singenden Menschenaffen (Hylobates) gehört zur Lautsprache, ebenso wie das Bellen der Hunde und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geschrei der Cikaden. Aber nur beim Menschen hat sich jene artikulirte Begriffssprache entwickelt, welche seine Vernunft zu so viel höheren Leistungen befähigt. Die vergleichende Sprachforschung, eine der interessantesten im 19 Jahrhundert entstandenen Wissenschaften, hat gelehrt, wie die zahlreichen hochentwickelten Sprachen der verschiedenen Völker sich aus wenigen einfachen Ursprachen langsam und allmählich entwickelt haben (Wilhelm Humboldt, Bopp, Schleicher, Steinthal u. A.). Insbesondere hat August Schleicher in Jena gezeigt, daß die historische Entwickelung der Sprachen nach denselben phylogenetischen Gesetzen erfolgt, wie diejenige anderer physiologischer Thätigkeiten und ihrer Organe. Romanes hat (1893) diesen Nachweis weiter ausgeführt und überzeugend dargethan, daß auch die Sprache des Menschen nur dem Grade der Entwickelung nach, nicht dem Wesen und der Art nach von derjenigen der höheren Thiere verschieden ist.

Skala der Gemüthsbewegungen

oder Affekte. Die wichtige Gruppe von Seelenthätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe "Gemüth" zusammenfassen, spielt eine große Rolle ebenso in der theoretischen wie in der praktischen Vernunftlehre. Für unsere Betrachtungsweise sind sie deshalb besonders wichtig, weil hier der direkte Zusammenhang der Gehirnfunktion mit anderen physiologischen Funktionen (Herzschlag, Sinnesthätigkeit, Muskelbewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier besonders das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philosophie klar, welche die Psychologie principiell von der Physiologie trennen will. Alle die zahlreichen Aeußerungen des Gemüthslebens, welche wir beim Menschen finden, kommen auch bei den höheren Thieren vor (besonders bei den Menschenaffen und Hunden); so verschiedenartig sie auch entwickelt sind, so lassen sich doch alle wieder auf die beiden Elementar-Funktionen der Psyche zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren Verbindung im Reflex und in der Vorstellung. Zum Gebiete der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von Lust und Unlust, welches das Gemüth bestimmt, und ebenso gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die entsprechende Zuneigung und Abneigung ("Liebe und Haß"), das Streben nach Erlangen der Lust und nach Vermeiden der Unlust. "Anziehung und Abstoßung" erscheinen hier zugleich als die Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelen-Elementes, welches den Charakter des Individuums bestimmt. Die Leidenschaften, welche eine so große Rolle im höheren Seelenleben des Menschen spielen, sind nur Steigerungen der "Gemüthsbewegungen" und Affekte. Daß auch diese den Menschen und Thieren gemeinsam sind, hat Romanes neuerdings einleuchtend gezeigt. Auf der tiefsten Stufe des organischen Lebens schon finden wie bei allen Protisten jene elementaren Gefühle von Lust und Unlust, welche sich in ihren sogenannten Tropismen äußern, in dem Streben nach Licht oder Dunkelheit, nach Wärme oder Kälte, in dem verschiedenen Verhalten gegen positive und negative Elektricität. Auf der höchsten Stufe des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenschen jene feinsten Gefühlstöne und Abstufungen von Entzücken und Abscheu, von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen denkbaren Uebergangsstufen jene primitivsten Urzustände des Gemüths im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit diesen höchsten Entwickelungsformen der Leidenschaften beim Menschen, welche sich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abspielen. Daß auch diese letzeren den physikalischen Gesetzen absolut unterworfen sind, hat schon der große Spinoza in seiner berühmten "Statik der Gemüthsbewegungen" dargethan.

Skala des Willens.

Der Begriff des Willens unterliegt gleich anderen psychologischen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorstellung, Seele, Geist u. s. w.) den verschiedensten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als kosmologisches Attribut betrachtet. "die Welt als Wille und Vorstellung" (Schopenhauer), bald im engsten Sinne als ein anthropologisches Attribut, als eine auschließliche Eigenschaft des Menschen; letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenlose und empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der Wille von der Erscheinung der willkürlichen Bewegungen abgeleitet und somit als eine Seelenthätigkeit der meisten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte untersuchen, so kommen wir - ebenso wie bei der Empfindung - zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenschaft des lebenden Psychoplasma ist. Die automatischen Bewegungen sowohl als die Reflexbewegungen, die wir schon bei den einzelligen Protisten allgemein beobachten, erscheinen uns als die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens selbst verknüpft sind. Auch bei den Pflanzen und den niedersten Thieren erscheinen die Strebungen oder Tropismen als das Gesammtresultat der Strebungen aller einzelnen vereinigten Zellen.

Erst wenn des "dreizellige Reflexorgan" sich entwickelt (S. 49), wenn zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle die selbstständige dritte Zelle eingeschaltet wird, die "Seelenzelle oder Ganglienzelle", können wir diese als ein selbstständiges Elementar-Organ des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen Thieren, meistens noch unbewußt. Erst, wenn sich bei den höheren Thieren das Bewußtsein entwickelt, als subjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchste Stufe, welche ihn qualitativ dem menschlichen Willen gleichstellt, und für den man im Sprachgebrauch das Prädikat der "Freiheit" in Anspruch nimmt. Seine freie Entfaltung und Wirkung erscheint um so imposanter, je mehr sich mit der freien und schnellen Ortsbewegung das Muskelsystem und die Sinnesorgane entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.

Willensfreiheit.

Das Problem von der Freiheit des menschlichen Willens ist unter allen Welträthseln dasjenige, welches den denkenden Menschen von jeher am meisten beschäftigt hat, und zwar deshalb, weil sich hier mit dem hohen philosophischen Interesse der Frage zugleich die wichtigsten Folgerungen für die praktische Philosophie verknüpfen, für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege u. s. w. E. Du Bois-Reymond, welcher dasselbe als das siebente und letzte unter seinen "sieben Welträthseln" behandelt, sagt daher von dem Problem der Willensfreiheit mit Recht: "Jeden berührend, scheinbar Jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend in die religiösen Ueberzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. - Vielleicht giebt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern." - Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueberzeugung von der "Willensfreiheit" unmittelbar neben diejenige von der "Unsterblichkeit der Seele" und neben den "Glauben an Gott" stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen "Postulate der praktischen Vernunft", nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die Realität derselben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweisen ist!

Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst verworrenen Streite über die Willensfreiheit ist vielleicht die Thatsache, daß dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im 18. und Büchner im 19. Jahrhundert. Die christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist; also bestimmte er auch das Handeln des Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen handelte, anders als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die monistischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, Allen voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechanischen Weltanschauung.

Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zu Gunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Thiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willens-Akt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelenthätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag giebt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statik der Gemüthsbewegungen bestimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die historische Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer Vertrebraten-Ahnen.


Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber