Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber

Vierzehntes Kapitel

Einheit der Natur.

Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit des Kosmos. - Mechanismus und Vitalismus. - Ziel, Zweck und Zufall.

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Inhalt: Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der organischen und anorganischen Natur. Kohlenstoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Hypothese der Urzeugung (Archigonie). Mechanische und zweckthätige Ursachen. Mechanik und Teleologie bei Kant. Der Zweck in der organischen und anorganischen Natur. Vitalismus, Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie (Lehre von den rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und Unvollkommenheit der Natur. Zielstrebigkeit in den organischen Körpern. Ihre Abwesenheit in der Ontogenese und in der Phylogenese. Platonische Ideen. Sittliche Weltordnung, nicht nachzuweisen in der organischen Erdgeschichte, in der Wirbelthier-Geschichte, in der Völker-Geschichte. Vorsehung. Ziel, Zweck und Zufall.

Durch das Substanz-Gesetz ist zunächst die fundamentale Thatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar in jede andere imgewandelt werden kann. Mechanische und chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität können in einander übergeführt werden und erweisen sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Urkraft, der Energie. Daraus ergiebt sich der bedeutungsvolle Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder wie wir auch sagen können, dem "Monismus der Energie". Im gesammten Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamental-Satz jetzt allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper betrifft.

Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand, daß ein großer Theil der Lebenserscheinungen unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische und Licht-Wirkungen zurückzuführen ist. Für einen anderen Theil derselben aber wird das auch heute noch bestritten, so vor Allem für das Welträthsel des Seelenlebens, insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwischen den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir sind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen Substanz-Gesetz unterworfen sind wie die anorganischen Phänomene im unendlichen Kosmos.

Die Einheit der Natur,

die hieraus folgt, die Ueberwindung des früheren Dualismus, ist sicher eines der werthvollsten Ergebnisse unserer modernen Genetik. Ich habe diesen "Monismus des Kosmos", die principielle "Einheit der organischen und anorganischen Natur" schon vor 36 Jahren sehr eingehend zu begründen versucht, indem ich die Uebereinstimmung der beiden großen Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer eingehenden kritischen Prüfung und Vergleichung unterzog (Generelle Morphologie, 5. Kap.). Einen kurzen Auszug ihrer Ergebnisse enthält der fünfzehnte Vortrag meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte". Während die hier entwickelten Anschauungen von der großen Mehrzahl der Naturforscher gegenwärtig angenommen sind, ist doch neurdings von mehreren Seiten der Versuch gemacht worden, dieselben zu bekämpfen und den alten Gegensatz von zwei verschiedenen Natur-Gebieten aufrecht zu erhalten. Den konsequentesten Versuch enthält das kürzlich erschienene Werk des Botanikers Reinke: "Die Welt als That". Dasselbe vertritt in lobenswerther Klarheit und Konsequenz den reinen kosmologischen Dualismus und beweist damit selbst, wie gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologische Weltanschauung ist. In dem ganzen Gebiete der anorganischen Natur sollen danach nur physikalische und chemische Kräfte wirken, in demjenigen der organischen Natur daneben noch "intelligente Kräfte", die Richtkräfte oder Dominanten. Nur im ersteren Gebiete soll das Substanz-Gesetz Geltung haben, im letzeren nicht. In der Hauptsache handelt es sich auch hier wieder um den uralten Gegensatz der mechanischen und teleologischen Weltanschauung. Bevor wir auf denselben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere Theorien hinweisen, welche nach meiner Ueberzeugung für die Entscheidung dieser wichtigen Probleme sehr werthvoll sind, die Kohlenstoff-Theorie und die Urzeugungs-Lehre.

Kohlenstoff-Theorie

(Karbogon-Theorie). Die physiologische Chemie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre durch unzählige Analysen folgende fünf Thatsachen festgestellt: 1. In den organischen Naturkörpern kommen keine anderen Elemente vor als in den anorganischen. II. Diejenigen Verbindungen der Elemente, welche dem Organismus eigenthümlich sind, und welche ihre "Lebenserscheinungen" bewirken, sind zusammengesetzte Plasma-Körper, aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweiß-Verbindungen. III. Das organische Leben selbst ist ein chemisch-physikalischer Proceß, der auf dem Stoffwechsel dieser plasmatischen Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein im Stande ist, diese zusammengesetzten Eiweißkörper in Verbindung mit anderen Elementen (Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel) aufzubauen, ist der Kohlenstoff. V. Diese plasmatischen Kohlenstoff-Verbindungen zeichnen sich vor den meisten anderen chemischen Verbindungen durch ihre sehr komplicirte Molekular-Struktur aus, durch ihre Unbeständigkeit und ihren gequollenen Aggregat-Zustand. Auf Grund dieser fünf fundamentalen Thatsachen stellte ich im Jahre 1866 folgende Karbogen-Theorie auf: "Lediglich die eigenthümlichen, chemisch-physikalischen Eigenschaften des Kohlenstoffs - und namentlich der festflüssige Aggregatzustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst zusammengesetzten, eiweißartigen Kohlenstoff-Verbindungen - sind die mechanischen Ursachen jener eigenthümlichen Bewegungs-Erscheinungen, durch welche sich die Organismen von den Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das Leben nennt" (Natürl. Schöpfungsgesch. X. Aufl., S. 357). Obwohl diese "Kohlenstoff-Theorie" von mehreren Biologen heftig angegriffen worden ist, hat doch bisher Keiner eine bessere monistische Theorie an deren Stelle gesetzt. Heute, wo wir die physiologischen Verhältnisse des Zellenlebens, die Chemie und Physik des lebendigen Plasma viel besser und gründlicher kennen als vor 36 Jahren, läßt sich die Karbogen-Theorie viel eingehender und sicherer begründen, als es damals möglich war.

Archigonie oder Urzeugung.

Der alte Begriff der Urzeugung (Generatio spontanea oder aequivoca) wird heute noch in sehr verschiedenem Sinne verwendet; gerade die Unklarheit über diesen Begriff und die widersprechende Anwendung desselben auf ganz verschiedene, alte und neue Hypothesen sind schuld daran, daß dieses wichtige Problem zu den bestrittendsten und konfusesten Fragen der ganzen Naturwissenschaft bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beschränke den Begriff der Urzeugung - als Archigonie oder Abiogenesis! - auf die erste Entstehung von lebendem Plasma aus anorganischen Kohlenstoff-Verbindungen und unterscheide als zwei Haupt-Perioden in diesem "Beginn der Biogenesis" I. die Autogonie, die Entstehung von einfachsten Plasma-Körpern in einer anorganischen Bildungsflüssigkeit, und II. die Plasmogonie, die Individualisirung von primitivsten Organismen aus jenen Plasma-Verbindungen, in Form von Moneren. Ich habe diese wichtigen, aber auch sehr schwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte so eingehend behandelt, daß ich hier darauf verweisen kann. Eine sehr ausführliche und streng wissenschaftliche Erörterung derselben habe ich bereits 1866 in der "Generellen Morphologie" gegeben (Bd. I, S. 167-190); später hat Naegeli in seiner Mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre (1884) die Hypothese der Urzeugung ganz in demselben Sinne sehr eingehend behandelt und als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen Entwickelungs-Theorie bezeichnet. Ich stimme vollkommen seinem Satze bei: "Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden."

Teleologie und Mechanik.

Sowohl die Hypothese der Urzeugung als die eng damit verknüpfte Kohlenstoff-Theorie besitzen die größte Bedeutung für die Entscheidung des alten Kampfes zwischen der teleologischen (dualistischen) und der mechanischen (monistischen) Beurtheilung der Erscheinungen. Seit Darwin uns vor vierzig Jahren durch seine Selektions-Theorie den Schlüssel zur monistischen Erklärung der Organisation in die Hand gab, sind wir in den Stand gesetzt, die bunte Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Einrichtungen in der lebendigen Körperwelt ebenso auf natürliche mechanische Ursachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der anorganischen Natur möglich war. Die übernatürlichen zweckthätigen Ursachen, zu welchen man früher seine Zuflucht hatte nehmen müssen, sind dadurch überflüssig geworden. Trotzdem fährt die moderne Metaphysik fort, die letzteren als unentbehrlich und die ersteren als unzureichend zu bezeichnen.

Werkursachen (Causae efficientes)

und

Endursachen (Causae finales).

Den tiefen Gegensatz zwischen den bewirkenden Ursachen (oder Werkursachen) und den zweckthätigen Ursachen (oder Endursachen) hat mit Bezug auf die Erklärung der Gasammtnatur kein neuerer Philosoph schärfer hervorgehoben, als Immanuel Kant. In seinem berühmten Jugendwerke, der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels", hatte er 1755 den kühnen Versuch unternommen, "die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen Grundsäzten abzuhandeln". diese "kosmologische Gastheorie" stützte sich ganz auf die mechanischen Bewegungs-Erscheinungen der Gravitation; sie wurde später von dem großen Astronomen und Mathmatiker Laplace weiter ausgebildet und mathematisch begründet. Als dieser von Napoleon I. gefragt wurde, welche Stelle in seinem System Gott, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: "Sire, ich bedarf dieser Hypothese nicht." Damit war der atheistische Charakter dieser mechanischen Kosmogenie, den sie mit allen anorganischen Wissenschaften theilt, offen anerkannt. Dies muß um so mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplace'sche Theorie noch heute ein fast allgemeiner Geltung steht; alle Versuche, sie durch eine bessere zu ersetzen, sind fehlgeschlagen. Wenn man den Atheismus noch heute in weiten Kreisen als einen schweren Vorwurf betrachtet, so trifft dieser die gesammte moderne Naturwissenschaft, insofern sie die anorganische Welt unbedingt mechanisch erklärt.

Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) giebt uns eine wirkliche Erklärung der Natur-Erscheinungen, indem er dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf blinde und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind. Kant selbst betont, daß es "ohne diesen Mechanismus der Natur keine Naturwissenschaft geben kann", und daß die Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als er aber später in seiner Kritik der teleologischen Urtheilkraft die Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hülfe nehmen. Zwar sei auch hier die Befugniß unserer Vernunft zur mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr theilweise dieses Vermögen zu, aber für den größten Theil der Lebenserscheinungen (und besonders für die Seelenthätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige ¤79 der Kritik der Urtheilskraft trägt die charakteristische Ueberschrift: "Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Meschanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck". Die zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme übernatürlicher Endursachen (d. h. also einer planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so unerklärlich, daß er sagte: "Es ist ganz gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder rzuhoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen. Siebenzig Jahre später ist dieser unmögliche "Newton der organischen Natur" in Darwin wirklich erschienen und hat die große Aufgabe gelöst, die Kant für unlösbar erklärt hatte. (Vergl. Anm. 3, S. 158.)

Der Zweck in der anorganischen Natur

(anorganische Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitations-Gesetz aufgestellt, und seitdem Kant (1755) "die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen Grundsätzen" festgestellt - seitdem endlich Laplace (1796) dieses Grundgesetz des Weltmechanismus mathematisch begründet hatte, sind die sämmtlichen anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit zugleich rein atheistisch geworden. In der Astronomie und Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der anorganischen Physik und Chemie gilt seitdem die absolute Herrschaft mechanischer Gesetze auf mathematischer Grundlage als unbedingt feststehend. Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff aus diesem ganzen großen Gebiete verschwunden. Jetzt, am Schlusse unseres neunzehnten Jahrhunderts, wo diese monistische Betrachtung nach harten Kämpfen sich zu allgemeiner Geltung durchgerungen hat, fragt kein Naturforscher mehr im Ernste nach dem Zweck irgend einer Erscheinung in diesem ganzen unermeßlichen Gebiete. Oder sollte wirklich noch heute im Ernste ein Astronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kristallformen fragen? Oder sollte ein Physiker über den Zweck der elektrischen Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte grübeln? Wir dürfen getrost antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der "liebe Gott" oder eine zielstrebige Naturkraft diese Grundgesetze des Weltmechanismus einmal plötzlich "aus nichts" zu einem bestimmten Zweck erschaffen hat, und daß er sie nach seinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Diese anthropomorphe Vorstellung von einem zweckthätigen Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig überwunden; an seiner Stelle sind die "ewigen, ehernen, großen Naturgesetze" getreten.

Der Zweck in der organischen Natur

(biologische Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in der organischen Natur. Im Körperbau und in der Lebensthätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Theilen ebenso für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruirten Maschinen; und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen Theilen der Maschine. Es ist daher ganz naturgemäß, daß die ältere naive Naturbetrachtung für die Entstehung und die Lebensthätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in Anspruch nahm, der mit "Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet" hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem besonderen Lebenzwecke entsprechend organisirt hatte. Gewöhnlich wurde dieser "allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden" durchaus anthropomorph gedacht; er schuf "jegliches Wesen nach seiner Art". Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von diesem "göttlichen Maschinenbauer" und von seiner künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkstätte noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte und man in dem "unsichtbaren Gott" einen Schöpfer ohne Organe (- ein gasförmiges Wesen -) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende "Lebenskraft" setzte - eine unbekannte, zweckmäßig thätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise - auf Lebenszeit - in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschend; er fand seine thatsächliche Widerlegung erst durch den großen Physiologen Johannes Müller in Berlin. Zwar war auch dieser gewaltige Biologe (gleich allen anderen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und hielt sie für die Erklärung der "letzten Lebensursachen" für unentbehrlich, aber er führte zugleich in seinem klassischen, noch heute unübertroffenen Lehrbuch der Physiologie (1833) den indirekten Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen ist. Müller selbst zeigte in einer langen Reihe von scharfsinningen Experimenten, daß die meisten Lebensthätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der übrigen Thiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen geschehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar sind. Das gilt ebensowohl von den animalen Funktionen der Muskeln und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechsel, der Verdauung und dem Blutkreisklauf. Räthselhaft und ohne die Annahme einer Lebenkraft nicht erklärbar blieben eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren Seelenthätigkeit (Geistesleben) und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf diesen Gebieten wurden unmittelbar nach Müller's Tode solche gewaltige Entdeckungen und Fortschritte gemacht, daß das unheimliche "Gespenst der Lebenskraft" auch aus diesen letzten Schlupfwinkeln verschwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chronologischer Zufall, das Johannes Müller 1858 in demselben Jahre starb, in welchem Charles Darwin die ersten Mittheilungen über seine epochemachende Theorie veröffentlichte. Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das große Räthsel, vor welchem der Erstere stehen geblieben war: die Frage von der Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein mechanische Ursachen.

Der Zweck in der Selektions-Theorie

(Darwin 1859). Das unsterbliche philosophische Verdienst Darwin's bleibt, wie wir schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Descendenz-Theorie, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe dieses halben Jahrhunderts angesammelte Thatsachen-Material - und zweitens die Aufstellung der Selektions-Theorie, jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren bewirkenden Ursachen der allmählichen Art-Umbildung enthüllt. Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige "Kampf um's Darsein" der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der allmählichen Transformation der Species leitet; er ist der große "züchtende Gott", welcher ohne Absicht neue Formen ebenso durch "natürliche Auslese" bewirkt, wie der züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch "künstliche Auslese" hervorbringt. Damit wurde das große philosophische Räthsel gelöst: "Wie können zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entsthen, ohne zweckmäßige Ursachen?" Kant hat dieses schwierige Welträthsel noch für unlösbarer erklärt, obwohl schon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker Empedokles auf den Weg seiner Lösung hingewiesen hatte. Neuerdings hat sich aus derselben das Princip der "teleologischen Mechanik" zu immer größerer Geltung entwickelt und hat auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen Wesen uns durch die "funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur" mechanisch erklärt. Damit ist aber der transcendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schul-Philosophie beseitigt, das größte Hinderniß einer vernünftigen und einheitlichen Natur-Auffassung.

Neovitalismus.

In neuester Zeit ist das alte Gespenst der mystischen Lebenskraft, das gründlich getödtet schien, wieder aufgelebt; verschiedene angesehene Biologen haben versucht, dasselbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarste und konsequenteste Darstellung desselben hat kürzlich der Kieler Botaniker J. Reinke gegeben. Er vertheidigt den Wunderglauben und den Theismus, die Mosaische Schöpfungsgeschichte und die Konstanz der Arten; er nennt die "Lebenskräfte", im Gegensatze zu den physikalischen Kräften, Richtkräfte, Oberkräfte oder Dominanten. Andere nehmen statt dessen, in ganz anthropistischer Auffassung, einen "Maschinen-Ingenieur" an, welcher der organischen Substanz eine zweckmäßige, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Organisation beigegeben habe. Diese seltsamen teleologischen Hypothesen bedürfen heute ebenso wenig mehr einer wissenschaftlichen Widerlegung, als die naiven, meistens damit verknüpften Einwürfe gegen den Darwinismus.

Unzweckmäßigkeitslehre

(Dysteleologie). Unter diesem Begriffe habe ich schon im 1866 die Wissenschaft von denjenigen, überaus interessanten und wichtigen biologischen Thatsachen aufgestellt, welche in handgreiflichster Weise die hergebrachte teleologische Auffassung von der "zweckmäßigen Einrichtung der lebendigen Naturkörper" direkt widerlegen. Diese "Wissenschaft von den rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlgeschlagenen, atrophischen oder kataplastischen Individuen" stützt sich auf eine unermeßliche Fülle der merkmürdigsten Erscheinungen, welche zwar den Zoologen und Botanikern längst bekannt waren, aber erst durch Darwin ursächlich erklärt und in ihrer hohen philosophischen Bedeutung vollständig gewürdigt worden sind.

Alle höheren Thiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Theil sogar gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In den Blüthen der meisten Pflanzen finden sich neben den wirksamen Geschlechts-Blättern, welche die Fortpflanzung vermitteln, einzelne nutzlose Blatt-Organe ohne Bedeutung (verkümmerte oder "fehlgeschlagene" Staubfäden, Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter u. s. w.). In den beiden großen und formenreichen Klassen der fliegenden Thiere, Vögel und Insekten, giebt es neben den gewöhnlichen, ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch meistens Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des Mannes und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen durch seine Entzündung zu Grunde.

Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen Einrichtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr einfach durch die Descendenz-Theorie. Sie zeigt, daß diese rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch Unthätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber obgleich so durch Uebung und Anpassung die höhere Entwicklung der Organe gefördert wird, so verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde "Kampf um's Dasein zwischen den Organen" bedingt ebenso ihren historischen Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung verurschte. Ein immanenter "Zweck" spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Unvollkommenheit der Natur.

. Wie das Menschen-Leben so bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall unvollkommen. Diese Thatsache ergiebt sich einfach aus der Erkenntniß, daß die Natur - ebenso die organische und die anorganische - in einem beständigen Flusse der Entwickelung, der Veränderung und Umbildung begriffen ist. Diese Entwickelung erscheint uns im Großen und Ganzen - wenigstens soweit wir die Stammesgeschichte der organischen Natur auf unserem Planeten übersehen können - als eine fortschreitende Umbildung, als ein historischer Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Ich habe schon in der Generellen Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieser historische Fortschritt (Progressus) - oder die allmähliche Vervollkommnung (Teleosis) - die nothwendige Wirkung der Selektion ist, nicht aber die Folge eines vorbedachten Zweckes. Das ergiebt sich auch daraus, daß kein Organismus ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen Augenblicke den Umständen vollkommen angepaßt wäre, würde dieser Zustand nicht lange dauern; denn die Existenz-Bedingungen der Außenwelt sind selbst einem beständigen Wechsel unterworfen und bedingen damit eine ununterbrochene Anpassung der Organismen.

Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere.

Unter diesem Titel veröffentlichte der berühmte Embryologie Karl Ernst Baer 1876 einen Aufsatz, der im Zusammenhang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwin's Lehre den Gegnern derselben sehr willkommen erschien und auch heute noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie verwerthet wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologische Naturbetrachtung unter einem neuen Namen; dieser muß hier einer kurzen Kritik unterzogen werden. Vorauszuschicken ist dabei der Hinweis, daß Baer zwar ein Naturphilosoph im besten Sinne war, daß aber seine ursprünglichen monistischen Anschauungen mit zunehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen mystischen Zug beeinflußt und zuletzt rein dualistisch wurden. In seinem grundlegenden Hauptwerke "über Entwickelungsgeschichte der Thiere" (1828), das er selbst als "Beobachtung und Reflexion" bezeichnet, sind diese beiden Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig verwerthet. Durch sorgfältigste Beobachtung aller einzelnen Vorgänge bei der Entwickelung des thierischen Eies gelangte Baer zur ersten zusammenhängenden Darstellung aller der wunderbaren Umbildungen, welche bei der Entstehung des Wirbelthier-Körpers aus der einfachen Eikugel sich abspielen. Durch umsichtige Vergleichung und scharfsinnige Reflexion suchte er aber zugleich die Ursachen jener Transformation zu erkennen und sie auf allgemeine Bildungsgesetze zurückzuführen. Als allgemeinstes Resultat derselben sprach er den Satz aus: "Die Entwickelungsgeschichte des Individuum ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung." Dabei betonte er daß "der Eine Grundgedanke, der alle einzelnen Verhältnisse der thierischen Entwickelung beherrscht, derselbe ist, der im Weltraum die vertheilte Masse in Sphären sammelte und diese zu Sonnensystemen verband. Dieser Gedanke ist aber nichts als das Leben selbst, und die Worte und Silben, in denen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen des Lebendigen".

Zu einer tieferen Erkenntniß dieses genetischen Grundgedankens und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden Ursachen der organischen Entwickelung vermochte Baer damals nicht zu gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen Hälfte der Entwickelungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die Entwickelungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere Stammesgeschichte oder Phylogenie, existirte damals noch nicht, obwohl der weitschauende Lamarck schon 1809 den Weg zu derselben gezeigt hatte. Ihre spätere Begründung durch Darwin (1859) vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu verstehen; der nutzlose Kampf, den er gegen dessen Selektions-Theorie führte, zeigt klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch ihre philosophische Bedeutung erkannte. Teleologische und später damit verknüpfte theosophische Spekulationen hatten den alten Baer unfähig gemacht, diese größte Reform der Biologie gerecht zu würdigen; die teleologischen Betrachtungen, welche er gegen sie in seinen "Reden und Studien" (1876) als 84jähriger Greis in's Feld führte, sind nur Wiederholugen von ähnlichen Irrthümern, wie sie die Zweckmäßigkeits-Lehre der dualistischen Philosophie seit mehr als zweitausend Jahren gegen die mechanistische oder monistische Weltanschauung aufgeführt hatte. Der "zielstrebige Gedanke", welcher nach Baer's Vorstellung die ganze Entwickelung des Thierkörpers aus der Eizelle bedingt, ist nur ein anderer Ausdruck für die ewige "Idee" von Plato und für die "Entelechie" seines Schülers Aristoteles.

Unsere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologischen Thatsachen rein physiologisch, indem sie als bewirkende mechanische Ursachen derselben die Funktionen der Vererbung und Anpassung erkennt. Das biogenetische Grundgesetz, für welches Baer kein Verständniß gewinnen konnte, eröffnet uns den innigen kausalen Zusammenhang zwischen der Ontogenese der Individuen und der Phylogenese ihrer Vorfahren; die erstere erscheint uns jetzt als eine erbliche Rekapitulation der letzteren. Nun können wir aber in der Stammesgeschichte der Thiere und Pflanzen nirgends eine Zielstrebigkeit erkennen, sondern lediglich das nothwendige Resultat des gewaltigen Kampfes um's Dasein, der als blinder Regulator, nicht als vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt. Ebenso wenig können wir aber auch bewußte "Zielstrebigkeit" in der Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menschen. Denn diese Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch die physiologischen Gesetze der Vererbung.

Das Vorwort zu seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte der Thiere" schloß Baer 1828 mit den Worten: "Die Palme wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum aus welchem seine Wiege gezimmert werden soll, hat noch nicht gekeimt." - Auch darin irrte der große Embryologe. In demselben Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Universität Cambridge, um Theologie (!) zu studiren, der gewaltige "Glückliche", der die Palme dreißig Jahre später durch seine Selektions-Theorie wirklich errang.

Sittliche Weltordnung.

In der Philosophie der Geschichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichtsschreiber über die Schicksale der Völker und über den verschlungenen Gang der Staatenentwickelung anstellen, herrscht noch heute die Annahme einer "sittlichen Weltordnung". Die Historiker suchen in dem bunten Wechsel der Völker-Geschicke einen leitenden Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse, diesen oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische Geschichtsbetrachtung ist neuerdings umso schärfer in principiellen Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung getreten, je sicherer sich diese letztere im gesammten Gebiete der organischen Natur als die allein berechtigte herausgestellt hat. In der gesammten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Physik und Chemie spricht heute Niemand mehr von einer sittlichen Weltordnung, ebenso wenig als von einem persönlichen Gotte, dessen "Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat". Dasselbe gilt aber auch von dem gesammten Gebiete der Biologie, von der ganzen Verfassung ud Geschichte der organischen Natur, zunächst den Menschen ausgenommen. Darwin hat uns in seiner Selektions-Theorie nicht nur gezeigt, wie die zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im Körperbau der Thiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck mechanisch entstanden sind, sondern er hat uns auch in seinem "Kampf um's Dasein" die gewaltige Naturmacht erkennen gelehrt, welche den ganzen Entwickelungsgang der organischen Welt seit vielen Jahrmillionen ununterbrochen beherrscht und regelt. Man könnte freilich sagen: Der "Kampf um's Dasein" ist das "Ueberleben des Passendsten" oder der "Sieg des Besten"; das kann man aber nur, wenn man das Stärkere stets als das Beste (in moralischem Sinne!) betrachtet; und überdies zeigt uns die ganze Geschichte der organischen Welt, daß neben dem überwiegenden Fortschritt zum Vollkommenen jeder Zeit auch einzelne Rückschritte zu niederen Zuständen vorkommen. Selbst die "Zielstrebigkeit" im Sinne Baer's trägt durchaus keinen moralischen Charakter!

Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch in seinem anthropocentrischen Größenwahn die "Weltgeschichte" zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und jeder Zeit ein höchstes moralisches Princip oder ein weiser Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustande unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte nur lauten: Nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben "ewigen, ehernen, großen Gesetzen" wie die Geschichte der ganzen organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert. Die Geologen unterscheiden in der "organischen Erdgeschichte", soweit sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der ersteren soll nach einer neueren Berechnung mindestens 34 Millionen, die der zweiten 11, die der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben (- nach anderen Berechnungen mehr als das Dreifache dieser Zeit! -). Die Geschichte des Wirbelthier-Stammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei verschiedene Entwickelungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei großen Periode successiv entwickelt; in der primären (paläozoischen) Periode die Fische, in dem sekundären (mesozoischen) Zeitalter die Reptilien, in dem tertiären (cänozoischen) die Säugethiere. Von diesen drei Hauptgruppen der Wirbelthiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen mittleren, die Säugethiere den höchsten Rang der Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann man nun diesen fortschreitenden Entwickelungsgang als Ausfluß einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die Selektions-Theorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt, ebenso wie die organische Differenzierung, eine nothwendige Folge des Kampfes um's Dasein ist. Tausende von guten, schönen, bewunderungswürdigen Arten des Thier- und Pflanzenreiches sind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zu Grunde gegangen, weil sie anderen, stärkeren Platz machen mußten, und diese Sieger im Kampfe um's Dasein waren nicht immer die edleren oder im moralischen Sinne vollkommneren Formen.

Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die bewunderungswürdige Kultur des klassischen Alterthums ist zu Grunde gegangen, weil das Christenthum dem ringenden Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen Karikatur des reinen Christenthums und zertrat schonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die hellenische Philosophie schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die Reformation zerriß die Ketten dieser Geistes-Knechtschaft und verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte. Aber auch in dieser neuen wie in jenen früheren Perioden der Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf um's Dasein hin und her, ohne jede moralische Ordnung.

Vorsehung.

So wenig bei unbefangener und kritischer Betrachtung eine "moralische Weltordnung" im Gange der Völkergeschichte nachzuweisen ist, ebenso wenig können wir eine "weise Vorsehung" im Schicksal der einzelnen Menschen anerkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Nothwendigkeit durch die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung aus einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen ableitet. Schon die alten Hellenen erkannten als höchstes Weltprincip die Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das "Götter und Menschen beherrscht". An ihre Stelle trat im Christenthum die bewußte Vorsehung, welche nicht blind, sondern sehend ist, und welche die Weltregierung als patriarchalischer Herrscher führt. Der anthropomorphe Charakter dieser Vorstellung, die sich gewöhnlich mit derjenigen des "persönlichen Gottes" eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an einen "liebenden Vater", der die Geschicke von 1500 Millionen Menschen auf unserem Planeten unablässig lenkt und dabei die millionenfach sich kreuzenden Gebete und "frommen Wünsche" derselben jederzeit berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar: das ergiebt sich sofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille des "Glaubens" ablegt.

Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen - geradeso wie beim ungebildeten Wilden - der Glaube an die Vorsehung und die Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krankheit, Gewinn des großen Looses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes u. s. w. Wenn dagegen irgend ein Unglück passirt oder ein heißer Wunsch nicht erfüllt wird, so ist die "Vorsehung" vergessen; der weise Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.

Bei dem ungeheueren Aufschwung des Verkehrs im 19. Jahrhundert hat nothwenig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen Tausende von Menschen zu Grunde durch Schiffbrüche, Tausende durch Eisenbahn-Unglücke, Tausende durch Bergwerks-Katastrophen u. s. w. Viele Tausende tödten sich alle Jahre gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des National-Vermögens in Anspruch. Und unter jenen Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte Glaube an eine "sittliche Weltordnung" - ebenso wie an eine "liebevolle Vorsehung" - einen hohen Ideal-Werth besitzt. Er tröstet die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er befriedigt unser zweifelndes Gemüth und versetzt uns in eine Ideal-Welt des "Jenseits", in welcher die Mängel des irdischen Daseins im "Diesseits" überwunden sind. So lange der Mensch kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kultur-Leben der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Ideal-Welt heraus und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur die vernünftige Erkenntniß der Wirklichkeit befähigt. Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an diese Real-Welt, zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und auf die moderne Entwickelungslehre gestützt, den höher gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und vorurtheilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.

Ziel, Zweck und Zufall.

Wenn uns unbefangene Prüfung der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!) nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben, als Alles dem "blinden Zufall" zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in der That ebenso dem Transformismus von Lamark und Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische Philosophen legen gerade hierauf besonders Gewicht. Es verlohnt sich daher wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.

Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es giebt keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die Entwickelung der ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch in derjenigen unserer organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist Alles Zufall! Beide Parteien haben Recht, je nach der Definition des "Zufalls". Das allgemeine Kausal-Gesetz, in Verbindung mit dem Substanz-Gesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne giebt es keinen Zufall. Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache hat unabhängig von der anderen. Wie Jedermann weiß, spielt der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem einzelnen "Zufall" wie in der Entwickelung des Weltganzen die universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des Substanz-Gesetzes.


Inhalt, Kapitel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußwort, Anmerkungen, Nachwort
Copyright 1997. Kurt Stüber